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"Ernsthafte Alternative für Lateinamerika"

Gespräch mit Heinz Dieterich über seine Freundschaft mit Hugo Chávez, den irregulären Krieg und die neue venezolanische Militärdoktrin*



F: Ihnen wird eine enge Freundschaft zum venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez nachgesagt; er nähme gerne Ihren Rat in Anspruch. Was ist daran wahr? Wie kam es dazu?

Dieterich: Das Ganze hat sich aus einer Publikation von Dokumenten über Simón Bolívar entwickelt, die als verschollen galten und die ich veröffentlicht habe, nachdem sie wieder aufgetaucht sind. Als Chávez nach dem mißglückten Aufstand 1992 im Gefängnis war, las er dieses Buch. Als ich dann 1999 über meinen Freund Ali Rodriguez, den ehemaligen Energie- und heutigen Außenminister, hörte, daß Chávez zum Präsidenten gewählt worden war, beschloß ich, nach Venezuela zu fliegen, um zu sehen, ob da wirklich eine ernsthafte Alternative für Lateinamerika entwickelt wurde oder bloß irgendeine neue bürgerliche Regierung an die Macht kam. Ich versuchte, den Kontakt zum Präsidenten herzustellen, und schließlich rief er mich an und sagte, er wäre mir sehr verpflichtet, weil er meine Veröffentlichung im Gefängnis gelesen und daraus viel Kraft geschöpft habe. Es kam dann zu mehreren Treffen und einem sehr langen Interview. Aus dieser Begegnung hat sich eine längere Freundschaft entwickelt, und ich war dann öfter in Venezuela. Im Dezember 2001 hatte ich ihm auch eine Analyse übermittelt, in der ich einen Militärputsch vorhersagte. Leider hat er ihr nicht die Bedeutung zugemessen, die sie hatte. Später haben sich immer neue Verbindungen ergeben, und ich habe einige Vorschläge und theoretische Konzepte produziert, die ihm wohl ganz plausibel erschienen und hilfreich waren in der konkreten Situation. Gleichwohl ist die Kategorie des Assessors, die in der Öffentlichkeit Venezuelas benutzt wird, falsch. Wir waren einmal nahe daran, eine Zusammenarbeit auf institutioneller Ebene zu vereinbaren. Letztlich habe ich es doch nicht gemacht, weil ich weder aus Mexiko wegwollte noch als Funktionär, politisch integrierter Intellektueller oder eingebundener Analytiker meine Freiheit einschränken wollte, den Prozeß zu kritisieren. So ist es bei einer schönen Freundschaft geblieben, aus der Chávez das nimmt, was ihm nützlich erscheint.

Z. B. hat er das Konzept eines »Lateinamerikanischen Machtblocks – Bloque Regional de Poder« übernommen, das ich geprägt habe. Auch der Begriff des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« ist von mir, wie einige andere Sachen, in denen meine bescheidenen theoretischen Beiträge wohl haben helfen können, den Prozeß positiv zu unterstützen.

F: Der Spiegel insinuiert, Sie würden die Militärpolitik Venezuelas mitbestimmen. Tatsächlich gibt es seit letztem Jahr eine neue Militärdoktrin. Was ist das Neue daran und wie groß ist tatsächlich Ihr Anteil?

Die neue Militärdoktrin Venezuelas ist das, was wir die integrale, nationale, territoriale Verteidigung nennen, aber im Grunde seit 2000 Jahren als Doktrin des irregulären Kriegs kennen, die von allen Völkern benutzt wird, die einem technisch, ökonomisch und demographisch weitaus stärkeren Feind gegenüberstehen. Es ist inzwischen eine weltweite Tendenz, zu dieser Verteidigungsdoktrin überzugehen. Auch Brasilien hat diese Wende vollzogen.

Das wesentlich Neue daran ist geprägt durch die Erfahrungen seit dem Vietnamkrieg, den militärischen Widerstand im Irak und die Einsicht, daß eine so außerordentlich starke Militärmacht wie die USA nicht durch konventionelle Kräfte gebrochen werden kann, sondern nur durch das, was Mao den lang andauernden Volkskrieg nannte. Gemeint ist also ein langer irregulärer Krieg, in dem sich Front und Hinterland miteinander vermischen, in dem Zivilisten, Milizen und Kampftruppen eine Einheit bilden und in dem Waffen auf niedriger technologischer Basis verwendet werden. Im Grunde braucht man nur sechs oder sieben Waffensysteme. Das alles ist der Niederschlag einer 2000 Jahre alten Militärdoktrin der Schwachen, aktualisiert durch die neuen Aggressionsformen der USA. Es war eigentlich nur logisch, daß Venezuela angesichts der realen militärischen Bedrohung durch die USA diese Doktrin übernimmt. Es gibt keinen anderen Weg, im militärischen Konflikt mit den USA zu überleben.

