Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Mit Chávez gegen Lenin?

Debatte. Die Bolivarische Revolution in Venezuela hat viel erreicht, aber unumkehrbar ist sie auch heute noch nicht

Von André Scheer *

Basisdemokratie oder Personenkult? Auch fast zwölf Jahre nach Beginn der »Bolivarischen Revolution« in Venezuela bemüht sich die Linke hierzulande darum, das Phänomen dort und in anderen Ländern Lateinamerikas zu verstehen. Das spiegelte sich in den vergangenen Wochen auch auf diesen Seiten wider. Während Günter Pohl am 22. Juni darauf hinwies, daß die Erfolge der linken Bewegung in der Region nicht unumkehrbar und angesichts jüngster Erfolge der Rechten sogar akut gefährdet sind, betonte Helge Buttkereit am 18. August, daß die Stärke der Basisbewegungen vor allem in Venezuela ein solches »Roll Back« verhindern werde.

Europa hat vor zwanzig Jahren sehr deutlich zu spüren bekommen, daß revolutionäre Prozesse sogar nach sieben Jahrzehnten noch nicht unumkehrbar sein müssen. War es im Fall der Sowjetunion und der europäischen realsozialistischen Länder vermutlich unvermeidlich, daß sich von links bis rechts kaum jemand vorstellen konnte, wie ein solch fest erscheinendes Lager praktisch in wenigen Monaten in sich zusammenfallen konnte, überraschen im nachhinein die Illusionen, denen sich viele nach der Wahlniederlage der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN in Nicaragua am 25. Februar 1990 hingaben. So kommentierte Ralf Leonhard seinerzeit in der tageszeitung, das an die Regierung gekommene konterrevolutionäre Bündnis UNO müsse »sandinistische Prinzipien wahren«, da die »Grundprinzipien des Staatswesens« Verfassungsrang hätten: »'Das nicaraguanische Volk hat das Recht, sich zu bewaffnen, um seine Souveränität, seine Unabhängigkeit und seine revolutionären Errungenschaften zu verteidigen. Der Staat ist verpflichtet, das Volk anzuführen, zu organisieren und zu bewaffnen, um dieses Recht zu garantieren.'' Das verfügt Artikel 93 der nicaraguanischen Verfassung, mit der die künftige Rechtsregierung leben müssen wird.«[1]

Die folgenden Jahre zeigten sehr schnell, daß Gesetze und Erklärungen eine Revolution nicht gegen ein konterrevolutionäres Regime verteidigen konnten. Die FSLN zerlegte sich in Flügelkämpfen selbst, während die linken Feigenblätter der Konterrevolution wie die »Sozialistische« und die »Kommunistische Partei Nicaraguas« in der Versenkung verschwanden [2]. Um so erstaunlicher ist es, wenn zwanzig Jahre später ganz ähnliche Illusionen gepflegt werden.

»Der Opposition stünde bei einem - derzeit wenig wahrscheinlichen - Wahlsieg ein zumindest in Teilen politisch selbstbewußtes Volk gegenüber, das, und hier liegt der Hauptwiderspruch zur Position Pohls, sich derzeit in einem sozialrevolutionären Prozeß neuen Typs befindet. (...) Mittlerweile haben die Protagonisten des Prozesses eine solche Stärke erreicht, daß sie zum einen die Selbstregierung konsequent ausbauen und zum anderen den reaktionären Staatsapparat in einer Doppelherrschaft bekämpfen oder auch zersetzen können.« Das schreibt Helge Buttkereit über den bolivarischen Prozeß in Venezuela. Gab es das »zumindest in Teilen politisch selbstbewußte Volk« 1990 in Nicaragua nicht? Hatten »die Protagonisten des Prozesses« dort nicht elf Jahre zuvor sogar durch bewaffneten Kampf »den reaktionären Staatsapparat« - die Somoza-Diktatur- zerschlagen können? Sind elf Jahre Sandinistische und zwölf Jahre Bolivarische Revolution so grundsätzlich verschieden, daß sich die Entwicklung Nicaraguas nach der Wahlniederlage der Sandinisten nicht wiederholen könnte?

