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Aus eigener Kraft

Hintergrund. In Venezuela macht sich die Arbeiterbewegung daran, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen – über Betriebsbesetzungen, Nationalisierung und Arbeiterkontrolle

Von Eva Haule und Christian Klar *

Die junge venezolanische Arbeiterbewegung schöpft ihr Selbstbewußtsein zu einem guten Teil aus den Erfolgen der Belegschaften der Petrolindustrie während des »Ölstreiks der Bosse« Ende 2002. In diesen Kämpfen mußten die korrumpierten Arbeiterorganisationen der Vierten Republik – vor allem die Gewerkschaftszentrale CTV (Conféderación de Trabajadores de Venezuela) – ebenso besiegt werden wie die nationalen und internationalen Bosse der kapitalistischen Ölwirtschaft.

Gegen Ende des Jahres 2002, nur ein halbes Jahr nach dem gescheiterten Putschversuch gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, wurde ein Ölstreik inszeniert, der nichts anderes war als eine veränderte Methode, um das eben erst verfehlte Ziel zu erreichen: Chávez auszuschalten und seine Regierung zu stürzen. Dazu versuchte die alte Führung dieser Branche, die gesamte Produktion lahmzulegen. Die externe Firma Intesa, mehrheitlich im Besitz eines großen US-amerikanischen Informatikkonzerns, die das Computersystem der venezolanischen Erdölgesellschaft PDVSA verwaltete, sabotierte jegliche Informationsverarbeitung. Ohne die Datenbasis der Produktion, des Einkaufs und Vertriebs konnte nicht mehr weitergearbeitet werden. Bald darauf verweigerten die Kapitäne von 13 Schiffen der PDVSA-Tankerflotte den Dienst. Im Land wurde das Benzin für Transport und Privatverkehr knapp, vollbeladene Tanker wurden zu Zeitbomben in der Nähe von Küsten und Städten. Solche modernen Schiffe sind technologisch hochkomplexe Gebilde, eine Sabotage ihrer Maschinen und Computersysteme ist von Außenstehenden kaum zu beheben. Die alte technokratische Elite des Ölkonzerns war sich sicher, unersetzbar zu sein und rechnete fest damit, daß Chávez seinen Rücktritt nicht würde vermeiden können.

Nach Wochen andauerndem Notstand kam dann jedoch alles anders. Nachdem mehrere Versuche gescheitert waren, brachte in einem weiteren Anlauf eine neue Notbesatzung unter großem Risiko endlich den gefährlichsten sabotierten Öltanker im Maracaibo-See, dem riesigen Binnengewässer in der Ölregion Venezuelas, wieder in Fahrt. In den Produktionsstätten verbliebene Arbeiter, Freiwillige, Techniker und Informatiker, setzten in der Folge auch die Ölproduktion wieder in Gang. So wurden die Ereignisse vom Dezember 2002 und Januar 2003 Symbol für die Kraft der venezolanischen Gesellschaft und Arbeiterschaft.

So frei wie nie zuvor

Die venezolanische Arbeiterbewegung profitiert sehr davon, daß inzwischen eine Regierung existiert, die eine sozialistische Agenda verfolgt und eine Debatte über die Umgestaltung der Gesellschaft führt. Das hat große Auswirkungen, auch wenn der Prozeß viele Widersprüche und Hemmnisse aufweist und die Glaubwürdigkeit der Repräsentanten der Regierung von Aktivisten unterschiedlich eingeschätzt wird.

Die Freiräume für die Organisierung, die politische Bildung und die Selbstverständigung sind für die Arbeiterbewegung heute so groß wie nie zuvor in Venezuela. Alte Aktivisten erzählen davon, daß sie bis 1998 nur die Illegalität und Halbklandestinität kannten. Repression und auch tödliche Angriffe auf Arbeiteraktivisten gibt es zwar immer noch, dies ist heute aber nicht mehr Regierungspolitik.

