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Kein Linksruck in Uruguay

Regierung der Frente Amplio fährt auf Lula-Kurs

Von Gerhard Dilger, Montevideo*

Seit einem Jahr und erstmals in seiner Geschichte wird Uruguay durch die Linkskoalition Frente Amplio regiert. Die Wirtschaft floriert, die Umfragen sind gut, doch an der Parteibasis gibt es Unmut.

Für Jorge Bustamante, der in Montevideo einen Kiosk betreibt, hebt sich die 1971 gegründete und erstmals das Land regierende Linkskoalition Frente Amplio (Breite Front) vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen vorteilhaft von frühren Regierungen ab: »Es geht erst einmal darum, die Armen aufzufangen.« Und wie viele Bürger auf der Straße sagt der 45-Jährige: »Die Linke hat so lange darauf hingearbeitet. Ich glaube und vertraue unseren Leuten« – jener älteren Generation, die jetzt die Zügel in der Hand hält.

Er wolle »weder die Nostalgie verwalten noch Schimären hinterherjagen«, ließ Präsident Tabaré Vázquez unlängst verlauten. Heute ist der Chef der Frente Amplio ein Jahr lang im Amt und kann zufrieden Zwischenbilanz ziehen: Bei gut sechs Prozent Wirtschaftswachstum 2005 und steigendem Steueraufkommen gibt es mehr Geld auch für Sozialprogramme zu Gunsten der 350 000 ärmsten Uruguayer. Die Löhne wachsen real, und laut Umfragen sind zwei Drittel des Volks mit der Regierung zufrieden.

Als Gegengewicht zu Vázquez (66) und Finanzminister Danilo Astori (65), die schon vor dem Wahlsieg sehr »gemäßigt« auftraten, galt der frühere Tupamaro-Stadtguerillero José »Pepe« Mujica (71), der Landwirtschaftsminister wurde. Mittlerweile repräsentieren alle drei die »moderne« Linke, die ähnlich wie Brasiliens Präsident Lula da Silva einen monetaristischen Sparkurs durchsetzt: Die Finanzmärkte sind begeistert, doch ein Entwicklungsprojekt zu Gunsten der nationalen Industrie und der Arbeiterschaft ist nicht in Aussicht.

Die Arbeitslosenquote liegt offiziell immer noch bei 12 Prozent, die öffentliche Schuldenlast beträgt 87 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und sinkt langsam, denn für den Schuldendienst erwirtschaftet Uruguay wie Brasilien und Argentinien einen »Primärüberschuss« (vor Zins- und Tilgungszahlungen) im Staatshaushalt, der in den kommenden Jahren noch wachsen soll. Astori bekam dafür kürzlich vom Magazin »The Banker« den Titel »Finanzminister des Jahres«.

Mujica hat sich auf Kritikerbeschimpfung spezialisiert. Derzeit sieht er sich durch 50 Familien von Zuckerarbeitern herausgefordert, die seit Mitte Januar 36 Hektar brachliegendes Staatsland besetzt halten. Statt einer Agrarreform schwebt ihm der Aufbau einer modernen Alkoholproduktion auf Zuckerrohrbasis vor – dabei setzt er auf Großgrundbesitzer.

Außenpolitisch nahm die Regierung zwar sofort wieder diplomatische Beziehungen mit Kuba auf, doch nach Unterzeichnung eines Investitionsabkommens mit den USA brachte Astori im Januar die Möglichkeit eines Freihandelsvertrags mit Washington ins Spiel. Ob dies nur als Drohgebärde gegen die Mercosur-Partner Brasilien und Argentinien gedacht war, von denen sich Uruguay stets übergangen fühlt, muss sich erst zeigen. Aus dem Wirtschaftsbündnis jedenfalls müsste man sich verabschieden.

Das Verhältnis zu Argentinien wird seit Monaten vom Bau zweier großer Zellulosefabriken am Uruguay-Fluss überschattet. Während die argentinischen Anrainer aus Angst vor drohender Umweltverschmutzung ihren Grenzübergang seit Anfang Februar blockieren, spielt die Regierung Vázquez die nationalistische Karte: »Sie haben uns realen Schaden zugefügt wegen eines Schadens, der vielleicht erst in ein paar Jahren auftritt«, klagte der Präsident.

Vázquez, Astori und Mujica eint zudem eine tiefe Abneigung gegen Debatten. Das Zellulose-Projekt, das wegen der absehbaren Ausweitung der Eukalyptus-Plantagen die Weichen für Jahrzehnte stellt, setzten sie mit dem Arbeitsplätze-Argument durch. Mujica ließ einen Kongress seiner einflussreichen Bewegung der Volksbeteiligung auf unbestimmte Zeit verschieben. Dissidenten wagen sich nur vereinzelt aus der Deckung. Der Sozialist Guillermo Chifflet, der aus Protest gegen die Aufstockung der uruguayischen Truppen in Haiti sein Abgeordnetenmandat niederlegte, ist überzeugt: »Ohne Basisbeteiligung ist keine moderne Linke möglich.« Für seinen Schritt habe er unerwartet viel Beifall erhalten, berichtet der Frente-Amplio-Veteran. »Wenn wir uns irren, müssen wir das gemeinsam tun.« Sonst drohe der Linken irgendwann ein Ende nach Art des Realsozialismus, »wo auch alles von oben entschieden wurde und die Leute nicht gewohnt waren mitzureden«.

* Aus: Neues Deutschland, 1. März 2006


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