Bedeutung der Basis

Tatsächlich sind die Basisbewegungen in Venezuela eine entscheidende Kraft des revolutionären Prozesses. Ohne ihre spontane Mobilisierungsfähigkeit etwa gegen den Putsch vom 11. April 2002 oder gegen die Erdölsabotage an der Jahreswende 2002/03 gäbe es die venezolanische Revolution heute nicht mehr. Der Prozeß lebt von dem aktiven Einsatz von Millionen Menschen im Kleinen wie im Großen, die sich engagiert zum Beispiel in den Kommunalen Räten und unzähligen Basisgruppen engagieren. Deshalb hat Helge Buttkereit völlig recht, wenn er schreibt, daß in Venezuela »derzeit von unten nach oben Rätestrukturen aufgebaut« werden. Aber eine Baustelle ist kein Gebäude, ein Rohbau kann durch ein Unwetter ruiniert werden.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat die Bedeutung der Rätestrukturen von unten erkannt und auch schon versucht, sie in feste Formen zu gießen. Sein Projekt einer Verfassungsreform 2007 hatte genau dieses Ziel. Festgeschrieben werden sollte eine Parallelstruktur gegenüber dem traditionellen Staatsaufbau. So sah Chávez' Vorschlag vor, in Artikel 70 der Magna Charta als Organe zur Machtausübung durch das Volk unter anderem »die Räte der Volksmacht (Kommunale Räte, Arbeiterräte, Studierendenräte, Bauernräte und andere)« sowie »die demokratische Führung jedes Unternehmens in direktem oder indirektem gesellschaftlichen Eigentum durch die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen« festzuschreiben [3]. Gegenübergestellt werden sollten in Artikel 141 zwei »Kategorien der öffentlichen Verwaltung«, nämlich »die bürokratischen oder traditionellen öffentlichen Verwaltungen« und »'die Missionen', gebildet durch Organisationen verschiedener Natur«.

Diese Verfassungsreform wurde jedoch in einer Volksabstimmung knapp abgelehnt. Dafür gab es mehrere Gründe, aber der wichtigste dürfte die Verschlimmbesserung der Chávez-Initiative durch die nachfolgenden Beratungen im Parlament gewesen sein. Obwohl das bolivarische Lager durch den Wahlboykott der Oppositon 2005 über eine überwältigende Mehrheit verfügte, selbst wenn wir die zu den Regierungsgegnern übergelaufene Partei Podemos abziehen, schrieben die Abgeordneten in das Reformpaket so unsinnige und undemokratische Regelungen hinein wie eine Einschränkung der Meinungsfreiheit im Falle des Ausnahmezustands oder eine Erhöhung der geforderten Prozentquoten für Volksabstimmungen. Das und nicht etwa die Frage der Wiederwahl des Präsidenten ein Jahr später war der Grund, weshalb sich auch ein Großteil der Chávez-Unterstützer nicht für die Verfassungsreform begeistern konnte. Die Ablehnung der Verfassungsreform war kein Sieg der Opposition, die ihre Unterstützung von 4,3 Millionen Stimmen bei der Präsidentschaftswahl ein Jahr zuvor nur um 200000 Stimmen ausbauen konnte. Vielmehr war es eine Niederlage der revolutionären Bewegung: Von 7,3 Millionen Venezolanern, die 2006 für Chávez gestimmt hatten, unterstützten fast auf den Tag genau zwölf Monate später nur noch gut 4,3 Millionen Menschen die Reform - weniger, als die von Chávez gegründete Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) als Mitgliederzahl angab.