In der Region um Ciudad Guayana im Bundesstaat Bolívar ist die venezolanische Basis- und Schwerindustrie angesiedelt. Zugleich ist hier das Zentrum der jüngeren revolutionären Arbeiterbewegung. Nachdem Belegschaften schon mehrere Jahre in autonomen Kämpfen Veränderungen eingeleitet, Fabriken besetzt und in eigene Regie übernommen hatten, kam Präsident Hugo Chávez im Mai 2009 nach Ciudad Guayana und ermutigte in einer Versammlung die Beschäftigten in ihren Bestrebungen. Er verkündete den Sozialistischen Plan Guayana 2009 bis 2019, der auch die Durchsetzung der Arbeiterkontrolle und die Wahl der Betriebsleitungen durch die Belegschaften in den schon nationalisierten Betrieben auf die Tagesordnung setzte. Der Plan sieht die vollständige Umstrukturierung der Stahl- und Aluminiumproduktion gemäß den Interessen des Landes unter Führung der organisierten Arbeiter vor. Chávez gab bei diesem Anlaß auch die Nationalisierung weiterer neun Unternehmen der Region bekannt, darunter Ceramica Carabobo, das damals seit acht Monaten von den Lohnabhängigen besetzt war.

Diese Ereignisse markieren den Beginn einer äußerst widersprüchlichen Entwicklung im Spannungsfeld von Ermutigungen durch Chávez, Strukturproblemen der venezolanischen Ökonomie, Produktivitätsmängeln, Sabotage seitens der traditionellen und auch der »endogenen« Rechten der bolivarischen Bewegung, Begehrlichkeiten der PSUV als Staatspartei, Angriffen durch die USA und anderer internationaler reaktionärer Kräfte, ideologischer Rückständigkeit der Arbeiterschaft und einer sich radikalisierenden Avantgarde in der Arbeiterbewegung. Präsident Chávez genießt unter Aktivisten besonderes Ansehen, weil er die Konfrontation mit der ökonomischen Elite nicht scheut, um eine Entwicklung der nationalen Ökonomie zu ermöglichen, die die akuten Bedürfnisse der armen Bevölkerung befriedigt und perspektivisch die Produktion an gesellschaftlichen Zielen ausrichten soll.

Um Idee und Realisierung der Arbeiterkontrolle toben die heftigsten Klassenkämpfe. Ebenso wie um die Politik der Regierung, gegen die Interessen des nationalen und transnationalen Kapitals die Souveränität des Landes in den strategischen Industrien, eine bezahlbare Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung und eine demokratische Medienstruktur durchzusetzen.

In den Regionen befindet sich der Aufbau der Arbeiterkontrolle in völlig unterschiedlichen Stadien: von reinen Absichtserklärungen über ein Modell der Arbeiterkontrolle, dem immer noch von den zuständigen Ministerien eigenmächtig Instanzen übergeordnet werden, bis hin zu weiter fortgeschrittenen Formen; von auf Dauer unhaltbar subventionierten bis hin zu auch ökonomisch schon funktionierenden Versuchen. Aber an allen Orten kann man als Fingerzeig für eine gute Perspektive ansehen, welche Schritte zur Fortbildung der Belegschaften, die diese zur Unternehmensführung befähigen, gemacht werden. Ein Beispiel ist die 2009 auf dem Gelände des Eisen- und Stahlwerkes Sidor errichtete Arbeiteruniversität, die Voraussetzungen in dieser Hinsicht schaffen soll.

Nicht nur regionale Besonderheiten, auch die Größen von Unternehmen haben für die Realisierung von Arbeiterkontrolle eine außerordentliche Bedeutung. Die Komplexität aller Aspekte der Produktion nimmt mit der Dimension von Produktionseinheiten zu und muß von den Belegschaften beherrscht werden. Ebenso wachsen mit der Größe der Produktion und der Verwendung strategischer Rohstoffe die Begehrlichkeiten von Kräften, die der Emanzipation der Arbeiter feindlich gegenüberstehen.

