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Streik ohne Gegner

In Uruguay rufen die Gewerkschaften zu einem 24stündigen Ausstand auf. Gegen die Regierung richtet sich der Protest jedoch nicht

Von André Scheer *

Zum ersten Mal seit sieben Jahren sind die Arbeiter in Uruguay am heutigen Donnerstag zu einem Generalstreik aufgerufen. Der Gewerkschaftsbund PIT-CNT will mit dem 24stündigen Ausstand den Druck auf die Regierung verstärken, den Forderungen der Beschäftigten vor allem nach höheren Löhnen und mehr Investitionen im Bildungsbereich nachzukommen. Er ist der bisherige Höhepunkt einer ganzen Reihe von Arbeitskämpfen und anderen Konflikten: Das erste Halbjahr 2015 gilt in dem südamerikanischen Land als das mit den meisten Streiks in den vergangenen 20 Jahren.

Für die Gewerkschaft ist der Streik ein Spagat, denn generell ist sie mit der von der linken Frente Amplio gestellten Regierung verbündet. Und so betonte der Präsident der PIT-CNT, Fernando Pereira, am Mittwoch im Gespräch mit der Tageszeitung El País die guten Kontakte seiner Organisation zu Staatschef Tabaré Vázquez, bei dem man immer ein offenes Ohr finde, auch wenn Diskussionen mit ihm nicht immer sofort zu Vereinbarungen führten. Zugleich schränkte er ein: »Aber es gibt auch Minister«. So habe die für das Bildungswesen verantwortliche María Julia Muñoz nichts getan, um die Verhandlungen mit den Lehrern zu erleichtern: »Wenn ein Feuer ausgebrochen ist, sollten wir keinen Alkohol hineinkippen. Man sollte versuchen, es mit Wasser zu löschen.« Studenten, Professoren und andere Beschäftigte von Universitäten und Schulen fordern, mindestens sechs Prozent des Staatshaushaltes für die Bildung bereitzustellen. Bislang sind für diesen Bereich vier Prozent vorgesehen.

Auch der Streik im Jahr 2008 richtete sich gegen die Politik eines von Vázquez geführten Kabinetts. Dieser hatte bereits zwischen 2005 und 2010 das höchste Staatsamt besetzt, bevor er es nach zwei Wahlperioden an seinen Parteifreund José Mujica abtrat. Mujica übergab es am 1. März 2015 wieder an seinen Nachfolger und Vorgänger. Unter dem zum linken Flügel zählenden Mujica, der auch international wegen seiner bescheidenen Lebensführung populär war, gab es kaum größere Arbeitskämpfe. Es habe damals mehr Spielräume für Verhandlungen und Vereinbarungen gegeben, bestätigt Pereira: »Die Richtlinien der letzten Regierung waren für uns besser als die gegenwärtigen.« Zugleich betonen die Gewerkschaften, dass sich ihre Proteste nicht gegen die Administration richten, der man bestätigt, eine Politik der sozialen Gerechtigkeit zu verfolgen. So lobt Pereira die jüngsten Ankündigungen des Präsidenten, ein Investitionsprogramm im Umfang von zwölf Milliarden US-Dollar auflegen zu wollen.

Ende Juli hatte Vázquez in Montevideo erklärt, man wolle in einem Umfang wie nie zuvor in der Geschichte die Infrastruktur des Landes ausbauen, ohne dies durch Kürzungen und Sozialabbau zu finanzieren. Zwei Drittel der Investitionen sollen aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, für ein Drittel hofft der Staatschef auf private Geldgeber. Das Programm sei auch eine »außerordentliche« Maßnahme zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und damit zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Beschäftigten.

El Popular, die Wochenzeitung der am Regierungsbündnis beteiligten Kommunistischen Partei Uruguays (PCU), lobte die Initiative des Präsidenten, auch wenn man dessen Finanzierungsvorstellungen – vor allem die Beteiligung privater Investoren – noch genauer diskutieren müsse. In seinem Leitartikel der aktuellen Ausgabe stellt das Blatt jedoch fest: »Die Ankündigung von Tabaré Vázquez ist ein starkes und positives politisches Signal mit Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen. Politisch gesprochen bringt es die Regierung in die Offensive. Die Rechte ist einmal mehr ins Abseits gestellt worden, bleibt stumm und ohne eigene Vorschläge.«

Auch Gewerkschaftschef Pereira begrüßt die Ankündigung des Präsidenten und interpretiert sie als ersten Erfolg der Politik seiner PIT-CNT: »Ich glaube immer, dass die Gesellschaften Veränderungen schaffen und die Regierungen sie nur umsetzen. Ich bin überzeugt davon, dass wir ohne die Gewerkschaftsbewegung in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten noch heute 16 Stunden am Tag arbeiten würden.«

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 6. August 2015


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