Was ich damit zu tun habe? Der Spiegel hat mir da möglicherweise etwas zu- viel Ehre angetan. Ich kenne seit 1999 einige Militärs recht gut. Ich bin mit Leuten befreundet, die damals am militärisch-zivilen Aufstand teilnahmen, z. B. mit dem heutigen Tourismusminister Oberstleutnant Wilmar Castro und dem gegenwärtigen Oberbefehlshaber der Armee, General Raúl Baduel. Ich kenne auch den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, habe also ziemlich viele Bekannte und sogar einige Freunde in der höheren Militärführung. (...)

F: In diesem Jahr ist in Venezuela ein neues Zentralbankgesetz in Kraft getreten. Was sind seine Kerninhalte?

Der Kerninhalt ist die Modernisierung einer überholten monetaristischen Vision der Zentralbankrolle, die die Entwicklung der venezolanischen Wirtschaft und Gesellschaft blockierte.

Es gibt im wesentlichen zwei Vorstellungen davon, was eine Zentralbank machen sollte: Eine ist die orthodoxe monetaristische Vorstellung, die sich darauf beschränkt, über die Manipulation der Liquidität eine antiinflationäre Rolle zu spielen. Das ist eine Rolle, die in den Metropolenstaaten seit vielen Jahren überwunden ist. Der Prototyp der neuen Interpretation der Zentralbankrolle ist Alan Greenspan in den USA, der auf der einen Seite natürlich als Wächter der Währungsstabilität agierte, aber auf der anderen Seite gleichgewichtig Arbeitslosigkeit und Konjunktur im Auge behalten hat.

Die Zentralbank in Venezuela war von Leuten besetzt, die gegen das bolivarische Projekt eingestellt waren. Sie akzeptierten auch nicht, daß die demokratisch gewählte Regierung das Recht hatte, die Institution gemäß den neuen Anforderungen zu restrukturieren. Sie blockierten die Versuche, die Überschüsse der Zentralbank in Investitionen zu verwandeln, und sie blockierten jede produktive Mitarbeit im Sinne von Greenspan oder auch der Europäischen Zentralbank. (...)

F: Wie würden Sie den Verlauf des bolivarischen Prozesses charakterisieren, wo ist er heute angelangt?

Ich würde sagen, daß man heute den Prozeß durch Koexistenz von fünf Makrodynamiken charakterisieren kann. Die eine ist ein staatskapitalistischer Entwicklungsprozeß, wie ihn eigentlich Friedrich List vor 180 Jahren in Deutschland propagiert hat und der in Venezuela als endogene Entwicklung bezeichnet wird. Das ist nichts Neues. Erfunden haben sie die Engländer; die Deutschen und Japaner haben sie kopiert. Heutzutage gehen auch China und die asiatischen Tiger diesen Weg, weil es die einzige Entwicklungsperspektive ist, die ein Land im Weltkapitalismus heutzutage hat. Man könnte von einem Staatskapitalismus keynesianischer Prägung mit nationaler Würde sprechen.

Die zweite Tendenz ist die Verteidigung gegenüber der Monroe-Doktrin, die automatisch durch diese Entwicklungsstrategie auf den Plan gerufen wird. Die dritte Makrodynamik ist die Intention, zum Sozialismus zu gelangen, also mit der Schaffung von Strukturen und Mentalitäten zu beginnen, die den Übergang zum Sozialismus einleiten, können. Die vierte gründet darin, daß weder eine demokratische sozio-ökonomische Entwicklung noch die Verteidigung gegen US- und europäische Interessen oder gar die sozialistische Entwicklung in Venezuela allein möglich sind. Das wird nur im Rahmen des lateinamerikanischen Machtblocks funktionieren. Venezuela wird sich weder wirtschaftlich sozialdemokratisch entwickeln können noch zum Sozialismus gelangen, wenn nicht ein gemeinsamer Machtblock mit Kuba, Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay gefügt werden kann.