Erstarkende Opposition

In den folgenden Monaten wurde die Parole ausgegeben, daß sich gerade in der Ablehnung der Reform die Stärke der Basisbewegungen gezeigt habe, weil sie sich dem von oben vorgegebenen Kurs verweigerten. Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz. Wenn die Basisbewegungen tatsächlich die »Volksmacht« in Venezuela ausüben, wieso waren sie dann nicht in der Lage, das Verzerren von Chávez' Initiative durch die Parlamentarier zu verhindern? Und schlimmer noch: Warum ist es seither kaum gelungen, die in der Reform angestrebten Verbesserungen, für die keine Verfassungsänderung nötig wäre, im Parlament durchzusetzen - und zwar solange das revolutionäre Lager noch über die komfortable Mehrheit verfügt. Egal wie groß der Erfolg des Bündnisses aus PSUV und Kommunistischer Partei (PCV) bei der Parlamentswahl am 26. September auch sein wird, die Opposition wird künftig stärker als bisher in der Nationalversammlung vertreten sein, denn den Gefallen eines Boykotts wird sie der Revolution nicht noch einmal tun. Trotzdem haben die Abgeordneten der PSUV einen von den Kommunisten eingebrachten Entwurf für ein neues Arbeitsgesetz seit Jahren verschleppt. Die Begründungen dafür lesen sich kaum anders als die Kommentare, mit denen das Unternehmerlager hierzulande auf Gewerkschaftsforderungen reagiert. So könne eine von der PCV und den linken Gewerkschaften geforderte Arbeitszeitverkürzung - die bereits in der Verfassungsreform vorgesehen war - nicht realisiert werden bzw. müsse »ganz genau diskutiert« werden, weil die Unternehmen sie nicht finanzieren könnten. Vermutlich werden dieselben Abgeordneten, sofern sie wiedergewählt werden, künftig bedauernd darauf verweisen, daß leider die Blockadepolitik durch die Opposition eine Verabschiedung dieser auch von ihnen so sehr gewünschten Regelungen verhindert.

Ein anderes Beispiel ist die Rolle der Missionen. Diese Sozialprogramme wurden von der Regierung ab 2003 entwickelt, um auf die drängenden Mißstände in der venezolanischen Gesellschaft zu reagieren. Möglich wurde dies durch die Rückgewinnung der Kontrolle über den staatlichen Erdölkonzern PDVSA nach den Auseinandersetzungen 2002/03. Die dadurch verfügbaren Einnahmen wurden zu einem Großteil in diese sozialen Aktivitäten gesteckt, angefangen bei der äußerst erfolgreichen Alphabetisierungskampagne »Mission Robinson«, durch die sich Venezuela 2005 zum nach Kuba zweiten vom Analphabetismus befreiten Gebiet Lateinamerikas erklären konnte. Von ebenso entscheidender Bedeutung war und ist die medizinische Mission »Barrio Adentro« in ihren verschiedenen Stufen, die für kostenlose ärztliche Betreuung der Bevölkerung sorgt. Das Internetportal der venezolanischen Regierung, Gobierno en Línea, zählt derzeit 28 solcher Missionen auf, die sich um ganz unterschiedliche Bereiche kümmern [4].

