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Wahlgesetz zementiert Orbáns Macht

Opposition und Zivilgesellschaft in Ungarn protestieren, die EU bleibt tatenlos

Von Silviu Mihai, Budapest *

Am Montagabend verabschiedete Ungarns Parlament ein neues Wahlgesetz, das eine Niederlage der rechtspopulistischen Regierungspartei Fidesz so gut wie unmöglich macht.

Zweieinhalb Jahre nach dem Wahlsieg, der ihr zwei Drittel der Sitze in der Nationalversammlung beschert hat, will Viktor Orbáns rechtspopulistische Partei ihre kaum eingeschränkte Macht auf ewig zementieren. Das am Montagabend verabschiedete Gesetz sieht eine grundlegende Reform des Wahlrechts vor. Eine Voranmeldung der Wähler wird zur Pflicht: Wer sich 15 Tage vor den Wahlen nicht persönlich im Rathaus oder beim Notar registrieren lässt, darf während der ganzen Wahlperiode nicht mehr wählen.

»So könnten viele unentschiedene Wähler praktisch nicht nur von den Parlamentswahlen, sondern auch von den folgenden Kommunal- und Europawahlen ausgeschlossen werden. Wir sind besorgt, dass diese Maßnahme in erster Linie ärmeren Bürgern und Roma die demokratische Partizipation erschweren wird«, kommentiert Balázs Dénes, Vorsitzender des Menschenrechtsvereins TASZ. Eine briefliche Registrierung ist nur für im Ausland lebende Ungarn vorgesehen, die Registrierung würde für viele, die auf dem Land wohnen, zusätzliche Kosten und Aufwand bereiten.

Zusammen mit anderen Vertretern der Menschenrechtsorganisationen kritisiert Dénes die Registrierung als verfassungswidrig und sinnlos: »Nichts spricht für die Notwendigkeit einer solchen Prozedur. Ähnlich wie Deutschland und im Gegensatz etwa zu den USA verfügt Ungarn über ein funktionierendes Netz von Meldestellen. Wir wissen also genau, wo die Wahlberechtigten wohnen. Wozu also eine Registrierung?«, fragt der TASZ-Vorsitzende. Die Antwort lieferte Ministerpräsident Orbán selbst in einem mittlerweile von Wikileaks veröffentlichten Gespräch mit dem US-Botschafter: Fidesz profitiert von einer niedrigen Wahlbeteiligung. Ein Blick auf die Zahlen der vergangenen 20 Jahre zeigt tatsächlich, dass die Chancen des linken Lagers steigen, je größer der Kreis der Wähler, die zu den Urnen gehen.

Folglich will Fidesz nicht nur die Wahlbeteiligung erschweren, sondern auch Wahlkampfdebatten. So verbietet der Gesetzentwurf privaten Radio- und Fernsehsendern grundsätzlich, Wahlkampfbotschaften auszustrahlen. Auf das ursprünglich geplante Verbot der Wahlwerbung im Internet wurde im letzten Moment verzichtet, die Werbung für Parteien in Zeitungen oder Zeitschriften ist nur nach Anmeldung beim Rechnungshof erlaubt. In den öffentlich-rechtlichen Medien, die mittlerweile nahezu vollständig unter Fidesz-Kontrolle stehen, sind für die Dauer des Wahlkampfs insgesamt zehn Sendestunden vorgesehen - macht täglich 12 Minuten, die sich alle Parteien teilen müssen.

»Es wundert mich nicht, dass sich Orbán am Machtstuhl festschrauben lässt. Aber ich bin entsetzt darüber, dass die EU den Fehler mit dem Mediengesetz wiederholt und so lange schweigt, bis es zu spät ist«, kritisiert Tessza Udvarhely. Mitte November feierte die Aktivistin zusammen mit ihren Kollegen von der Initiative »Eine Stadt für alle« (A város mindenkié, kurz AVM) einen großen Sieg. Das Verfassungsgericht erklärte unerwartet ein Fidesz-Gesetz, das Obdachlosigkeit unter Strafe stellt, für grundgesetzwidrig und damit nichtig.

Die Angst vor einer Niederlage bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2014 könnte einer der Gründe für das neue Wahlgesetz sein. Die Umfragewerte von Fidesz sinken und die der kürzlich noch aussichtslosen Opposition steigen. Ende Oktober verkündete der frühere parteilose Premier Gordon Bajnai die Bildung des neuen Bündnisses »Együtt 2014« (Gemeinsam 2014), das zivilgesellschaftliche Bewegungen wie Szolidaritás oder Milla (Eine Million für die Pressefreiheit) und demokratische Oppositionsparteien zusammenführen soll. Umfragen deuten darauf hin, dass Bajnais Rechnung aufgehen könnte, zumal seine Wirtschaftskompetenz und sein Ansehen wenig umstritten sind.

Das neue Wahlrecht würde einen Sieg der Opposition jedoch viel unwahrscheinlicher machen, weshalb der Vorsitzende der Sozialistischen Partei (MSZP), Attila Mesterházy, eine Klage vor dem Verfassungsgericht ankündigte. »Vielleicht haben wir wieder Glück«, hofft Tessza Udvarhely.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 28. November 2012


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