Daraus resultiert auch, daß das Schwergewicht der Maßnahmen der Regierung auf der Entwicklungsperspektive der Marktökonomie beruht. Venezuela ist natürlich eine kapitalistische Drittweltökonomie, total verzerrt in ihren Produktionsstrukturen – alles dreht sich ums Öl –, total verzerrt in ihrer Diversifikation auf dem Weltmarkt, ohne eine der Zukunftstechnologien usw.

Einerseits konzentrieren sich die Bemühungen der Regierung auf Abhilfe davon, andererseits auf die Anhebung des Niveaus der Arbeitskraft und die Bekämpfung der unmittelbaren Not. Daraus erklären sich Aktivitäten wie die Alphabetisierungskampagne, die Eröffnung neuer Schulen und Universitäten, die neue Gesundheitsversorgung. Das steht also im Mittelpunkt der Politik. Parallel versucht man, sozialistisch voranzukommen, indem man erst mal anfängt, kollektiv zu denken. Chávez hat im Januar 2005 auf dem Weltsozialforum ja nicht gesagt »Wir machen den Sozialismus«, sondern er hat eingeladen, neu zu entwickeln, was der Sozialismus des 21. Jahrhunderts sein könnte. Zusammen mit dem lateinamerikanischen Machtblock nimmt das 90 Prozent der Aktivitäten und Ressourcen der Regierung in Anspruch. Die letzte große Dynamik ist die bürgerliche Konterrevolution, die von der internen Oligarchie und den reaktionären Sektoren des Weltkapitalismus gefördert wird.

F: Sie konstatieren, auf mittlere und lange Sicht bestimme die wirtschaftliche Elite eines Landes dessen politischen Kurs. Sie verfechten eine keynesianische Entwicklung. Nun ist Keynes aber angetreten, den Kapitalismus zu stabilisieren, statt ihn zu beseitigen. Daraus könnte man folgern, Sie wollten die Privatwirtschaft stärken, um dem Sozialismus den Weg zu bereiten, was paradox wäre.

Man muß sehen, welche Sektoren der Wirtschaft gestärkt werden. Wenn die Subventionen an die Großindustrie, transnationale Konzerne oder Latifundisten fließen würden, würde das natürlich das internationale Kapital und die Oligarchie stärken. Einige dieser Konzerne erhalten natürlich welche. Das ist einfach eine Frage der Macht. Chávez ist nicht in der Lage, z. B. mit den großen Ölkonzernen zu brechen. Die großen Ölkonzerne von den USA bis Rußland sind präsent, und die Ölkonzessionen sind eine Möglichkeit, den Druck der USA zu bremsen, aber das Gros der wirtschaftlichen Entwicklung muß auf die kleinen Produzenten ausgerichtet sein.

Meiner Ansicht nach kann man heute in Venezuela nur dasselbe machen wie Lenin in der Neuen Ökonomischen Politik. Jeder andere Versuch, unter den gegenwärtigen Bedingungen Schritte zum Sozialismus zu gehen, würde sehr schnell zum Kollaps des Systems führen, weil dafür keine Machtbasis existiert. Der bürgerliche Staat ist nicht zerstört, er hat nur eine andere Regierung bekommen. Die Kirche hat ihren Einfluß nicht verloren. 80 Prozent der Massenmedien sind in den Händen der regierungsfeindlichen Großkonzerne. Es gibt also keine Machtkorrelation, die eine Wiederholung dessen ermöglichen würde, was in Kuba oder in der Sowjetunion gemacht wurde.

Die Neue Ökonomische Politik muß so ausgerichtet werden, daß die sozialen Sektoren gestärkt werden, die bisher unterprivilegiert waren: die Kleinbauern, die Industriearbeiter, die Arbeitslosen, die Kleinunternehmer. Natürlich führt das nicht automatisch zum Sozialismus. Aber parallel werden die Strukturen für die Äquivalenzökonomie geschaffen. Das ist der entscheidende Unterschied: Es wird nicht erst die demokratische Revolution und dann irgendwann später die sozialistische gemacht, sondern beide Prozesse laufen parallel. Das ist die Neue Ökonomische Politik auf lateinamerikanischem Niveau: Überlebenssicherung gegenüber der Monroe-Doktrin und Einleitung der sozialistischen Entwicklung.

