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Wahlrechtsreform auf Ungarisch

Gast der Kanzlerin richtet sich auf längere Alleinherrschaft im eigenen Land ein

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán trifft am Donnerstag in Berlin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen. Im eigenen Land arbeitet er eifrig daran, seine Herrschaft zu verewigen.

Allem Anschein nach gefällt Viktor Orbán die Rolle des absolutistischen Alleinherrschers der Nation, die - wie er kürzlich sagte - eine »Weltnation« ist, »denn die Grenzen des Landes und die Grenzen der ungarischen Nation fallen nicht zusammen«. Ein neues Wahlrecht soll Orbáns Partei Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) die Möglichkeit bieten, weiter mit Zweidrittelmehrheit, mindestens aber mit absoluter Mehrheit zu regieren. Zahlreiche Gesetzesänderungen sind bereits beschlossen, bald soll der krönende Abschluss folgen.

Die vielleicht brutalste Änderung bisher ist der Neuzuschnitt der Wahlbezirke. Kaum einer blieb unverändert, wobei die Grenzen so verschoben wurden, dass nach Möglichkeit in jedem Bezirk Fidesz-Wähler die Mehrheit ausmachen. Eine klassische Manipulation des Wahlsystems. »Wir wissen dem Namen nach, wer all die Komtschik (Slangbegriff für Kommunisten - d.A.) sind, die nicht Fidesz unterstützen«, erklärte - oder drohte - vor einiger Zeit Gábor Kubatov aus dem Fidesz Parteivorstand. Dieses Eingeständnis, dass illegal Daten gesammelt werden, blieb natürlich ohne rechtliche oder sonstige Konsequenzen.

Jedenfalls wurden großstädtischen Wahlbezirken etwa in Miskolc, Szeged oder Pécs, wo traditionell eher links gewählt wird, systematisch außerstädtische Gebiete angegliedert, wo traditionell viele Rechtswähler leben. Bei anderen Städten wie Debrecen oder Székesfehérvár wurden aus demselben Grund kleinere Gemeinden abgeschnitten. In Budapest haben die Wahlkreise neuerdings nichts mehr mit den Verwaltungsgrenzen der Stadtbezirke zu tun.

Nicht weniger fragwürdig ist das ebenfalls bereits Gesetz gewordene Stimmrecht für Auslandsungarn, die unter dem Fidesz-Regime die ungarische Staatsbürgerschaft bekommen haben. Die in den Nachbarstaaten lebenden Ungarn, mehrere 100 000 Menschen, wählen aus historischen Gründen größtenteils konservativ und sind oft nationalistisch eingestellt. Sie stehen also ideologisch der derzeitigen ungarischen Regierung näher als Sozialisten oder Liberalen. Jetzt könnten diese Wähler, von denen viele noch nie in Ungarn gewesen sind, die hier jedenfalls weder gemeldet sind noch Steuern zahlen, im gegebenen Fall die ungarischen Wahlen entscheiden.

Der neueste und vorläufig letzte Trick der Orbánschen Wahlreformexperten liegt in Gestalt eines Gesetzentwurfs derzeit im Parlament. Demnach sollen die Bürgerinnen und Bürger künftig nur dann wählen können, wenn sie sich vor der jeweiligen Wahl innerhalb eines festgelegten Zeitraums registrieren lassen haben. Wer sich also nicht rechtzeitig zur Wahl angemeldet hat, kann - Staatsbürgerschaft hin oder her - seine Stimme nicht abgeben. Welchen Sinn dies hat, ist nicht schwer zu erraten. Dem Fidesz haben in den letzten zwei Jahren mehr als anderthalb Millionen Menschen den Rücken gekehrt und die Zahl steigt. Allerdings sind sie wegen der Farb- und Ideenlosigkeit der Opposition größtenteils ins Lager der Unentschiedenen abgewandert. Nach jüngsten Erhebungen haben in Ungarn derzeit 50 bis 60 Prozent der Wahlberechtigten keine Parteipräferenzen oder wollen überhaupt nicht zu den Wahlen gehen. Unentschiedene bedeuten aber immer einen Risikofaktor, zumal nur ein Bruchteil der Politikverdrossenen wieder Fidesz unterstützen würde. Mit dem derzeit beratenen Gesetzentwurf möchte Orbán also ausschließen, dass sich diese unmotivierten und unkalkulierbaren Menschen im letzten Moment doch noch aufraffen, gegen ihn zu stimmen.

Doch welche wahlarithmetischen Konsequenzen die Registrierungspflicht in der Realität auch immer haben mag, einen Vorteil hat sie für Fidesz auf jeden Fall: Es werden entscheidende Daten über die Neigungen des Einzelnen gesammelt, am politischen Prozess teilzunehmen oder auch nicht: Wer registriert sich? Wer geht tatsächlich wählen? Wer registriert sich und erscheint dann doch nicht an der Wahlurne? Das neue Gesetz wird mit Sicherheit in naher Zukunft mit Hilfe der Zweidrittelmehrheit der Regierenden verabschiedet werden. Und Ungarn wird weiter funkeln als Kronjuwel der Demokratie innerhalb der EU.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 11. Oktober 2012


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