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Rohstoffreichtum als Fluch

Von Karin Gabbert *

Nein, Venezuelas Wirtschaft steht nicht vor dem Kollaps, wie die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, behauptet. Die meisten makroökonomischen Daten sind gut und es gibt keine Aufstände und Hungerrevolten. Das wäre absurd in einem Land, in dem die Armut in den vergangenen Jahren rapide gesunken ist. Außerdem ist Venezuela eines der rohstoffreichsten Länder der Welt und damit jederzeit kreditwürdig. Dennoch steckt das Land in einer akuten Krise. Die Inflation wird in diesem Jahr 50 Prozent erreichen. Und der Wechselkurs zwischen Bolivar und US-Dollar beträgt offiziell 1:6,3 – auf dem Schwarzmarkt aber beläuft er sich auf fast das Zehnfache.

Dieser parallele Markt hat die Gesellschaft in Spekulanten verwandelt. Flugtickets sind bis zum Frühjahr 2014 ausverkauft. Jeder Venezolaner darf zum offiziellen Dollarpreis im Wert von 3500 Dollar pro Jahr ins Ausland reisen. Dazu muss er das Ticket bei der staatlichen Wechselkursbehörde Cadivi vorweisen. Wer kann, fliegt ins Ausland, kauft Dollars und verkauft sie in Venezuela auf dem Schwarzmarkt. Oder die Menschen vermieten ein Zimmer. Wegen der explodierenden Preise bringt das mehr ein als mancher Job. Und genau das ist das Problem: Es lohnt sich nicht zu arbeiten und zu produzieren.

Venezuela hat die Holländische Krankheit. Die Symptome sind eine überbewertete Währung durch reichlich Dollars aus den Rohstoffexporten. Dadurch werden Importe billiger und die einheimische Wirtschaft kann nicht mithalten. Die Produktion stagniert, die Geldmenge steigt und damit die Inflation. Die Wirtschaft wird immer abhängiger – in Venezuela vom Ölexport. Rohstoffreichtum verwandelt sich in einen Fluch.

Der Ölanteil an den Deviseneinnahmen ist laut venezolanischer Zentralbank seit dem Amtsantritt des verstorbenen Ex-Präsidenten Hugo Chavez 1999 von 70 auf 95 Prozent im vergangenen Jahr gestiegen. Die exportierte Menge ist zwar gesunken. Durch steigende Preise auf dem Weltmarkt haben sich die Einnahmen dennoch von zwölf Milliarden Dollar 1998 auf 88 Milliarden 2011 erhöht. Im gleichen Zeitraum sind die Einnahmen aus anderen Exporten gesunken, genauso wie der Anteil der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt.

Das ist in der 100-jährigen Ölgeschichte Venezuela nichts Neues. Doch sind in der Regierungszeit von Chávez die Einnahmen neu verteilt worden. Dadurch wurde die Konsumfähigkeit der armen Bevölkerungsmehrheit gestärkt. Diese Umverteilung passt den früher Herrschenden nicht. Die zu ihnen gehörenden Unternehmer verschärfen die wirtschaftliche Krise mit allen Mitteln, um das fortschrittliche Projekt zu torpedieren.

Extrem bereichert haben sich private Unternehmen am Importgeschäft. Der Staat stellte verbilligte Dollars zur Verfügung, verkauft wurden die Waren aber zum Schwarzmarktkurs – mit Gewinnspannen von über 2000 Prozent. Dies musste die Regierung stoppen – und sie tat es. An den Krisenursachen – der Abhängigkeit von der Ölwirtschaft – ändert sie aber nichts. Im Gegenteil: Es ist nicht einzusehen, weshalb der Preis von weniger als zwei US-Cent pro Liter Benzin aufrechterhalten wird, während alle anderen Preise steigen. Eine kleine Flasche Mineralwasser kostet hundert Mal mehr als ein Liter Sprit.

Das venezolanische Parlament hat Präsident Nicolas Maduro zur Bekämpfung der Krise kürzlich Sondervollmachten eingeräumt. Maduro kann nun per Dekret regieren. Einige bereits von Chávez erlassene Gesetze brauchten dieses Prozedere, zum Beispiel die Landreform und die Verstaatlichung der Ölindustrie. Denn sie mussten gegen massive Interessen der alten Eliten durchgesetzt werden. Andere Gesetze dagegen brauchen eine kritische Diskussion – beispielsweise der Abbau der Benzinsubventionen.

Es ist grundsätzlich bedenklich, wenn die Macht des Präsidenten gestärkt wird. Nur gehört diese Tendenz zum Modell des »Rentierstaates«, der von den Einnahmen eines Exportproduktes lebt. Venezuela ist seit 1958 ein Präsidialsystem, das dem Staatsoberhaupt immer wieder Vollmachten auf Kosten des Parlamentes verliehen hat. Fünf Präsidenten vor Chávez erließen insgesamt 172 Dekrete. Auch dies ist eher ein Charakteristikum des autoritären Ölstaates als des Chavismus.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Dezember 2013 (Kolumne)


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