Besetzt und verstaatlicht

Grafitos del Orinoco ist ein mittelgroßer Betrieb in der Region, der, ursprünglich als Schweizer Unternehmen, seit 1986 auf hohem technologischen Niveau Werkstücke aus Graphit produzierte. Im Oktober 2009 begannen die Werktätigen einen Kampf um höhere Löhne und für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die alte Gewerkschaft von Grafitos war »patronal« (gelbe Gewerkschaft). Die Belegschaft gründete eine neue, die die alte entmachtete und sich auf das Ziel kollektiver Arbeitsverträge verständigte. Es kam zu keiner Einigung, die Eigentümer schlossen vielmehr drei Wochen später die Fabrik. Daraufhin besetzten die etwa 60 Arbeiter sie. Die Unternehmensleitung reagierte mit dem Sperren von Strom und Wasser. Nachdem die Besetzung zunächst nur für die ursprünglichen Belange durchgeführt worden war, entwickelte sich im Kampf bald die weitergehende Forderung an die nationale Regierung, einzugreifen und den Besitzer der Fabrik zu enteignen. Die Belegschaften würden die Kontrolle übernehmen.

Es folgten sieben Monate Kampf ohne Lohnzahlungen. Das Überleben gelang nur durch die Solidarität der Comunidad und der Arbeiter anderer Betriebe. Im Mai 2010 erreichten die Besetzer die Anerkennung durch das zuständige Ministerium, das per Dekret bestimmte, daß die Fabrik den Beschäftigten übergeben und die Nationalisierung in Gang gesetzt wird. Die erste legale Form war zunächst noch eine gemeinsame Verwaltung durch Vertreter des Ministeriums und der Arbeiter. Zum 1. Juni 2010 konnte die Produktion erneut gestartet werden, zum 15. Juni gab es zum ersten Mal wieder Lohn. Die Beschäftigten schufen sofort kollektive Arbeitsverträge, mit einem Einheitslohn und verschiedenen sozialen Regelungen.

Seit August 2010 wird Grafitos del Orinoco von einem Fabrikkomitee geleitet, das aus neun Arbeitern besteht. Sie werden, um der Bürokratisierung vorzubeugen, für höchstens ein Jahr gewählt und sind jederzeit durch die höchste Instanz der Arbeiterkontrolle, die Generalversammlung der Belegschaft, absetzbar. Es ist völlige Transparenz aller betriebsinternen Daten für die gesamte Belegschaft vorgesehen. Kapitalbewegungen, Investitionen und Ausgaben müssen von allen Mitgliedern des Fabrikkomitees unterzeichnet werden.

Vertreter der Belegschaft erklären, daß es weiterhin eine Gewerkschaft gibt und dies auch so bleiben wird. Sie setzt sich im engeren Sinn für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen ein. In ihrem Betrieb funktioniere das Zusammenspiel gut. Aus anderen Werken wird häufig von Konflikten zwischen Organen der Arbeiterkontrolle und Gewerkschaften berichtet oder davon, daß allgemein noch Konfusion über die Rolle der einen wie der anderen herrsche.

Ein Prinzip der Arbeiterkontrolle ist auch die enge Kooperation mit den organisierten Comunidades im Umfeld der Betriebe. So wie in den Arbeitskämpfen die Erfahrung lebendig ist, daß die Belegschaften oft nur durch die Unterstützung der Comunidades überleben und siegen konnten, gehört zum Selbstverständnis auch die Zielsetzung, die Produktion an gesellschaftlichen Zielen statt am kapitalistischen Markt auszurichten.

Bei Grafitos del Orinoco arbeiten heute wieder 70 Menschen. Es ist geplant, ihre Zahl auf 120 auszuweiten. Die hergestellten Artikel gehen hauptsächlich in die Produktionsprozesse der umliegenden Stahlwerke. Der Betrieb bezieht keine staatlichen Subventionen.

