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Internetsteuer und neue Proteste in Ungarn

Parlament in Budapest bestätigt Einführung der heftig umstrittenen Abgabe

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Die am Dienstag beschlossene Besteuerung des Internets könnte für die politische Führung Ungarns zum Stolperstein werden. Sie erntete sofort weitere Proteste.

Das ungarische Parlament beschloss am Dienstag, dass die für den 1. Januar 2015 angekündigte Internetsteuer kommt. Antal Rogán, Fraktionsvorsitzender der Fidesz, hatte nach den Protesten im ungarischen Fernsehen mitgeteilt, dass 150 Forint (50 Cent) pro begonnenem Gigabyte zu bezahlen seien, Unternehmen könnten den Betrag von der Körperschaftssteuer abschreiben. Die Steuer für Privatpersonen werde auf maximal 700 Forint (2,30 Euro) und für Firmen auf 5000 Forint (16,25 Euro) im Monat begrenzt.

Kurz nach den Wahlen hatte Finanzminister Mihály Varga am 21. Oktober im Budapester Parlament angekündigt, dass nach dem Muster der vor zwei Jahren eingeführten und seitdem angehobenen Telefonsondersteuer – drei Cent pro Minute und pro SMS plus 27 Prozent Mehrwertsteuer – die Internetsteuer eingeführt werden solle. Nun hieß es beruhigend, dass nicht die Kunden, sondern die Provider die Steuer bezahlen müssten und die Regierung strengstens überwachen werde, dass die Kosten nicht indirekt doch auf die Kunden abgewälzt werden.

Die Regierung von Viktor Orbán hatte derartige Versprechungen schon bei Einführung der Telekommunikations- und der Bankensteuer verkündet. Doch die Telefongebühren und Kosten für Bankdienste in Ungarn sind nun dennoch die höchsten in Europa. Wegen des Parlamentsbeschlusses zur Internetsteuer, die in der Konsequenz als weitere Massensteuer funktionieren wird, kam es gleich erneut zu einer Demonstration.

Ministerpräsident Orbán braucht das Geld aber dringend. Die von ihm kurz nach seinem Amtsantritt eingeführte unsoziale Einheitseinkommenssteuer von 16 Prozent halten er und seine betuchten Freunde nämlich immer noch für zu hoch. Vor kurzem wurden Pläne bekannt, nach denen diese Steuer auf »unter zehn Prozent« gesenkt werden soll. Dafür bleibt die Mehrwertsteuer auf der europäischen Rekordhöhe von 27 Prozent und die »Umweltabgabe« auf Wohnhäuser ohne Kanalisation – das sind die Häuser der Ärmsten – wurde jüngst von einem Tag auf dem anderen um 1000 Prozent erhöht. Ungarn ist laut neuesten Erhebungen für den Bertelsmann-Index der sozialen Gerechtigkeit in Europa eines der vier sozial ungerechteste Länder der EU geworden.

Dies zeigte sich nach dem sechsten überzeugenden Wahlsieg in Folge der Regierungspartei Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) nun erneut. Reale Zweifel, dass sich Ministerpräsident Viktor Orbán alles erlauben dürfe, konnten jedoch vergangenen Sonntag aufkommen.

Nicht nur die finanziellen Folgen des in Europa einmaligen Vorhabens brachte die Bürger Ungarns so richtig aus dem Häuschen, sondern auch der dazu nötige direkte Zugriff des Staates auf alle Internetdaten. Selbst Fidesz-Anhänger müssen hier Parallelen mit den USA ziehen. Die aber werden nach der Verhängung von Einreiseverboten für engste Vertraute von Orbán als größter Feind Ungarns gehandelt.

Innerhalb weniger Tage unterzeichneten mehrere Hunderttausend Menschen das Protestschreiben im Internet. Das kann in einem Land mit etwas unter zehn Millionen Einwohnern und einem weit hinter dem Westen zurückbleibenden Nutzeranteil als aufsehenerregend bezeichnet werden. All dies geschah sogar ungeachtet eines zeitweiligen Ausfalls der Facebook-Seite der Initiators. Dazu soll es laut Medienberichten gekommen sein, weil die Seite innerhalb sehr kurzer Zeit von zahlreichen, wohl Fidesz treuen Benutzern als inkorrekt denunziert worden war.

Am Sonntagabend fand die größte gegen die Regierung Orbán gerichtete Demonstration der letzten Zeit statt. Daran nahmen über 10 000 Menschen, nach anderen Angaben sogar etwa 40 000 teil. Auf der Kundgebung in der Budapester Innenstadt wurde schon nach kurzer Zeit lautstark gefordert, dass Orbán zurücktreten solle.

Außerdem setzten die Demonstranten der Regierung eine 48-stündige Frist für die Zurückziehung des Gesetzes, ansonsten käme es zu weiteren Kundgebungen. Nachdem einige Reden gehalten wurden, zogen die Demonstranten zum Budapester Heldenplatz. Dort befindet sich die Fidesz-Parteizentrale. Sie wurde mit Computerschrott beworfen und am Montag mussten einige Fenster neu verglast werden.

Mitarbeiter der regierungsnahen Fernsehsender Hír TV (Nachrichten TV) wurden als Speichellecker beschimpft. Die Polizei war mit einem großen Aufgebot aufmarschiert, doch hielt sie sich mit Gewaltanwendung zurück. Sechs Personen wurden in Untersuchungshaft genommen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 29. Oktober 2014


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