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Papierkrieg am Rio Uruguay

Der Bau zweier Zellulosefabriken im Nachbarland macht Argentiniern Sorgen

Von Gerhard Dilger*

Gualeguaychú im April dieses Jahres: Jeden Nachmittag kommt es in der argentinischen Kleinstadt zu einer kleinen Völkerwanderung. Dutzende Privatwagen legen die 28 Kilometer bis zur Grenze Uruguays zurück. Ganze Familien sitzen in der Abendsonne auf Klappsesseln mitten auf der Straße, Mate-Tee macht die Runde, Kinder spielen, auf der Wiese sind ein paar Zelte aufgebaut.

Was wie eine Ferienkolonie anmutet, ist Argentiniens berühmteste Straßensperre. Seit Anfang Februar wird die einzige Zufahrt zur internationalen General-San-Martín-Brücke blockiert, die acht Kilometer weiter über den breiten Uruguay-Fluss ins gleichnamige Nachbarland führt. Quer über die Landstraße ist ein Lastwagen platziert. Der Traktor daneben macht nur für die Anlieger auf der argentinischen Seite Platz – und für die Zollbeamten, die ihre Kollegen an der Brücke ablösen. »Herr Präsident Kirchner, erlauben Sie nicht, dass 80 000 Argentinier umkommen«, fordert ein Spruchband.

Nelly Pivas gehört zu den Stammgästen der abendlichen Vollversammlungen. Mit der Linken stützt sie sich auf ihren Stock, in der Rechten hält sie eine argentinische Fahne. »Wir wollen nicht, dass unser Fluss und unser Land für immer verseucht werden«, sagt die Bäuerin bestimmt. Auch die 36-jährige Lehrerin Valeria Martinelli kommt jeden Tag mit Mann und drei Kindern. »Wir kämpfen um unser Leben und um die Zukunft unserer Kinder«, versichert die zierliche Frau.

Stein des Anstoßes sind zwei Zellulosefabriken der Konzerne Ence (Spanien) und Botnia (Finnland), die Ende 2007 bei Fray Bentos am jenseitigen Ufer des Flusses die Produktion aufnehmen sollen. Zusammen wären sie der weltweit größte Komplex dieser Art: Mit zunächst 1,5 Millionen Tonnen Zellstoff würde jährlich doppelt so viel produziert wie in den zehn veralteten Fabriken Argentiniens zusammen. Die Investition von 1,8 Milliarden Dollar ist die größte in der Geschichte Uruguays, die Weltbank will Kredite von 400 Millionen Dollar beisteuern.

»1997 haben Umweltschützer erstmals vor den Fabriken gewarnt«, weiß Bürgermeister Daniel Irigoyen, »drei Jahre später bildete sich eine Bürgerinitiative, und 2003 haben wir Uruguay um einen Dialog gebeten.« Doch dessen damaliger Präsident Jorge Battle stellte sich taub und ignorierte den Vertrag von 1975, der bei Projekten im Grenzgebiet eine Abstimmung mit dem Nachbarland vorschreibt. Ence erhielt 2003 grünes Licht, Botnia im März 2005, kurz vor der Amtsübergabe an die uruguayische Linksregierung unter Tabaré Vázquez.

»Wir fürchten um unsere Gesundheit«, sagt Irigoyen, »und um unsere wichtigsten Einnahmequellen, den Tourismus und die Landwirtschaft.« Für den Biologielehrer Horacio Melo sind die möglichen Folgen des Megaprojekts auf die Umwelt noch immer »kaum erforscht«: »Die Technik, die in Finnland funktionieren mag, kann auf unser Ökosystem verheerende Auswirkungen haben«, meint der Aktivist der ersten Stunde.

Vor einem Jahr zogen 40 000 Menschen zu einer »Umarmung des Flusses« an die Brücke. »Das war der Durchbruch«, erinnert sich Melo. An die Spitze der Bewegung stellte sich Provinzgouverneur Jorge Busti, ein Parteifreund von Präsident Néstor Kirchner. Zu Beginn der Urlaubsaison im Dezember kam es zu ersten Blockaden. Zehntausende argentinische Urlauber blieben in diesem Sommer dem Nachbarland fern. Uruguayische Politiker reagierten gereizt. »Argentinien hat uns wegen eines virtuellen Schadens, der vielleicht erst in Jahren auftritt, realen Schaden zugefügt«, schimpfte Präsident Vázquez, »wie in dem Tango-Text, in dem der Mann die Frau schlägt, weil sie ihn in fünf Jahren vielleicht einmal betrügt«.