Ein Vertreter der Belegschaft berichtet von deren Lernprozeß: Mit der neuen Struktur sitze der Feind nicht mehr mit im Betrieb. Die Arbeiter dächten nicht mehr nur über Lohnerhöhungen nach, sondern lernten, mit allen Aspekten der Produktion umzugehen. Der Prozeß der Aneignung der Fähigkeiten, den Betrieb zu leiten, würde als Anfang der Aufhebung der sozialen Spaltung der Arbeit erfahren. Jeder einzelne bekomme eine viel umfassendere, auch politische Bildung, die historische und internationale Dimensionen einschließt. Im Vergleich zu größeren Betrieben, wo die Arbeiterkontrolle oft noch in technokratischem Geist angegangen werde, hätten sie, als kleiner Betrieb, die demokratische Vision viel weiter entwickeln können. Sie seien sich darüber im klaren, daß sie ihre Erfahrungen weitergeben und mit anderen Arbeitern sprechen müssen, weil ihr Versuch nicht Bestand haben können wird, wenn ihr Betrieb quasi eine Insel bleibt.

Widersprüchlicher Prozeß

Ein Beispiel dafür, wie schwierig und widersprüchlich der Prozeß zur Arbeiterkontrolle mancherorts verläuft, ist das Eisen- und Stahlwerk Sidor – Siderúrgica del Orinoco Alfredo Maneiro, das größte Stahlwerk Lateinamerikas. Bei Sidor arbeiten etwa 13000 Menschen – und das, obwohl viele Produktionsprozesse automatisiert sind.

Ursprünglich schon einmal staatlich, wurde Sidor 1997 im Rahmen neoliberaler Privatisierungspolitik an einen italienisch-argentinischen Multi verkauft, 20 Prozent blieben im Besitz des venezolanischen Bundesstaates Bolívar.

In dieser Phase nahmen die Arbeitsunfälle stark zu, 19 Frauen und Männer kamen ums Leben. Im Januar 2007 begannen Kämpfe der Belegschaft; Kollektivverträge unter Einbeziehung der Arbeiter mit befristeten Verträgen, Wiederverstaatlichung und größere Arbeitssicherheit wurden gefordert. Die Streiks und Besetzungsaktionen wurden zeitweise von der Nationalgarde auf Befehl des damaligen (und heutigen PSUV-) Gouverneurs Francisco Rangel brutal unterdrückt. Die Kämpfe der Arbeiter führten nach 15 Monaten, im April 2008, zur Entscheidung der Regierung Chávez, Sidor zum 1. Mai wieder zu nationalisieren.

Die Auseinandersetzungen waren begleitet von scharfen Kampagnen der rechten Medien und auch von Widerständen der »endogenen Rechten« in der PSUV. Mit der Entscheidung zur Nationalisierung war noch nicht geklärt, ob auch die Forderungen nach Kollektivverträgen erfüllt würden. Dies geschah nach weiteren Aktionen erst Mitte Mai 2008. Die Ausarbeitung und Unterzeichnung des endgültigen Kontrakts nahm Präsident Chávez selbst gemeinsam mit Belegschaftsvertretern in die Hand. Schließlich steht seit 2010 ein von den Beschäftigten gewählter und von Chávez eingesetzter Arbeiterpräsident an der Spitze von Sidor.

Die Größe und die strategische Bedeutung dieser Produktionsstätte sind Gründe für verschiedene Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Arbeiterkontrolle. Einerseits sind die technischen, wissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Anforderungen an die Fähigkeiten der Beschäftigten zur Leitung enorm hoch, und die Fortbildung in dieser Hinsicht steckt noch in den Anfängen. Andererseits weckt die Bedeutung des Eisen- und Stahlwerks viele Begehrlichkeiten derjenigen in der PSUV, die sie nicht in ihrer Funktion für die Revolution begreifen, sondern als Staatspartei, die Posten sowie persönliche Einfluß- und Kontrollmöglichkeiten bietet. Die klassenbewußten Werktätigen identifizieren diese Kräfte als Hindernis des Prozesses zur Arbeiterkontrolle. Die Auseinandersetzungen sind hart und finden permanent statt. Konflikte gibt es weiterhin natürlich auch mit den Gegenkräften aus der traditionellen Rechten. Diese werden zum Beispiel als Urheber einer Sabotage im Jahr 2009 angesehen, die mit einem Brand in den Produktionsanlagen und 400 Millionen Dollar Schaden den ganzen Prozeß weit zurückwarf.

