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Venezuela steht heißer Herbst bevor

Gegner von Präsident Hugo Chávez scheinen auf Gewalt und Destabilisierung zu setzen

Aus Caracas berichtet Miguel Lozano (Prensa Latina/ND) *

Angesichts ihres Unvermögens, Präsident Hugo Chávez in Wahlen zu besiegen, organisiert Venezuelas Opposition immer häufiger Straßenproteste. Den Absichtserklärungen der Regierungsgegner zufolge sollen die Demonstrationen friedlich verlaufen. Dennoch scheint dem südamerikanischen Land ein heißer Herbst bevorzustehen -- gewaltsame Auseinandersetzungen eingeschlossen.

Anlass für die neuerlichen Proteste der Opposition ist das neue Bildungsgesetz, das im August von Venezuelas Nationalversammlung verabschiedet wurde. Private Bildungseinrichtungen, die politische Opposition, die von ihr kontrollierten Medien und der katholische Klerus üben seither harsche Kritik an der Verordnung.

Ein Hauptanliegen des neuen Bildungsgesetzes ist es, Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien den gleichberechtigten Zugang zum Schul- und Hochschulwesen zu garantieren. So wurden die oft kritisierten Zugangsexamina an staatlichen Bildungseinrichtungen abgeschafft. Zudem hat die Regierung Schritte ergriffen, um die überproportionale Zunahme der Zahl privater Lehreinrichtungen einzuschränken. Das Stimmgewicht von Studierenden und Professoren bei der Wahl der Hochschulräte -- bislang wog die Stimme eines Professors so viel wie die von 60 Studierenden -- wurde angeglichen. Und die Regierung behält sich künftig das Recht vor, über die Verwendung der staatlichen Mittel für die Universitäten mitzubestimmen, wodurch Chavez-Gegner die Autonomie der Hochschulen bedroht sehen.

Der bisher von der katholischen Kirche dominierte Religionsunterricht wurde mit dem neuen Gesetz aus dem obligatorischen Lehrplan genommen. Er ist an staatlichen Einrichtungen künftig zwar nicht verboten, aber es wird empfohlen, dass der Religionsunterricht außerhalb der normalen Schulzeit angeboten wird -- so wie es auch anderswo üblich ist. Es gehe darum, sagte Venezuelas Bildungsminister Héctor Navarro, den Schülern selbst zu überlassen, welche Glaubensrichtung sie praktizieren wollen. Zudem soll »die Religion« nicht länger mit dem Katholizismus gleichgesetzt werden. Kritiker sehen darin bereits die Gefahr einer »sozialistischen Indoktrination«.

Glaubt man politischen Beobachtern im Lande, geht es den Gegnern des neuen Bildungsgesetzes in Venezuela aber nicht um das Thema selbst. Radikale Gruppen der Opposition nutzten die Kontroverse vielmehr, um Aktionen zur Destabilisierung des Landes voranzutreiben. Das ist erklärlich, denn selbst nach Angaben der Meinungsforscher des privaten Institutes Datanálisis kann Chávez in der Bevölkerung mit 57,3 Prozent Unterstützung rechnen. Angesichts solcher Zustimmung wächst die Nervosität in den Reihen der Opposition. Im kommenden Jahr wird eine neue Nationalversammlung gewählt, und die Gegner der Chávez-Regierung haben weder eine einheitliche politische Plattform noch ein alternatives politisches Programm zum sozialistisch ausgerichteten Reformprojekt.

Ebensowenig können die Chávez-Gegner bisher mit einer politischen Führungsperson aufwarten, die dem Staatschef ernsthaft Konkurrenz machen könnte. Auch deswegen bezeichnete unter anderem der ehemalige Bürgermeister des Hauptstadtviertels Chacao, Leopoldo López, Straßenproteste als den einzigen Weg, der der Opposition bleibe.

Das Urteil der Regierungsseite ist angesichts dessen eindeutig: Die Antichavisten versuchten, durch gewalttätige Ausschreitungen am Rande angeblich friedlicher Proteste eine harte Reaktion der staatlichen Sicherheitskräfte zu provozieren und damit den Anlass für stärkere Empörung zu schaffen. Solche Vorkommnisse hat es im Laufe des vergangenen Monats sowohl in der Hauptstadt Caracas als auch im westlichen Bundesstaat Táchira gegeben.

Bereits rund zwei Wochen vor Beginn des Unterrichts am 16. September warnte die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) davor, dass die angekündigten Proteste offenbar die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs verhindern sollen. In Caracas beteiligten sich sogar hochrangige Funktionäre der oppositionell dominierten Oberbürgermeisterei an den Protesten. Und es gibt Berichte über die Teilnahme bewaffneter Gruppen. Nach Angaben der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) hatten elf Protestteilnehmer, die unlängst gemeinsam mit dem oppositionellen Präfekten von Caracas, Richard Blanco, festgenommen wurden, zuvor jugendliche Aktivisten der PCV angegriffen und verletzt. Die Freilassung der Inhaftierten gehörte zu den Forderungen der Demonstranten, die am vergangenen Sonnabend durch Caracas zogen.

Angesichts dieser Situation haben Regierungsvertreter einen »heißen Herbst« vorhergesagt. Eine Zuspitzung der Lage ist in der Tat nicht ausgeschlossen. Erstens, weil die Opposition auf demokratischem Weg keine Erfolge zu verzeichnen hat. Und zweitens, weil die gewaltbereiten Gruppen der Rechten zunehmend den Ton angeben. Dank eines großen Sicherheitsaufgebots kam es am vergangenen Wochenende aber nicht zu Zusammenstößen.

Übersetzung: Harald Neuber

* Aus: Neues Deutschland, 8. September 2009


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