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Venezuela: Politische Krise spitzt sich zu

Steht Chávez vor dem Sturz? Demonstrationen und Putschgerüchte in Caracas

Von Harald Neuber

Bei den Bildern, die in diesen Tagen aus Caracas kommen, werden Erinnerungen an den 11. September wach. Den 11. September 1973. Wie damals zogen Hausfrauen Töpfe schlagend durch die Straßen, Unternehmer riefen zum Protest gegen die Regierung auf, und sogar ein Teil der Gewerkschaften richtete sich gegen die sozialen Reformen von Präsident Hugo Chávez. Während der Aufmärsche der Opposition am vergangenen Mittwoch, dem 44. Jahrestag des Sturzes der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez, wurden die Organisatoren der Demonstration von der spanischen Tageszeitung El País zu den Gründen ihres Protestes befragt. »Wir wollen, daß er (Chávez) geht«, sagte der Vorsitzende der »Arbeitervereinigung«, Carlos Ortega, einer der einflußreichsten Gewerkschaften des Landes. Ein sozialdemokratischer Politiker erklärte, die Venezolaner hätten »seit 44 Jahren demokratische Erfahrung« und würden es deswegen fertigbringen, Hugo Chávez gewaltfrei zu stürzen, »ohne einen Schuß«.

Das wäre auch Washington recht. Für den Fall aber, daß Chávez nicht durch die Proteste gestürzt werden kann, scheint ein Plan B in der Schublade zu liegen – sei es in Washington oder in Caracas. Anfang November vergangenen Jahres trafen sich Vertreter der »National Security Agency« aus dem Pentagon und dem US-Außenministerium zu Beratungen über die Venezuela-Politik der Vereinigten Staaten. Solche ressortübergreifenden Treffen sind in den USA rar. Ähnliche Besprechungen gab es aber 1953, 1963 und 1973, unmittelbar vor den Militärputschen im Iran, dem Krieg in Vietnam und der faschistischen Machtübernahme in Chile. Ähnliche Treffen fanden auch vor den Putschen in Guatemala, Brasilien und Argentinien statt.

Die Beziehung zwischen Caracas und Washington sind seit dem Machtantritt von Hugo Chávez 1998 kühl, eiskalt aber seit dem 11. September 2001. Zwar sprach auch der venezolanische Staatschef sein Mitgefühl für die Opfer der Terroranschläge aus, wies aber mit Blick auf die bevorstehende Bombardierung Afghanistans darauf hin, daß Terror nicht mit Terror vergolten werden dürfe. Washington zog darauf vorübergehend seinen Botschafter aus Venezuela ab und rief besagtes Treffen ein. Der Lateinamerika-Beauftragte im US-Außenministerium, Oscar Romero, hatte Chávez zuvor beschuldigt, »Terrorismus« in Kolumbien, Bolivien und Ecuador zu unterstützen.

Als Washington von Chávez forderte, sich dem »Kampf gegen den Terrorismus« uneingeschränkt anzuschließen, war klar, daß dies nicht möglich sein wird. Zu eng sind die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, die das südamerikanische Land seit 1998 zu Kuba aufgebaut hat. Außerdem spielt Venezuela eine aktive Rolle im kolumbianischen Friedensprozeß, was Caracas von politischen Gegnern als Nähe zu der marxistischen Guerilla der FARC und ELN vorgeworfen wird.

Die Fronten sind klar. Die US-Regierung will nicht mit Chávez reden, sie will ihn vom politischen Parkett entfernen. Unterstützung erfährt sie von den Resten der Parteien und Strukturen, die das Land bis 1998 an den Rand des Ruins gebracht haben. Bisweilen wird das in der Wortwahl deutlich: »Er ist kein Chávez«, so hat ein hochrangiger Vertreter des US-Außenministeriums unlängst den neuen argentinischen Staatschef Eduardo Duhalde beschrieben.

