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Die virtuellen Straßenkämpfe der Rechten

Das Vorgehen der Opposition in Venezuela zielt auf Bürgerkrieg ab

Die Vorgänge der letzten Wochen und Monate in Haiti um den neuerlichen Sturz des gewählten Präsidenten Aristide erinnern ein wenig an die Oppositionsbewegung gegen Präsident Chávez in Venezuela. Unverhohlen drücken das jene Oppositionelle aus, die vor der US-Botschaft in Caracas mit Schildern wie "1. Hussein; 2. Aristide; 3. Chávez" auf und ablaufen.
Der folgende Bericht aus Caracas gibt einen guten Einblick in die Ziele und Machenschaften der Opposition.



Von Dario Azzellini, Caracas

Die Zuschauer der vier großen venezolanischen Privatfernsehsender bekommen dieser Tage den Eindruck vermittelt, es fände ein Volksaufstand gegen die Regierung Chávez statt. Allen voran befindet sich Globovision in Dauerliveschaltung. Der lokale Partner für das US-amerikanische Mediennetzwerk CNN erweckt den Eindruck von Straßenkämpfen im gesamten Land. Selbst Bilder von zwei brennenden Müllsäcken oder schlicht herumliegenden Steinen werden mit dramatischer Musik unterlegt, während aggressive Oppositionspolitiker von der »Diktatur« reden und zu Gewaltaktionen aufrufen. Reporter des Senders stehen an einer völlig ruhigen Auffahrt zur Stadtautobahn und erklären im auffordernden Ton: »Hier gehen die Proteste gegen zwölf Uhr los, wir bleiben jetzt hier, bis die Blockaden wieder losgehen«. Auf Venevision, einem weiteren Sprachrohr der rechten Putschisten, werden am unteren Bildschirmrand laufend Botschaften vermeintlicher TV-Zuschauer eingeblendet: »Auf die Straße!, Gegen die Diktatur, Blockieren mit jedem Mittel, Schande!, Niemand darf zu Hause bleiben!«. Dazu erklärt eine hysterische Anruferin: »Die Menschen müssen aufwachen, das Regime läßt im ganzen Land auf offener Straße Menschen füsilieren«.

Die Realität auf der Straße ist eine andere. Regierungskräfte haben niemanden erschossen. Zahlreiche Oppositionsvertreter wurden bei Ausschreitungen in den vergangenen Tagen hingegen verhaftet. Als Carlos Melo, Vorsitzender von »Bandera Roja« (Rote Fahne, BR) von der Nationalgarde kontrolliert wurde, hatte er zwei FN-FAL-Sturmgewehre in seinem Fahrzeug. BR ist eine ehemals maoistische Guerilla, die sich in den bewaffneten Stoßtrupp der Opposition gewandelt hat und Teil der »demokratischen Opposition« ist.

So wie beim Putsch am 11. April 2002 spielen die Massenmedien unter Kontrolle reaktionärer Unternehmer wieder eine zentrale Rolle in der Destabilisierungsstrategie der Opposition. Die virtuelle Realität der Rechten, die im wesentlichen aus den Kreisen besteht, die das Land zuvor 40 Jahre lang ausgeplündert haben, findet starken Widerhall in den internationalen Medien und Presseagenturen. Hier redet niemand davon, daß es die alten Elite war, die die Mehrheit der Bevölkerung jahrzehntelang in Armut gehalten und mit Repression überzogen hat. In Deutschland wurde zwar der preisgekrönte Dokumentarfilm »Chávez, ein Staatsstreich von innen« auf Arte und im ZDF gezeigt, doch Konsequenzen aus der Darstellung des von den Medien inszenierten Putsches hat kaum ein Journalist gezogen. Die gleichen Politiker, die am Putsch beteiligt waren, werden heute wieder widerspruchslos als »demokratische Opposition« bezeichnet. Die gleichen Sender, die den Putsch einst mit organisierten und medial begleiteten, stellen auch heute wieder die Hauptinformationsquelle der internationalen Presse dar.

Im Zusammenspiel mit den verschiedenen Sektoren der Opposition, die außer dem Sturz Chávez’ keinerlei politisches Programm hat, richten sich auch dieser Tage die Medien und die US-Regierung regelrecht nach einem Drehbuch der Destabilisierung. So drohen oppositionelle Politiker über die privaten TV-Stationen mit »Zuständen wie in Haiti«. William Lara, Abgeordneter der Nationalversammlung, erhob in diesem Zusammenhang schwere Vorwürfe gegen die US-Regierung. Das Vorgehen der Opposition, so Lara, entspreche en detail den Vorgaben aus dem berüchtigten »Handbuch für die psychologische Kriegsführung« der US-Armee.

Demokratiephrasen

Nach dem Putschversuch vom April 2002, der Sabotage der Erdölproduktion und der Aussperrung der Beschäftigten durch große nationale und transnationale Unternehmen im Dezember 2002 und Januar 2003 steuert die Opposition in Venezuela abermals auf einen strategischen Höhepunkt ihrer Aktivitäten zu. Angesichts des Scheiterns der beiden vorherigen Ansätze, Präsident Hugo Chávez aus dem Amt zu treiben, ließ sich die Opposition im Mai 2003 darauf ein, den verfassungsgemäß vorgesehenen Weg eines Referendums gegen Chávez zu gehen. Damit kann nach der Hälfte der Amtsperiode über den Verbleib auf dem Posten abgestimmt werden. Um ein Volksbegehren einzuberufen, müssen 20 Prozent der Wahlberechtigten, etwa 2,45 Millionen Personen, dafür unterschreiben. Das genaue Vorgehen legte allerdings der Nationale Wahlrat (CNE) fest, der wiederum neu ernannt werden mußte. Während die Opposition einerseits lauthals das Referendum forderte, behinderte sie zugleich die Ernennung des neuen CNE in der Nationalversammlung. Als der Oberste Gerichtshof, der mehrheitlich oppositionell besetzt ist, angesichts der Blockadesituation die Ernennung übernahm, klatschten die Chávez-Gegner Beifall. Als jedoch deutlich wurde, daß der CNE dennoch keine politischen Entscheidungen zugunsten der Opposition treffen würde, begann diese eine Verleumdungskampagne gegen den Wahlrat.