Gefährdete »Missionen«

Führende Vertreter des bolivarischen Prozesses haben wiederholt die Missionen als die Keimform der direkten, partizipativen Demokratie von unten, der Volksmacht, hervorgehoben. Auch Helge Buttkereit teilt diese Hoffnung: »Schon die seit 2002 als 'Misiones' gestarteten Sozialprogramme erfordern die Organisation der Menschen vor Ort. Das Geld, das die Regierung bereitstellt, gibt es nur dann, wenn die Menschen sich zusammenschließen und die Umsetzung des jeweiligen Programms in die eigenen Hände nehmen.« Venezuelas Botschafterin in Berlin, Blancanieve Portocarrero, nannte den Einfluß der Missionen auf die Staatsgewalt bei einer Veranstaltung 2008 die »missionarische Bestimmung der öffentlichen Politik«[5]. Gemeint war damit, daß die Missionen als Apparat neben dem Apparat durch ihr Wirken das Funktionieren des traditionellen Staates verändern. Wenn wir uns jedoch heute die Realität der Missionen anschauen, bleibt für Euphorie kaum mehr Platz. In harmloseren Fällen sind manche Missionen einfach »eingeschlafen« und müssen von oben wieder in Gang gesetzt werden. So meldete das staatliche Fernsehen VTV im April 2010 den Neustart der Kulturmission »Corazón Adentro«[6] und im September 2009 informierte Radio Nacional de Venezuela über den für Oktober desselben Jahres vorgesehenen Neubeginn der Gesundheitsmission »Barrio Adentro«[7]. Gravierender aber sind die jüngsten Skandale im Bereich der Programme zur Sicherstellung der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung, Mercal und PDVAL. Anfang Juli 2010 erhob Venezuelas Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz Anklage gegen drei frühere PDVAL-Direktoren, die im Interesse privater Lebensmittelketten Nahrungsmittel zurückgehalten haben sollen, bis deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. Als Sofortmaßnahme wurde ein Ernährungsministerium gegründet, dem die Zuständigkeit für das bis dahin direkt vom Erdölkonzern PDVSA verwaltete PDVAL-Programm übertragen wurde. Dabei war PDVAL bereits als Antwort auf Unregelmäßigkeiten und Korruptionsskandale in der Mission Mercal entstanden.

Für die Probleme in diesem Bereich gibt es viele Gründe, und die venezolanische Regierung bemüht sich aktiv darum, diese Programme wieder vernünftig ins Laufen zu bekommen. In unserem Zusammenhang belegen diese Skandale jedoch, daß die Missionen in ihrer heutigen Verfaßtheit eben nicht als Beispiel dafür dienen können, daß die Basis tatsächlich die Macht in Venezuela ausübt. Oder anders formuliert: Wenn die Basisbewegungen bereits heute, unter den Bedingungen einer revolutionären Regierung, nicht in der Lage sind, Bürokratismus und Korruption zu besiegen, wie sollte dies dann unter den Bedingungen eines konterrevolutionären Regimes gelingen können? Ganz nebenbei: Selbst in den nach den Regionalwahlen 2008 an die Opposition gefallenen Bundesstaaten wie Miranda oder Carabobo ist es kaum gelungen, die revolutionären Positionen gegen Angriffe der rechten Regionalregierungen zu verteidigen. Immer wieder mußte hier die Zentralmacht mit Verordnungen und Gesetzesänderungen eingreifen. Was wäre, wenn es keine revolutionäre Zentralmacht mehr gäbe?

Der »kommunale« Staat

Die derzeitige Situation Venezuelas nach zwölf Jahren revolutionärem Prozeß liefert eben keinen Beleg dafür, daß das »leninistische Revolutionsmodell« überholt ist, das nach Ansicht von Helge Buttkereit darin besteht, daß »eine kommunistische Partei als Avantgarde den Staatsapparat übernimmt und von dort aus die Gesellschaft von oben umgestaltet«. Demgegenüber verlaufe der venezolanische Klassenkampf »zwischen Bewegung und Bürokratie in der politischen wie der ökonomischen Verwaltung«. Und Helge Buttkereit zitiert zustimmend eine venezolanische Basisaktivistin: »Es gab andere Formen des Sozialismus wie in der Sowjetunion, die vom Staat her konstruiert waren. Als dort der Staat kollabierte, wurde alles zerstört. (...) Die Erfahrungen aller Revolutionen der Vergangenheit, ob in Rußland, Kuba oder in anderen Ländern des Südens haben gezeigt, daß der bürgerliche Staat bestehen bleibt, wenn die Menschen nicht wirklich teilhaben. Solch eine Konzeption des Sozialismus ist nicht brauchbar, denn der bürgerliche Staat ist nicht der Staat des Volkes. Wir arbeiten hingegen an einem alternativen System von solidarischem Austausch.«

