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Vati Orbán wird gewinnen

Ausbau der Machtpositionen des Regierungschefs geht mit Demokratieabbau einher *

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Mit der Wahl am Sonntag geht eine oft stürmische Legislaturperiode zu Ende, nicht aber die Herrschaft Viktor Orbáns und seiner nationalkonservativen Partei FIDESZ.

Im ungarischen Wahlkampf waren – trotz aller Unterschiede – Parallelen zwischen Viktor Orbán und Angela Merkel unverkennbar. Am auffälligsten: Beide Politiker verhielten sich vor ihren Wahlen mehr als zurückhaltend. Das lag gewiss auch daran, dass der deutschen Kanzlerin wie dem ungarischen Regierungschef ein Wahldebakel so gut wie unvorstellbar zu sein schien. Auch Orbán präsentierte daher so gut wie kein Wahlprogramm. Er beschränkte sich darauf, gebetsmühlartig zu wiederholen, wie gut es dem Land unter seiner Regierung gehe.

Eine weitere Parallele findet sich in der Langzeitgeschichte der Parteienlandschaften beider Länder. Parteien, die bisher in Ungarn mit Orbán und seinem FIDESZ (Bürgerbund) koalierten, schrumpften in der Folge auf eine Größe unter dem politischen Existenzminimum oder verschwanden gänzlich. So geschah es während der ersten Regierung Orbán (1998–2002) der Partei der Kleinlandwirte und dem Ungarischen Demokratischen Forum (MDF), das als Regierungspartei nach der Wende auf eine eindrucksvolle Vergangenheit zurückblicken konnte. Wenig anders geht es der kleinen erzkonservativen Christdemokratischen Volkspartei (KNDP), die derzeit »mitregiert«. Sie war zwar schon vor dem Bündnis mit FIDESZ praktisch bedeutungslos, hat aber mittlerweile ihr Profil völlig verloren. Im Falle Ungarns haben wir es in diesem Zusammenhang mit einer typischen Eigenschaft des reinen Machtpolitikers zu tun, der – nicht immer bewusst und oft sogar gegen eigene Interessen – die Auslöschung von anderen vielleicht nicht anstrebt, sie aber trotzdem laufend betreibt.

Eine andere gemeinsame Eigenschaft Orbáns und Merkels ist die eigenwillige Personalpolitik. Beide scheinen oft eine wenig glückliche Hand zu haben, doch schadet ihnen das nicht im Geringsten. Prominente Beispiele sind die mit starkem Willen durchgesetzten Staatspräsidenten Christian Wulff und Pál Schmitt, die beide zurücktreten mussten.

Eine letzte Parallele besteht in den Politikstrategien. Der knallharte Ausbau der eigenen Machtpositionen geht bei Orbán ebenso wie bei Merkel mit einem Abbau der Demokratie Hand in Hand – auch wenn die in Ungarn inzwischen erreichten Zustände mit jenen in Deutschland natürlich nicht vergleichbar sind.

Jedenfalls sind die bevorstehenden ungarischen Wahlen, ähnlich wie jüngst in Deutschland, schon so gut wie gelaufen – in mehrfacher Hinsicht. Erstens haben Orbán und seine Denkfabrik die Wahlgesetzgebung etwa im Jahresrhythmus neu gestaltet – je nachdem, was laut den jeweils neuesten Umfragen und Prognosen für FIDESZ am vorteilhaftesten erschien. Wahlkreisgrenzen wurden neu gezogen, auf dass überall die rechtsgesinnten Wähler die Mehrheit ausmachen. Auslandsungarn wurde die ungarische Staatsbürgerschaft verliehen, weil sie aus historischen Gründen konservativ und nationalistisch wählen. Das Antreten zur Wahl wurde erheblich erleichtert, damit die mit Orbán unzufriedene Wählerschaft zersplittert wird. Und weil die mit Ausnahme der rechtsradikalen Partei Jobbik gelähmte und fantasielose Opposition für Orbán keine ernsthafte Gefahr bedeutet, entschied er sich für eine überproportionale Mandatsverteilung zugunsten des Gewinners, die ihm auch mit weniger Stimmen wieder eine Zweidrittelmehrheit garantieren könnte.

In den unter FIDESZ-Führung gestellten Medien sind die Regierenden überwältigend präsent. Laut dem unabhängigen Medienanalyseinstitut »Mérték« beherrschten sie einen Monat vor den Wahlen die Sendezeit in Fernsehen und Hörfunk mit 56 Prozent. Auf dem zweiten Platz stand das sozialliberale Bündnis »Regierungswechsel« mit 18 Prozent, andere Parteien hatten noch weniger Chancen. Und weil in Ungarn in den vergangenen vier Jahren – wie der Politikwissenschaftler Zoltán Lakner formulierte – nicht nur das Regieren, sondern auch die Korruption zentralisiert wurde, beherrschen Orbán-nahe Personen so gut wie den gesamten Werbemarkt, was zur Folge hat, dass fast überall nur Reklame für die Regierungsparteien zu sehen ist.