Weshalb aber erregt die Innenpolitik Chávez’ derart die Aufmerksamkeit Washingtons? Eine Antwort liegt auf der Hand: Öl. Ein nicht unbedeutendes Vorhaben der »Bolivarianischen Revolution« ist es, die zum Teil 60 Jahre alten Verträge mit ausländischen Ölkonzernen zu novellieren. Dabei ist eine Menge Geld im Spiel, denn Venezuela hat 77 Millionen Barrel nachgewiesener Ölreserven und ist der drittwichtigste Lieferant für die USA. Die Bedeutung der venezolanischen Ölvorkommen wächst in Krisen- und Kriegszeiten, in denen den nahen Ölreserven vor den weit entfernten im Nahen Osten Priorität zugemessen wird. Und die USA befinden sich im Krieg. »Gegen den Terrorismus«, wie Präsident Bush ihn entgegen dem geltenden Völkerrecht definierte.

Für innenpolitischen Konfliktstoff in Venezuela sorgt derweil das neue Agrargesetz. »Liebe Landbesitzer«, sagte Hugo Chávez Mitte Dezember in seiner wöchentlichen Radioansprache, »halten Sie ihre Papiere bereit, denn Sie werden ab jetzt belegen müssen, daß Ihr Land Ihnen gehört«. Dem neuen Gesetz nach soll der Landbesitz begrenzt werden. Begründet wird das mit den Besitzverhältnissen: Ein Prozent der venezolanischen Bevölkerung besitzt 60 Prozent des kultivierbaren Landes. Die Präsidenten der beiden größten Agrarverbände bezeichneten das Gesetz als »marxistisch« und kündigten an, das Land »bis zum äußersten« zu verteidigen.

Die Polarisierung auf politischer Ebene in Venezuela ist offensichtlich. Nach dem Rücktritt des Innenministers Luis Miquilena wurde der Posten Mitte vergangener Woche mit dem Chávez nahestehenden Ramon Rodriguez Chacin besetzt. Rodriguez Chacin war bislang für die Kontakte zur kolumbianischen FARC-Guerilla zuständig. Nach Ansicht von US-Sicherheitsanalysten erhöht das die Chance eines Militärputsches, denn die Guerilla in Kolumbien werde in der venezolanischen Armee als Gefahr für die innere Sicherheit angesehen.

Tatsächlich aber hat das Oberkommando der Armee Ende vergangenen Jahres den durch die mehrheitlich gegen Chávez gerichtete Presse verbreiteten Putschgerüchten widersprochen. Verteidigungsminister José Vicente Rangel bekräftigte die Bedeutung eines entsprechenden Kommuniques führender Militärs: »Das Dokument belegt die Unterstützung für Präsident Chávez in der Armee.« Wer jetzt noch einen Putsch wage, sei für die Konsequenzen selbst verantwortlich, so Rangel.

Kraft ihrer Medienmacht hat die Opposition in der vergangenen Woche ausländischen Beobachtern zufolge über 100000 Menschen auf die Straße gebracht. Ihnen standen 40 000 Anhänger der »Bolivarianischen Revolution« gegenüber. Der Charakter der Proteste gegen den Präsidenten wurde in den Sprechchören deutlich: »Hau ab!«, hieß es, »Wenn dir die Diktatur gefällt, geh doch nach Kuba!« und »Nein zur kommunistischen Revolution!«.

In der politisch angespannten Situation sind die Machtverhältnisse in der Armee zwar unklar, die Erklärung des Oberkommandos hat aber der Hoffnung der Chávez-Gegner auf einen rechten Putsch einen deutlichen Dämpfer verpaßt. Anders als in Chile vor nun fast drei Jahrzehnten hat die venezolanische Armee enge Bindungen an die Bevölkerung und einen wenig elitären Charakter. Ein gewaltsamer Umsturz müßte in erster Linie von außen lanciert werden. Massiv geförderte Proteste könnten dienlich sein, solche Aktionen vor der Weltöffentlichkeit zu legitimieren.

Der Artikel erschien unter dem Titel "Chávez oder nicht Chávez?" am 28. Januar 2002 in der Zeitung "junge welt"


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