Ein Schlaglicht auf die Konfliktlinien wirft die Festnahme des Direktors für Vermarktung bei Sidor, Luis Velásquez, am 9. Juni 2011. Sidor-Arbeiter hatten ihn angezeigt. Das PSUV-Mitglied Velásquez wird beschuldigt, als zentrale Figur eines illegalen Netzwerkes Produkte des Betriebs, die aktuell große Bedeutung für die Vorhaben der Regierung im Wohnungsbau des Landes haben und deren Preise staatlich festgelegt sind, auf dem privaten nationalen und dem kolumbianischen Markt für das Dreifache verkauft zu haben. Arbeitervertreter weisen darauf hin, daß Velásquez durch das Ministerium für Basisindustrie nicht nur hohe Funktionen in weiteren Unternehmen der Schwerindustrie zugewiesen bekommen hat. So war er Präsident von Orinoco Iron und in den Übergangsverwaltungen von Briqven und Iron Mining. Er gilt auch als enger Vertrauter des PSUV-Gouverneurs des Bundesstaates Bolívar, Rangel. Die Aufnahme der Ermittlungen, die immer weitere Kreise ziehen, scheint ein Ergebnis des Drucks der Arbeiterkontrolle zu sein, deren Aktivisten seit Jahren die Realisierung der völligen Transparenz aller Aspekte der Produktion in den nationalisierten Betrieben der Schwerindustrie fordern und verschiedene Anzeigen zu Unregelmäßigkeiten erstattet hatten.

Werktätige bei Sidor kritisieren, daß es heute immer noch die gleichen Führungsstrukturen wie früher gebe. »Nur« mit den Unterschieden, daß an der Spitze ein von ihnen gewählter Präsident und eine neue Leitung stehen, daß es die geänderten Arbeitsverträge gibt und Projektgruppen eingerichtet wurden, um den Rahmen für die Arbeiterkontrolle und eine sozialistische Produktion im Eisen-, Stahl- und Aluminiumbereich, den Plan Guayana Socialista, zu diskutieren und aufzustellen. Aber auch die Veränderung des Bewußtseins der gesamten Belegschaft sei ungeheuer schwierig. Zwischen dem Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen und der vollständigen Übernahme der Verantwortung für den ganzen Betrieb würden Welten liegen.

Erfahrungsaustausch der Arbeiter

Auf dem Gelände von Sidor fand vom 20. bis 22. Mai dieses Jahres das erste nationale Treffen für Arbeiterkontrolle statt. Etwa 900 Aktivisten waren gekommen. Die Idee zu einer Versammlung, die die Arbeiter aus dem ganzen Land zusammenführt, entstand unter den Werktätigen der Schwerindustrie im Bundesstaat Bolívar, die auch die Vorbereitung der Veranstaltung übernahmen.

Für die Arbeiterkontrolle wird es keine Fortschritte geben, wenn die Beschäftigten sich nicht selbst artikulieren und über ihre Erfahrungen überregional und überbetrieblich austauschen. Es ginge um die »Erfahrungen hinsichtlich der Fortschritte, Hindernisse und Herausforderungen der Arbeiterkontrolle im Prozeß ihrer Anwendung«, so ein Einladungstext. Das allgemeine Ziel des Treffens müsse der »Aufbau einer Bewegung permanenten Charakters« sein, »die die venezolanische Arbeiterklasse (…) organisiert, mit einem autonomen Kampfplan, der die Arbeiterkontrolle konsolidiert – darauf orientiert, die Ökonomie unter ein Modell der sozialistischen Leitung zu bringen«.