Wie hat man in anderen Revolutionen versucht, den Schritt zum Sozialismus zu machen? Lenin hat zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Anforderungen definiert. Zuerst war das die Elektrifizierung. Das war die Einsicht, daß die objektiven Bedingungen für den Sozialismus nicht bestanden, sondern erst geschaffen werden mußten. Dazu kam die Kollektivierung der Landwirtschaft. Die gesamte Bewegung der bäuerlichen Genossenschaften resultierte aus der politischen Notwendigkeit, das für die Zukunft der Revolution entscheidende Bevölkerungspotential unter die Kontrolle der Partei zu bringen. Das war der entscheidende Grund. Und Lenin wußte natürlich, daß die Sowjetunion mittelfristig bürgerlich enden würde, wenn man die Bauern nicht unter die ideologische Führung der Partei und der Arbeiter stellen würde.

Mao versuchte mit dem großen Sprung vorwärts das gleiche zu machen. Gegen einen »Ozean individuellen Eigentums« sollte Mitte der fünfziger Jahre endgültig ökonomisch und geistig die gemeinwirtschaftliche Ökonomie etabliert werden. Der Versuch schlug fehl und öffnete mittelfristig die Türen für die gestärkte Rückkehr der Marktökonomie.

Das ist die Situation in jeder Übergangsphase, der auch Chávez nicht entfliehen kann. Er hat eine Machtstruktur vorgefunden, die die schon erwähnten zwei Entwicklungsstrategien eröffnet, und denen kann man eine dritte angliedern: den Sozialismus. Das versucht er zu machen. Ob schließlich die sozialdemokratisch-kapitalistische oder die sozialistische Richtung das Übergewicht bekommt, wissen wir nicht. In der Sowjetunion und in China hat am Ende die bürgerliche überwogen, Das heißt, bis jetzt sind alle sozialistischen Transitionen in der zweiten Phase gescheitert. In der ersten Phase ist die Machtübernahme gelungen, aber die Konstruktion der neuen sozialistischen Institutionalität in Wirtschaft, Politik usw. hat am Ende nicht funktioniert. Und Chávez ist in dieser entscheidenden Situation. Die Machtübernahme ist weitgehend gelungen, wenn auch noch nicht so weit, wie wir es uns wünschen.

Die Frage ist, ob wir in der Aufbauphase erfolgreicher sein werden als die Sowjetunion und China, oder ob auch wir scheitern. Aber wir haben einen Vorteil gegenüber den beiden historischen Beispielen: Wir haben heute Klarheit darüber, was eine nicht-marktwirtschaftliche Ökonomie ist, und wir haben die technischen Möglichkeiten, die in den anderen beiden Beispielen nicht existierten. Deshalb würde ich sagen, daß heute zum ersten Mal die objektiven Bedingungen bestehen, diese Transitionsphase zur Umsetzung der Entscheidung für den Sozialismus zu nutzen.

Aber das Ganze muß sowieso demokratisch entschieden werden. Wenn die Leute irgendwann sagen, »Wir haben jetzt das Niveau von Costa Rica erreicht und das reicht uns, wir wollen keine sozialistischen Experimente in Venezuela«, kann man auch nichts machen. Demokratie heißt, daß die Mehrheit bestimmt. Wenn die Mehrheit mit Quasi-Erstweltverhältnissen in Venezuela zufrieden ist und nicht weitergehen will, kann Sozialismus nicht erzwungen werden.

Das Gespräch wurde am 7. November 2005 in Mexiko-Stadt geführt. Interview: Carsten Schiefer

* Heinz Dieterich ist Soziologe und Ökonom. Seit 1977 ist er Professor an der staatlichen Universität Mexiko-Stadt. Seit den 90er Jahren beschäftigt er sich mit der Schaffung eines »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, auch »Neues Historisches Projekt« genannt. Er veröffentlichte mehr als 20 Bücher in über 15 Ländern.

Das hier veröffentlichte Interview erscheint vollständig in diesen Tagen als Flugschrift 21 der Marxistischen Blätter: Heinz Dieterich im Interview. Aufbruch in Venezuela. Neue Impulse Verlag, Essen 2006, 32 Seiten, 3 Euro. Bezug: Neue Impulse Verlag, 45217 Essen, Hoffnungstr. 18, Tel.: 0201/2486482, Fax: 0201/2486484, E-Mail: NeueImpulse@aol.com

Soeben erschienen:
Heinz Dieterich: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus. Kai Homilius Verlag, Berlin 2006, 169 Seiten, 9,90 Euro

* Aus: junge Welt, 7. Januar 2006 (Wochenendbeilage)


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