Anfang Dezember letzten Jahres wurden schließlich die Unterschriften gesammelt. Mit der Abgabe derselben beim CNE intensivierte die Opposition ihren Feldzug gegen den Wahlrat. Scheinbar im Bewußtsein, die notwendige Anzahl nicht erreicht zu haben. Letztlich behauptete die Opposition, 3,4 Millionen Unterschriften übergeben zu haben – tatsächlich waren es nur knapp 3,1 Millionen. Es häuften sich Anzeigen und Berichte, die auf ein massives Fälschungsmanöver hindeuteten. Und während die Regierung von Anfang an betonte, jedwede Entscheidung des CNE anzuerkennen, blieb eine solche Erklärung seitens der Opposition bis heute aus. Ihre Vertreter machten klar, sie würden nur eine Entscheidung zu ihren Gunsten anerkennen.

Die Entscheidung des CNE sollte ursprünglich schon Anfang oder spätestens Mitte Februar fallen, doch die Prüfung der Unterschriften verzögerte sich. Schließlich teilte der CNE seine Entscheidung am Dienstag mit: Etwa 370 000 Unterschriften wurden wegen offensichtlicher Fälschungen für ungültig erklärt, fast 900 000 sollen öffentlich überprüft werden. Die Strategie der Opposition ist nun, diese Entscheidung als »Willkür einer Diktatur« auszulegen. Auf den Straßen soll hingegen ein Bild weitgehender Instabilität und Unregierbarkeit präsentiert werden, um so den internationalen Druck auf Venezuela zu erhöhen. Die führenden Kräfte der Opposition hoffen dadurch, einen erneuten Militärputsch oder eine US-Intervention hervorzurufen. So demonstrierten Oppositiongruppen auch vor der US-Botschaft in Caracas mit Schildern wie »1. Hussein; 2. Aristide; 3. Chávez«.

Vor allem die Option einer US-Militärintervention ist jedoch unrealistisch. Bei aller Polemik und Propaganda dürfte sich auch Washington über die immense Unterstützung in der Bevölkerung für die tiefgreifenden politischen und sozialen Transformationen in Venezuela unter Chávez bewußt sein. Doch daß die US-Regierung eine bedeutende Rolle im Drehbuch der Destabilisierung Venezuelas einnimmt, ist nicht zu übersehen. Jenseits der direkten Verwicklung in den Putsch vom April 2002 finanziert Washington über das National Endowment for Democracy (NED) verschiedene Oppositionsorganisationen, darunter auch das Privatunternehmen Sumate, das im Zusammenspiel mit der Wirtschaft Arbeiter und Angestellte verschiedener Unternehmen unter Druck setzte, um gegen Chávez zu unterschreiben. Weitere Finanziers der Destabilisierung sind in der EU zu finden, so z. B. in der spanischen Regierung oder in der deutschen christdemokratischen Konrad-Adenauer-Stiftung, die die neu gegründete Partei »Primero Justicia« (PJ) unterstützt. PJ war am Putsch beteiligt, PJ-Vertreter »verhafteten« Minister der Chávez-Regierung und zuletzt taten sie sich in der Koordinierung des Angriffes und der Zerstörung eines Gebäudes der »Bewegung V. Republik« (MVR) der Chávez-Partei hervor, das während einer »friedlichen« Demonstration der Opposition Ende Februar in Brand gesetzt wurde.

Zugleich agieren kleine oppositionelle Gruppen in verschiedenen Teilen der Hauptstadt, vor allem in den wohlhabenden Bezirken El Hatillo, Barutas und Chacao, mit massiver Gewalt und errichten Straßenblockaden. Die Nationalgarde und die Militärpolizei, die versuchen, die Demonstrationen aufzulösen, werden mit Steinen, Molotowcocktails und Schußwaffen angegriffen. An den Aktionen beteiligen sich zwar nur wenige hundert Personen, dennoch sind sie kaum aufzuhalten, denn die Polizei der Hauptstadt Caracas (die einem Oberbürgermeister untersteht, der sich als Chávez-Anhänger wählen ließ und anschließend zur Opposition überlief) und der drei genannten Bezirke schreitet nicht ein. Sie hält sich entweder zurück, unterstützt die Gewalttäter oder ist sogar an den Ausschreitungen beteiligt. Mehrere Polizeibeamte wurden in flagranti von der Nationalgarde festgenommen.

Die Polizei des größten Bezirkes der Hauptstadt, El Libertador, der von Chávez-Anhängern regiert wird und mit zwei Millionen mehr Einwohner umfaßt als alle anderen zusammen, hat allerdings keine Befugnis, in anderen Stadtteilen zu agieren. Und Nationalgarde und Militärpolizei können, so lange der Notstand nicht ausgerufen wird, nur die Hauptstraßen und Stadtautobahnen freihalten. Um für eine entsprechend aggressive Stimmung bei den Blockadeaktionen zu sorgen, verteilt das oppositionelle Privatunternehmen Polar, der größte Bierproduzent Venezuelas, kostenlos Bier an die Demonstranten.

* Der Beitrag erschien in zwei Teilen am 4. und 5. März 2004 in der Tageszeitung "junge Welt".


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