Bei Lenin, dessen »Revolutionsmodell« Helge Buttkereit so sehr ablehnt, wird dieses Ziel in »Staat und Revolution« (1917) etwas anders formuliert: »Wenn aber das Proletariat und die arme Bauernschaft die Staatsgewalt in ihre Hände nehmen, sich vollkommen frei in Kommunen organisieren und das Wirken aller Kommunen vereinigen, um das Kapital zu schlagen, den Widerstand der Kapitalisten zu brechen und das Privateigentum an den Eisenbahnen, Fabriken, an Grund und Boden usw. der gesamten Nation, der gesamten Gesellschaft zu übertragen - wird das etwa kein Zentralismus sein? (...) Bernstein kann es einfach nicht in den Sinn kommen, daß ein freiwilliger Zentralismus, eine freiwillige Vereinigung der Kommunen zur Nation, eine freiwillige Verschmelzung der proletarischen Kommunen zum Zweck der Zerstörung der bürgerlichen Herrschaft und der bürgerlichen Staatsmaschine möglich ist.« (LW 25, S. 443)

Gut möglich, daß Chávez seine von Helge Buttkereit zustimmend zitierte Formulierung vom »kommunalen Staat« genau aus diesem Werk Lenins übernommen hat. Jedenfalls hat Hugo Chávez am 7. Juni 2010 dieses Buch komplett zum Download auf seiner Homepage eingestellt [8]. Schon im November 2009 hat das venezolanische Ministerium der Volksmacht für Kommunikation und Information »Staat und Revolution« in Massenauflage als Broschüre veröffentlicht, im März 2010 gefolgt von Lenins »Was tun?« Mit Chávez gegen Lenin funktioniert also nicht, auch wenn Chávez' Einschätzung der sowjetischen Realitäten durchaus distanziert ist. Diese hätten sich unter Stalin zu einem »despotischen Staat«[9] entwickelt und sich ab den 60er Jahren »ganz ähnlich wie der nordamerikanische Imperialismus« verhalten.[10] Trotzdem habe das Verschwinden des realsozialistischen Lagers »ein wirklich universelles Erdbeben« verursacht, durch das auch eine »Form von Bremse gegen die imperialistische und kapitalistische Aggression der Vereinigten Staaten von Nordamerika« verschwunden sei [11].

Dritter Weg

Doch ein solches Bekenntnis zu Lenin hat Chávez nicht schon immer vor sich hergetragen, auch wenn er nach eigenem Bekunden schon früh mit marxistischer Literatur in Kontakt gekommen ist. Im Wahlkampf 1998 bekundete er noch seine Sympathien für den von Anthony Blair und William Clinton proklamierten »Dritten Weg«. Er sei für den Kapitalismus, allerdings in einer »humanistischen« Form [12]. Er proklamierte den »Baum mit drei Wurzeln« - die Ideen von Simón Bolívar, Simón Rodríguez und Ezequiel Zamora- als seine ideologische Grundlage und erteilte der kommunistischen Ideologie, »dem puren Marxismus«, eine Absage: »Wir sagen nicht, daß er zu nichts taugt. Aber wir sind davon überzeugt, daß er nicht die Ideologie ist, über die die venezolanische Zukunft gelenkt werden kann.«[13]

Das war keine Wahlkampfphrase. Eleazar Díaz Rangel, der Chef der auflagenstärksten venezolanischen Tageszeitung Últimas Noticias, hat darauf hingewiesen, daß Chávez in den ersten fünf Jahren seiner Amtszeit nicht ein einziges Mal öffentlich den »US-Imperialismus« angegriffen hatte, obwohl in diese Zeit unter anderem der Putschversuch 2002 fiel, in den Washington eindeutig verwickelt war. Trotzdem: »Kein einziger Angriff auf die Regierung Bush oder die Vereinigten Staaten vom 2. Februar 1999, als er die Präsidentschaft übernahm, bis zum 1. März 2004.«[14] Erst danach folgten am 16. Mai 2004 die Proklamation des »antiimperialistischen Charakters der Revolution« und am 30.Januar 2005 beim Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre der noch ganz vorsichtige Aufruf, man müsse über den Sozialismus diskutieren, »einen neuen Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Ein Bekenntnis zum Marxismus hat Hugo Chávez übrigens zum ersten Mal im Dezember 2009 bzw. Januar 2010 abgegeben und sich damit von seiner über mehr als ein Jahrzehnt vertretenen These verabschiedet, er sei »weder Marxist noch Antimarxist«.