Kirchner schlug sich auf die Seite der Bürgerbewegung und forderte einen dreimonatigen Baustopp. Unabhängige Experten sollten in dieser Zeit ein Gutachten über die Folgen des Megaprojekts erstellen. Umsonst: Als Vázquez nach monatelangem Streit Einlenken signalisierte, weigerte sich die Firmenleitung von Botnia, ihre Arbeiter für länger als zehn Tage zu beurlauben. Die Spanier gaben sich diplomatischer, aber auch sie halten am Fabrikbau fest.

Besser am Schmutz zu sterben als am Hunger

Der Kontrast zwischen Gualeguay-chú und Fray Bentos, eine halbe Autostunde jenseits der Straßensperre, könnte kaum größer sein. In der verschlafenen Stadt mit 23 000 Einwohnern zieht das Arbeitsplatzargument der Firmen und der uruguayischen Regierung. Denn an die Blütezeiten, als von hier aus in großem Stil Rindfleisch nach Europa exportiert wurde, erinnern nur noch die Werksiedlungen des Viertels Anglo.

»Ich vertraue Präsident Vázquez«, sagt auch die Hausfrau María Esther Cruz. 14 Monate ist die Linksregierung im Amt, die die Wirtschaftspolitik ihrer Vorgänger übernommen und sie durch Sozialprogramme ergänzt hat. Korruptionsfälle gibt es kaum, die Zustimmung im ganzen Lande ist hoch. Doch dann fügt María hinzu: »Es ist besser, irgendwann an den Folgen der Verschmutzung zu sterben als heute an Hunger.« Zwei ihrer Söhne und ein Schwiegersohn sind für einen Monatslohn von umgerechnet 400 Euro für Botnia tätig – drei von derzeit 1200 Arbeitern, die bei 17 Subunternehmen angestellt sind. Selbst wenn Kritiker einwenden, nach der Einweihung der Fabriken blieben nur je 300 qualifizierte Arbeitsplätze übrig, hier können sie nicht punkten.

Auf der Baustelle selbst herrscht Hochbetrieb. Neben dem 120 Meter hohen Schornstein wirken die Bauarbeiter mit ihren bunten Helmen und leuchtender Schutzkleidung wie Ameisen. Im Hintergrund spannt sich die gähnend leere San-Martín-Brücke über den Uruguay-Fluss, der hier schon anderthalb Kilometer breit ist, bevor er in den Río de la Plata mündet.

»Wir liegen voll im Zeitplan.« Ingenieur Bruno Vuan ist zufrieden. »Natürlich sind wir daran interessiert, den Konflikt durch Dialog zu lösen«, beteuert der Botnia-Sprecher. Auch Bürgermeister Omar Lafluf zählt bedächtig die gängigsten Argumente für das Megaprojekt auf: Uruguay mache sich bei Investoren einen guten Namen und fasse auf neuen Exportmärkten Fuß, das Wirtschaftswachstum in der Region werde sozialen Fortschritt bringen, Wasser- und Luftverschmutzung werden sich in Maßen halten, die Umweltbehörden hätten die Lage im Griff. »Gegen internationale Verträge verstoßen nicht wir, sondern die Argentinier, indem sie die Freizügigkeit beschneiden oder Güter und Dienstleistungen nicht passieren lassen.« Greenpeace-Aktivisten verzögerten mehrfach die Lieferung von Bauteilen aus Chile.

»Grüne Wüsten« – Eukalyptusplantagen

Aus der uruguayischen Einheitsfront scheren nur wenige aus. Die Zahnärztin Julia Cóccaro etwa berichtet von der Angst der öffentlich Bediensteten, ihren Job zu verlieren, und von der »Gleichschaltung« örtlicher Politiker und Medien. »Da ist viel Geld im Spiel, Botnia und Ence helfen mit ihren Werbeetats kräftig nach.« Anders als ihr Bürgermeister befürchtet sie, dass Uruguay kaum profitieren werde. Vor allem die Ausweitung der Eukalyptusplantagen, die den Rohstoff für die Zelluloseherstellung liefern, macht ihr Sorgen.

