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"Diese Utopie der Revolution ist anachronistisch"

Uruguays Regierung muß Reife zeigen und auf Verhandlungen setzten. Ein Gespräch mit José "Pepe" Mujica

José "Pepe" Mujica (74) ist seit dem 1. März 2010 Präsident Uruguays. In den 60er und 70er Jahren war er einer der Führer der Stadtguerilla-Bewegung MLN-Tupamaros.



Sie wurden Ende November 2009 als Kandidat der »Frente Amplio« (»Breite Front«) zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Wie verhindern Sie, daß dieses sehr heterogene Bündnis auseinanderfällt?

Wir mußten lange lernen, die verschiedenen Strömungen in der »Breiten Front« zusammenzuhalten. Es erfordert viel Arbeit und viel Intelligenz. Aber unsere Leute wollen die Einheit. Diese bildet die Bedingung für ihre Unterstützung. Das Mitte-Links- Bündnis ist nicht das Werk eines Führers. Die Allianz ist eine Forderung der Basis. Sie wird mit einem einfachen Rezept von unten zusammengehalten: Wer die Front zerbricht, verliert.

Gibt es noch weitere Gründe?

Ja. In Uruguay gibt es eine Kultur der politischen Verhandlungen. Nicht zufällig existieren mit der Nationalen und der Colorado-Partei zwei Gruppierungen, die 180 Jahre alt sind. Anstatt absolute Endziele nach dem Motto »Alles oder Nichts« zu verfolgen, muß die Linke Reife zeigen und Abkommen anstreben. Die Maxime lautet: Verhandeln, verhandeln, verhandeln! Wichtig ist, immer Brücken zu bauen und niemals Türen zuzuschlagen, sondern sie zu öffnen.

Ist das Ihr Geheimnis?

Eines davon. Das andere ist, nicht dem Machtwahn zu erliegen. Wenn die Linke der Eitelkeit der Macht verfällt, stirbt sie.

Sie haben den Uruguayern dazu gratuliert, daß sie Mujica zum Präsidenten gewählt haben. Warum?

Mit der Entscheidung, mich zu wählen, haben sie mit einem Stereotyp gebrochen. Dazu habe ich ihnen gratuliert. Ich repräsentiere die 70er Jahre. Ich bin der Guerillero, der die Revolution wollte. Diese Utopie ist anachronistisch. Unser Fehler war der Glaube, das Recht zur Zerstörung zu haben, um etwas Neues aufzubauen, von dem wir nicht einmal genau wußten, was es sein sollte. Das Leben hat mich gelehrt, daß man innerhalb einer freiheitlichen Demokratie viel bewerkstelligen kann. Je freiheitlicher die Demokratie ist, umso leichter ist es, innerhalb von ihr eine bessere Welt zu schaffen. Die Nostalgie für einen alten, vergangenen Traum führt zu nichts. Nostalgie ist gut für Kunst und Kultur, aber Geschichte macht man, indem man in die Zukunft blickt, indem man nach vorn schaut und nicht zurück.

Wie würden Sie sich heute selbst definieren?

Ich bin weiterhin Sozialist. Ich glaube, daß ich ihn nicht mehr erleben werde, aber man wird den Sozialismus verwirklichen. Allerdings nicht so, wie meine Generation in den 70er Jahren fälschlicherweise dachte. Zuerst muß man eine Gesellschaft mit weit verbreitetem Wohlstand schaffen, eine Gesellschaft mit einem hohen Bildungsstand. Ohne zuerst einmal dafür zu sorgen, ist es unverantwortlich, an Sozialismus zu denken.

Sie haben eine Austeritätspolitik für Ihre Regierung angekündigt. Was bedeutet das?

Es gehört nicht viel dazu, öffentliche Gelder auszugeben. Das können alle. Diese Regierung muß Reichtum schaffen und nicht den vorhandenen ausgeben. Die Minister wurden bereits darauf hingewiesen. Wir brauchen Sparsamkeit und Intelligenz. Glück kostet wenig, aber man kann es nicht kaufen. Die Austerität ist eine Art, um die individuelle Freiheit zu wahren. Sie ist ein Kampf um die Erhaltung der Freiheit. Jeder lebt wie er will. Ich glaube nicht, daß ich für irgendjemanden ein Beispiel bin, aber die besten Momente meines Lebens waren durch sehr bescheidene materielle Bedingungen gekennzeichnet.

Was sind die ersten Ziele Ihrer Regierung?

Die Armutsrate innerhalb von vier Jahren zu halbieren. Wir sind ein Land mit drei Millionen Menschen, da ist das kein unmögliches Unterfangen. Und das Bildungswesen zu verbessern. Ohne Kultur schafft man nichts Gutes.

Wie stehen Sie zu der Rolle Ihres Nachbarn Brasilien, als eine Art kontinentaler Führungsmacht?

Ich bewundere die Kühnheit, die Präsident Lula an der Spitze Brasiliens gezeigt hat. Er ist in der Lage, ein Land zu regieren, das fast ein Kontinent ist. Ohne auf eine parlamentarische Mehrheit bauen zu können, hat er in der Innenpolitik Außerordentliches erreicht. Es ist klar, daß sich ein Land wie Brasilien berufen fühlt, die kontinentale Führungsrolle zu übernehmen. Um aber zu führen, muß man Großzügigkeit zeigen, man muß in der Lage sein zu geben.

Interview: Angela Nocioni.
Dieses Interview erschien zuerst in der linken italienischen Tageszeitung Liberazione. Übersetzung: Andreas Schuchardt

* Aus: junge Welt, 16. März 2010


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