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Regierungsfähigkeit neu erfinden

Venezuelas Basisbewegungen suchen nach dem Tod von Chávez nach neuen Strukturen *


Juan Carlos Rodríguez ist Aktivist des Campamiento de Pioneros, das kollektiv den Aufbau neuer Gemeinden und Wohnhäuser organisiert. Mit anderen Organisationen wie den Urbanen Landkomitees oder der Mieterbewegung sind die Pioneros Teil der stadtpolitischen Bewegung Movimiento de Pobladores. Mit Rodríguez sprach für »nd« in Caracas Tobias Lambert über den Kampf gegen Korruption und das ambitionierte Wohnungsbauprogramm der venezolanischen Regierung.

Der neue Präsident Nicolás Maduro ist nun etwa ein halbes Jahr im Amt. Wie entwickelt sich der bolivarianische Prozess in Venezuela seit dem Tod von Hugo Chávez?

Die Revolution war immer sehr durch den Führungsstil und die Legitimität von Chávez geprägt. Das zwingt uns dazu, politisch zu reifen. Die chavistische Regierungsfähigkeit muss neu erfunden, neu gedacht werden. Aber gleichzeitig gehen die ökonomischen, politischen und medialen Angriffe der Rechten weiter. Seit langem fällt es uns daher schwer, politisch voranzukommen. Wir brauchen eine offene und kritische Debatte darüber, was schief läuft.

Wie hat sich Chávez' Tod auf die Basisbewegungen ausgewirkt?

Wir befinden uns in einer Phase der Demobilisierung. Es fehlen effektive politische Strukturen des Chavismus von unten. Die Partei (Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas, d. Red.) kann diese Rolle nicht ausfüllen, denn sie ist weniger eine Partei der Massen als ein Wahlapparat. Die Verbindung zu den Massen wurde durch Chávez selbst hergestellt, Maduro hat nicht die gleiche Mobilisierungskraft. Gleichzeitig strebt die politische Führung eine starke, eine effiziente Regierung an und versucht, sich als Subjekt der Revolution zu definieren. Sie sagt den Leuten, dass sie sich keine Sorgen machen sollen, da die Politik alles regeln wird. Ich zweifele nicht am guten Willen der Regierung, aber diese Haltung hemmt die Mobilisierung.

Im öffentlichen Raum ist Chávez durch Plakate und Wandbilder noch immer omnipräsent. Was ist sein politisches Vermächtnis?

Das Erbe, das Chávez hinterlassen hat, ist die Verantwortung für den politischen Kampf. Im Prinzip sind sich alle Sektoren des Chavismus darüber einig, dass man Chávez am besten Tribut zollt, indem man diesen Kampf weiterführt. Das manifestiert sich in den Slogans »Chávez vive, la lucha sigue« (»Chávez lebt, der Kampf geht weiter«) oder »Chávez somos todos« (»Wir alle sind Chávez«). Aber es braucht Zeit, sich neu zu organisieren, um den Prozess zu vertiefen, zu demokratisieren. Chávez hat einige sehr klare politische Linien hinterlassen. Der Aufbau des Sozialismus ist demnach allen voran Aufgabe der popularen Bewegungen. Er hat nicht Partei oder Regierung genannt, sondern Basismacht (poder popular).

Maduro will sich vom Parlament Sondervollmachten ausstellen lassen, um gegen die Korruption und ökonomische Probleme vorzugehen. Ist das der richtige Weg?

Gesetze sind genau wie öffentliche Kampagnen nützliche Werkzeuge, um gegen Probleme wie Korruption vorzugehen. Aber das entscheidende ist, dass die Korruption eng mit dem Rentenmodell Venezuelas verknüpft ist, in dem das ökonomische Geschehen darauf ausgerichtet ist, sich seinen Teil von den Erdöleinnahmen einzuverleiben. Dazu gehört zum Beispiel die Währungsspekulation. Venezolaner fahren ins Ausland, nur um ihre dafür zum offiziellen Kurs erhaltenen Dollars zum Schwarzmarktpreis zu verkaufen. Die Unternehmen wiederum erpressen die Regierung förmlich, indem sie sagen, wenn du mir keine Dollars gibst, dann produzieren und importieren wir nicht. Das hemmt die wirtschaftliche Entwicklung auf brutale Art und Weise, denn offensichtlich hat die Regierung nicht die Mittel, um ausreichend selbst zu produzieren. Das alles kommt von einer Kultur der Plünderung, von der Zielsetzung, ohne oder mit möglichst wenig Arbeit Geld zu machen.

2011 hat Chávez die »Gran Misión Vivienda Venezuela« in Leben gerufen, um der Wohnungsnot zu begegnen. In Caracas sieht man tatsächlich an vielen Orten neue Wohnhäuser. Wieso hat das früher nicht funktioniert?

Die »Gran Misión Vivienda Venezuela« stellt einen immens wichtigen Paradigmenwechsel dar. Denn es wurde erstmals verstanden, dass die Wohnungsnot mit der kapitalistischen Produktion, dem Baugewerbe als Geschäft und Spekulationsobjekt, zusammenhängt. Der Staat hat also einen großen Teil der Finanzierung übernommen und Unternehmen zur Herstellung von Baumaterialien verstaatlicht. Zudem hat er Grundstücke für den Bau von Wohnungen wiedergewonnen. Mitten im Zentrum von Caracas werden Häuser gebaut, um sie armen Bewohnern zur Verfügung zu stellen. In anderen Großstädten weltweit passiert genau das Gegenteil: Durch die Gentrifizierung werden arme Leute aus den Zentren verdrängt.

Wie hat sich das Programm in den letzten Jahren konkret entwickelt?

Insgesamt wurden seit 2011 etwa 450 000 Wohnungen gebaut. Ein Teil entsteht durch internationale Kooperation, beispielsweise mit Russland, China, Portugal oder Iran. Dann sind staatliche Institutionen, der Privatsektor und die organisierte Bevölkerung selbst einbezogen. Die wichtigsten Akteure sind die Kommunalen Räte (selbstorganisierte Organisationen, die basisdemokratisch über die Verwendung von Geldern in einem festgelegten Gebiet entscheiden können, d. Red.). Der Staat stellt finanziert und gibt technische Beratung, aber der Kommunale Rat ermittelt den Bedarf, macht Freiflächen ausfindig und organisiert die Arbeit. Das heißt die zukünftigen Bewohner bauen ihre Häuser selbst. Allein dadurch kommen 60 Prozent der Wohnungen zustande. Es ist seit langem eine unserer Hauptforderungen, dass die organisierte Bevölkerung die Produktionsmittel zum Bau von Wohnungen selbst kontrolliert.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 5. November 2013


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