In ihrem Kundenmagazin »Echo« schwärmen die Botnia-Manager von den üppigen Holzvorräten, die dort bereitstünden. Umgekehrt erhalte der Forstsektor des Landes durch die Fabriken »neue Impulse«. Mit der Übernahme des modernen Forstunternehmens Fosa vor drei Jahren stellte Botnia sicher, dass der größte Teil der Holzes, das ab Ende 2007 im Zellstoffwerk von Fray Bentos weiterverarbeitet wird, aus »eigener Hand« kommt.

Der Geograf Marcel Achkar und die Soziologin María Selva Ortiz von der Umweltgruppe Redes in Montevideo gehören zu den vehementesten Kritikern des »forstwirtschaftlichen Modells«, in das die Weltbank und andere Geldgeber die Regierung vor 20 Jahren lockten. Günstige Kredite führten schließlich zu dem Forstgesetz von 1987. Seither wurden in Uruguay auf 7000 Quadratkilometern Eukalyptusplantagen angelegt. »Diese grünen Wüsten lehnen wir aus sozialen und ökologischen Gründen ab«, sagt Ortiz. »Zum Beispiel Arbeitsplätze: Auf 1000 Hektar arbeiten da im Schnitt 4,4 Arbeiter, in der Rinderzucht sind es hingegen 5,8 und im Weinbau 135. Und auf manchen Ence-Plantagen in Nord-uruguay herrschen sklavereiähnliche Verhältnisse, da schuften Kinder im Alter von 9 bis 14 Jahren.«

»Dann die Wasserknappheit«, fährt sie fort. »Warum wachsen diese Bäume so schnell, in acht bis zwölf Jahren? Weil sie dem Boden Ummengen an Nährstoffen und Wasser entziehen. Wassermangel in den Forstprovinzen ist ein echtes Problem, die Degradation der Böden ist unwiderruflich, wir gefährden also langfristig unsere Ernährungssicherheit.« Achkar verweist darauf, dass sich der Ansatz auch ökonomisch nicht für Uruguay rechne. Von 1990 bis 2004 habe sich der Staat nach offiziellen Angaben mit 439 Millionen Dollar an den Plantagen beteiligt, dazu kämen Steuererleichterungen, günstige Kredite und der zollfreie Import von Maschinen. Auch der Ence-Botnia-Komplex folge dieser Logik, sagt Achkar: »Es ist eine steuerfreie Freihandelszone, und durch Investitionsschutzabkommen sind der Regierung die Hände gebunden.«

Wieder in Gualeguaychú: Nach einer Großkundgebung mit 80 000 Menschen beschließt die Vollversammlung Anfang Mai mit knapper Mehrheit die Aufhebung der Blockade. Im Gegenzug ruft Néstor Kirchner den Internationalen Gerichtshof in Den Haag an. Tabaré Vázquez bleibt hart und kokettiert damit, dem Handelsbündnis Mercosur den Rücken zu kehren. Der Papierkrieg geht weiter.




Deutschland-Connection
  • Chinas Wirtschaftswachstum sei »der Dynamo für die globalen Zellstoff- und Papiermärkte«, sagt Erkki Varis, Vorstandschef des finnischen Unternehmens Botnia. Ab 2008 sollen 30 Prozent der in Fray Bentos hergestellten Zellulose nach China gehen. 10 Prozent will der Konzern nach Nordamerika, 60 nach Europa exportieren.
  • In Deutschland gehören den Botnia-Gesellschaftern UPM und M-Real sieben Papierfabriken, die ein Sechstel der deutschen Produktion bestreiten. Ein Hauptadressat für uruguayische Zellulose wird das UPM-Werk »Nordland« im Emsland.
  • »Jeder Uruguayer verbraucht jährlich 40 Kilo Papier, jeder Deutsche 230«, sagt die Umweltaktivistin Julia Cóccaro. 90 Prozent der Weltproduktion gehe in Werbung und Verpackungsmaterial.
  • Im »Kritischen Papierbericht 2005« setzen sich deutsche Umwelt- und Verbraucherverbände für eine »nachhaltige Papierwirtschaft« ein, unter anderem durch Reduzierung des Verbrauchs und eine »niedrigere, dem Verwendungszweck angepasste Weiße«. Die Monokulturplantagen in den Ländern des Südens bezeichnen sie als eine »enorme Gefahr« für Menschen und Umwelt.
GD




* Aus: Neues Deutschland, 22. Mai 2006


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