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Postkartenidylle ohne Obdachlose

Ungarns rechtsnationale Regierung kaschiert soziale Probleme mit Verbotszonen. Opfer sind die Ärmsten

Von Gerrit Hoekman *

Ungarn ist ein schönes Land. Das wissen auch die Vereinten Nationen, deshalb hat die UNESCO einiges im Puszta-Staat zum Weltkulturerbe ernannt. Den Burgpalast in Budapest etwa oder den frühchristlichen Friedhof in Pécs. Ungarns Obdachlose werden die Sehenswürdigkeiten ihrer Heimat allerdings wohl bald nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ein neues Gesetz der rechtsnationalen Regierung von Viktor Orbán verbietet ihnen in Zukunft nämlich den Aufenthalt an Orten, die für den Tourismus relevant sind. Die Kommunen dürfen darüber hinaus selbst noch andere Plätze bestimmen, die für Obdachlose verbotene Zonen sind. Wer sich nicht dran hält, muß mit einem saftigen Bußgeld, einer Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit oder schlimmstenfalls bis zu 75 Tagen Haft rechnen.

Bereits vor zwei Jahren hatte Orbán versucht, die Bewegungsfreiheit von Obdachlosen zu beschneiden. Damals kassierte jedoch am Ende das Verfassungsgericht das Gesetz. »Die Nutzung des öffentlichen Raums für Wohnzwecke« dürfe nicht verboten werden. Was tat Orbán? Mit Hilfe der Zweidrittelmehrheit, die seine Partei Fidesz im Parlament innehat, änderte er im vergangenen März kurzerhand die Verfassung und raubte dem Gericht einen Großteil seiner Macht. Nun werden die Verfassungshüter die Novelle wohl durchwinken müssen. Einige hundert Betroffene waren daher am Montag einem Aufruf der Obdachlosenorganisation »A Város Midenkíe« (»Die Stadt gehört allen«) gefolgt und protestierten vor dem Parlament gegen das neue Gesetz. Mindestens 10000 Menschen leben allein in der Hauptstadt Budapest auf der Straße. Wahrscheinlich sind es sogar noch viel mehr, »A Város Midenkíe« geht von 15000 aus. Nur für die Hälfte der Obdachlosen stehen Unterkünfte zur Verfügung, auch wenn die Regierung etwas anderes behauptet. Ihrer Meinung nach müßte Ungarn kein Obdachlosenproblem haben, angeblich gibt es in Orbáns schöner neuer Welt für alle ein Dach über dem Kopf.

»Die Regierung braucht Sündenböcke, um von der schlechten sozialen Lage im Land abzulenken, und dafür benutzen sie die Ärmsten der Armen: Obdachlose, Roma und Flüchtlinge«, sagt Tessza Udvarhelyi, die bei »A Város Midenkíe« aktiv ist. Was den Obdachlosen mit dem neuen Gesetz blüht, wurde schon in den acht Monaten deutlich, in denen das erste Gesetz der Regierung Orbán in Kraft war, bevor das Verfassungsgericht es aus dem Verkehr zog: Gegen 2000 Ungarn wurden Bußgelder in Höhe von insgesamt 130000 Euro verhängt, berichtet die Organisation. Die Rechtsnationalen haben sich eine Märchenwelt erschaffen, die mit der sozialen Realität im Land nichts zu hat. Immer mehr Ungarn wissen heute kaum, was sie morgen essen sollen. Einige von ihnen leben schon seit über 20 Jahren auf der Straße. Das Rad der Geschichte hat sie nach dem Untergang des Sozialismus aus dem Leben geschleudert. Vier von fünf Obdachlosen in Budapest stammen nicht von dort. Sie sind in die Zwei-Millionen-Metropole gekommen, weil die Versorgung allemal noch besser ist als auf dem platten Land. Außerdem ist die Chance größer, als Tagelöhner hin und wieder einen Gelegenheitsjob zu bekommen. Viele von ihnen haben früher in der Stahlindustrie im Osten des Landes gearbeitet. Doch mit dem Sozialismus starben auch die Kombinate, viele Arbeiter standen plötzlich auf der Straße, bei nicht wenigen ist das bis heute so geblieben.

»Da Obdachlose in der Regel kein Bußgeld bezahlen können, müssen sie Sozialstunden ableisten. Wenn sie das verweigern oder zweimal innerhalb von sechs Monaten aufgegriffen werden, müßten sie sogar ins Gefängnis«, erklärt Mariann Dosa, die sich ebenfalls für »A Város Midenkíe« engagiert, in einem Interview mit dem Online-Portal Ostpol.de. Ihrer Meinung nach hat die Vertreibung der Obdachlosen aus dem Stadtbild bereits begonnen, als die Sozialdemokraten der Ungarischen Sozialisitischen Partei (MSZP) noch an der Regierung waren. »Sie haben schon versucht, die Leute aus Unterführungen zu verscheuchen. Sie haben Streben auf Parkbänken einsetzen lassen, damit man sich nicht mehr darauf legen kann.« Seitdem allerdings die Rechtsnationalen von Viktor Orbán unangefochten das Zepter schwingen, ist die Verfolgung deutlich schlimmer geworden. Hungrige Obdachlose dürfen nicht einmal mehr in Mülltonnen nach Essen suchen

* Aus: junge Welt, Freitag, 4. Oktober 2013


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