Grundsätze für die Bildung von Arbeiterräten sollten demnach definiert werden, um die Debatte für das neue Arbeitsgesetz und das Gesetz über die Arbeiterräte vorzubereiten und das Bewußtsein der Beschäftigten über die Arbeiterkontrolle zu heben. Der Kampfplan umschreibt den Vorschlag der Bildung eines nationalen und internationalen Netzwerkes, das den Austausch über Ideen für die politisch-soziale Kontrolle der Ökonomie ermöglicht. Darüber hinaus solle ein Konzept sozialistischer Führung der Wirtschaft entwickelt werden, in dem die Rolle der Arbeiterräte, der organisierten Comunidad und des Staates in einem Kontext des Übergangs definiert werden.

Das Treffen erforderte viel organisatorische Vorbereitung und zeigte große methodische Talente der Arbeiter, die der Diskussion Struktur und eine überzeugende Zielstrebigkeit gaben.

Die Verpflegung für 900 Menschen an zweieinhalb Tagen wurde zum größten Teil erst kurzfristig aus den Kantinen umliegender großer und mittlerer Unternehmen zur Verfügung gestellt. Die Übernachtungen wurden aus dem Stand bei den Arbeiterfamilien von Ciudad Guayana und in einigen Herbergen organisiert. Am Rande fanden verschiedene kulturelle Events statt.

Die inhaltliche Diskussion war in 30 »Arbeitstische« gegliedert, an denen die Teilnehmer jeweils die Erfahrungen mit der Arbeiterkontrolle in ihren Betrieben diszipliniert in zehn Minuten Redezeit am ersten, in fünf Minuten am zweiten Tag darlegten. Auf diese Weise kam jeder zu Wort, und die Beiträge wurden auf den Punkt formuliert.

Drei Fragestellungen bestimmten die Diskussion: 1. Welche Widersprüche tauchen beim Aufbau der Arbeiterkontrolle und der Arbeiterräte auf? 2. Welche Ideen und Prinzipien braucht es, um die politische Aktion der Arbeiterklasse zu orientieren? Und 3. Welche Vorschläge für die weitere Entwicklung gibt es in politischer, organisatorischer, programmatischer, rechtlicher, ökonomischer und sozialer Hinsicht?

Zum ersten Punkt wurde dargestellt, daß die Bürokratie, die noch den bürgerlichen Staat vertritt, ein großes Hindernis für Fortschritte ist. Es existieren Regeln und Normen im System und im Produktionsprozeß, die die Partizipation der Arbeiter ausschließen. Vertikale Strukturen unterbinden das Recht der Arbeiter auf protagonistische Partizipation. Es gibt immer noch Akademismus – nicht zu erfüllende Anforderungen, um Ämter in der Leitung der Arbeiterräte, in den Gewerkschaften oder Unternehmensstrukturen besetzen zu können.

Zudem besteht laut der Diskussionsbeiträge eine gewisse Inkohärenz zwischen den Worten und Taten einiger Führer. Strukturen von Arbeiterkontrolle werden formal verfestigt ohne einen Wechsel der Paradigmen. Wahlprozesse für die Arbeiter werden initiiert, ohne zuvor die Diskussion zur Lösung von Konflikten zu vertiefen, die durch die Spaltung zwischen den Arbeitern hervorgerufen werden. Viele Gewerkschaften, auch neu gebildete, müssen als mafiös angesehen werden. Im Zentrum der Kritik stand hier die »Frente Bolivariano de Trabajadores«, die als Gewerkschaft der »endogenen Rechten« der PSUV charakterisiert wird und die Führung der nationalisierten Betriebe der Schwerindustrie in Ciudad Guayana an sich reißen will. Die häufig anzutreffende administrative Anarchie lähmt die Produktivität. Konflikte entstehen, weil die von den zuständigen Ministerien neben den gewählten Arbeiterpräsidenten eingesetzten »Juntas Directivas« (Vorstände) mit Technokraten besetzt sind, die die gleichen Kriterien wie Privatunternehmer anwenden.