Ein anderer Wahlausgang als ein neuer überwältigender Sieg Viktor Orbáns wäre daher nur im Reich der Wunder zu erhoffen. Ungarn liegt eben, nicht nur geografisch, zwischen Deutschland und der Türkei.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 5. April 2014


Warum ist »Weiter so!« für Ungarn attraktiv?

Politologe Gábor Török vermisst eine Alternative **

Gábor Török (42), Historiker und Politikwissenschaftler, leitet das Zentrum für Politische Analysen an der Budapester Corvinus-Universität. Für »nd« befragte ihn Hanna Ongjerth.

Vor den Wahlen 2002 ließen Umfragen keinen Zweifel daran, dass die damalige FIDESZ-Regierung an der Macht bleibt. Aber sie wurde abgewählt. Könnte die Wahl am 6. April ähnlich überraschen?

Derzeit ist die Zahl der FIDESZ-Anhänger doppelt so groß wie die der Oppositionsunterstützer. Trotzdem wünscht sich die Hälfte der Bevölkerung einen Regierungswechsel. Die Frage ist, ob die Unsicheren ihre Stimme abgeben. Von ihrer Entscheidung wird abhängen, ob FIDESZ mit absoluter oder mit Zweidrittelmehrheit weiterregieren kann. Falls die Partei die zwei Drittel erreicht, bleibt für die jetzige Oppositionsallianz kaum eine Chance, bei den nächsten Wahlen für einen Machtwechsel zu sorgen.

»Weiter so!«, fasste Regierungschef Viktor Orbán das Programm seiner Partei bündig zusammen. Warum ist diese Aussicht für die meisten Ungarn so attraktiv?

Es gibt keine Alternative, für die sie stimmen könnten. Eine authentische Linkspartei wäre imstande, die Regierung abzulösen, aber eine solche ist auf Ungarns politischer Palette nicht zu finden. Die Oppositionsallianz existiert nur formell. In Wirklichkeit paralysieren sich die beigetretenen Parteien gegenseitig. Sie gehen bittere Kompromisse ein und sind gezwungen, mit Politikern zusammenzuarbeiten, die sie am liebsten loswerden würden, wie den ehemaligen Regierungschef Ferenc Gyurcsány. Im Grunde genommen ist Gyurcsány der FIDESZ-Joker: Seine Person schreckt die meisten Unsicheren ab, für das Oppositionsbündnis zu stimmen.

Der FIDESZ-Erfolg ist überdies in einer bewusst konzipierten Politik begründet. In dieser Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie sind die Ziele wie die Feinde klar festgelegt. Aufgabe sei, die »Urnenrevolution von 2010« (wie Orbán die vorige Wahl nennt) zu vollenden und Freiheit zu erfechten. Machttechnisch ist Orbán ein außergewöhnliches Talent. Er hat die Regeln so umgeschrieben, dass die Opposition vor einer unlösbaren Aufgabe steht.

Mit welchen politischen Alternativen könnten sich die Unentschlossenen arrangieren?

Eine Mehrzahl von ihnen ist von den Großparteien und deren Politikern völlig enttäuscht. Sie wünschen sich eine politische Kraft, die weder mit FIDESZ noch mit den Sozialisten etwas zu tun hat. Und so kommt die rechtsextreme Partei Jobbik ins Bild: Sie nimmt an den Schmutzkampagnen nicht teil, verspricht dafür eine rosige Zukunft. Viele Jugendliche und Desillusionierte fühlen sich davon angesprochen. Und obwohl sich das Jobbik-Phänomen aus einem rechtsextremistischen theoretischen Kern nährt, darf man die Mehrheit ihrer Anhänger nicht mit Neofaschisten verwechseln.

Wieso kann man in Ungarn ohne Programm Wahlen gewinnen?

Das kann man überall. Die Begriffe »rechts« und »links« haben aber in Ungarn ihre Bedeutung verloren. Die Parteisympathie der Menschen wird weder rational noch von politischen Ideologien bestimmt, sondern einfach von ihrem Verhältnis zu Orbán. Sein Talent zeigt sich in seiner verheerenden Überzeugungskraft, mit der er sich jederzeit rechtfertigen konnte. In seiner Laufbahn war er mal liberal, mal konservativ, mal populistisch, aber diese Wechsel schadeten seiner Karriere nicht. Er ist der Prototyp des Volkstribuns. Die größte Schwäche der Opposition ist, dass sie keine ähnlich markante Persönlichkeit vorweisen kann, so dass Orbán ausschließlich von Orbán besiegt werden kann.

Ungarn galt im östlichen Lager als besonders aufgeschlossen und tolerant. Haben sich die Menschen geändert oder war diese Vorstellung schon damals Illusion?

Wir haben uns nicht geändert. FIDESZ plädiert für Freiheitsrechte und nationale Souveränität. Ihre Anhänger nehmen die Maßnahmen der Regierung nicht als Ausbau einer Diktatur wahr. Viele sind davon überzeugt, liberal zu sein.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 5. April 2014


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