Die Entwicklung von Hugo Chávez von einem Reformisten, der mit revolutionären Worten nicht mehr als einen »humanistischen Kapitalismus« erreichen wollte, hin zu einem Marxisten, der den Sozialismus aufbauen will, war ein Prozeß der ständigen Analyse und des ständigen Suchens nach Antworten auf die Herausforderungen, denen sich der bolivarische Prozeß gegenübersah. Es ist hier nicht der Platz, diesen - durchaus auch widersprüchlichen - Entwicklungsweg detailliert nachzuzeichnen. Es ist aber offenkundig, daß sich Hugo Chávez bewußt ist, daß die Bolivarische Revolution auch nach zwölf Jahren noch nicht unumkehrbar ist. Derzeit würde eine Niederlage bei einer Präsidentschaftswahl ausreichen, um den revolutionären Prozeß abzuwürgen. Noch gibt es in Venezuela eine Doppelherrschaft zwischen der revolutionären Bewegung mit Chávez an der Spitze und der mit dem US-Imperialismus verbündeten Kapitalseite. Hugo Chávez hat begriffen, daß in diesem Klassenkampf Marx und Lenin keine untauglichen »Modelle«, sondern auch heute noch sehr brauchbare Instrumente geliefert haben. Ob die venezolanische Revolution es verstehen wird, diese Instrumente auch so zu benutzen, daß sie ihr Ziel erreicht, ist die Frage, vor der sie steht. Beantwortet ist sie noch nicht.

Fußnoten
  1. taz - die tageszeitung, 6. März 1990, S. 9
  2. Die »Kommunistische Partei« PcdN entstand 1967 als Abspaltung der »Sozialistischen Partei«, weil sie den bewaffneten Kampf gegen die Somoza-Diktatur befürwortete. Heute gehört sie der sozialdemokratischen »Sozialistischen Internationale« an und hat sich mit Nicaraguas Liberalen in der »Alianza PLC« verbündet.
  3. Vgl. archiv.venezuela-aktuell.de/index.php?option=com_content&task=view&id=415&Itemid=28
  4. Vgl.www.gobiernoenlinea.ve/miscelaneas/misiones.html
  5. Vgl. www.minci.gob.ve/noticias-embajadas/1/176967/embajadora_portocarrero_destaclogros.html
  6. Vgl. www.vtv.gov.ve/noticias-culturales/34566
  7. Vgl. www.rnv.gov.ve/noticias/index.php?act=ST&f=21&t=108579
  8. www.chavez.org.ve/temas/libros/estado-revolucion-vladimir-lenin/
  9. Las Líneas de Chávez: Cruz de Mayo, Cruz de Cristo, Mai 2009; www.minci.gob.ve/las_lineas_de/82/188812/%C2%A1cruz_de_mayocruz.html
  10. Hugo Chávez: Rede vor dem Antiimperialistischen Tribunal während der XVI. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 2005; in: ders. Selección de Discursos, Caracas 2005, Bd. 7, S. 460f.
  11. Hugo Chávez: Rede zur Eröffnung der XVI. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 2005; ebenda, S. 416
  12. Agustín Blanco Muñoz: Habla el Comandante, Caracas 1998, S. 19
  13. Ebenda, S. 69
  14. Eleazar Díaz Rangel: Todo Chávez, Caracas 2006


* Aus: junge Welt, 26. August 2010


Zurück zur Venezuela-Seite

Zur Lateinamerika-Seite

Zur Seite "Politische Theorie"

Zurück zur Homepage