In den Beiträgen zum zweiten Punkt wurde betont, daß es nötig sei, für die Abschaffung der sozialen Spaltung der Arbeit zu kämpfen und eine ständige, integrale Weiterbildung der Werktätigen auf ideologischem und politischem Gebiet zu organisieren, um ein kritisches Klassenbewußtsein zu entwickeln. Es gilt, eine Arbeitermiliz zum Schutz der Werktätigen zu organisieren. In der Arbeiterklasse muß ein Gefühl der Zugehörigkeit mit der Prämisse »der Betrieb gehört uns« hergestellt werden. Der Ausschluß wegen ideologischer Unterschiede muß vermieden und die Einbeziehung durch die Klassenzugehörigkeit angeregt werden. Menschliche Arbeitsbedingungen sind zu schaffen, die die geschäftsmäßigen Beziehungen überwinden. Die Prinzipien der Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit, der gegenseitigen Ergänzung, der horizontalen Strukturen, der Zusammenarbeit und Bescheidenheit sind immer anzuwenden.

Appell an Chávez

Den Debatten über das weitere Vorgehen ging bezeichnenderweise ein Aufruf an Präsident Chávez voraus: Dieser solle für den Bundesstaat Bolívar den Notstand erklären wegen der teilweise schon gewaltsamen Zuspitzung der Konflikte um die Frage der Arbeiterkontrolle in den nationalisierten Unternehmen. Man beschloß, ein öffentliches Manifest auszuarbeiten, das auch direkt an den Präsidenten gerichtet ist und alle Übereinkünfte des ersten nationalen Treffens für die Arbeiterkontrolle enthält (dies ist inzwischen geschehen). Die Teilnehmer forderten ein neues Arbeitsgesetz und ein Gesetz über die Arbeiterräte sowie die Schaffung einer überbetrieblichen Kommission aus organisierten Arbeitern, Comunidades, Staat und Zulieferern von Rohstoffen, um den Bürokratismus und die Korruption zu bekämpfen. In den Statuten der vergesellschafteten Unternehmen müssen demnach die Installierung von Arbeiterräten, die vollständige Offenlegung aller für die Produktion relevanten Informationen, die fortschreitende Abschaffung der sozialen Spaltung der Arbeit, die Garantie der Bildung der Werktätigen und der Aufbau von Arbeitermilizen verbindlich verankert werden. Die Unternehmen müssen die soziale Entwicklung in der Umgebung der Fabriken garantieren. In jedem Betrieb unter Arbeiterkontrolle ist die Kunst und Kultur des Volkes zu fördern.

Es wurde kritisiert, daß nicht einmal in Ciudad Guayana, dem Zentrum der venezolanischen Schwerindustrie, ein wissenschaftlich-technologisches Forschungs- und Entwicklungszentrum existiert. Die Einrichtung eines solchen unter Einbeziehung der Arbeiterräte wird gefordert, um die Abhängigkeiten von ausländischen Technologien und Lizenzen abzubauen.

Schließlich machten die Teilnehmer der Konferenz sich die Regierungslinie zu eigen, den »Patriotischen Pol«, ein Bündnis aller linken Kräfte, zu stärken. Aber, wie betont wurde, nicht nur für die Wahlen 2012, sondern auch für die Organisierung und die Kaderbildung. Im Unterschied zum Bestreben der PSUV, nur das Wählerreservoir zu erweitern, bedeutet dieses Projekt aus Sicht der Arbeiterbewegung viel mehr die Ausschöpfung des Potentials im Volk, um der Idee der protagonistischen Demokratie immer wieder neue Kraft zuzuführen.

* Aus: junge Welt, 23. Juli 2011


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