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Reifeprüfung für Maduro

Venezuelas Opposition erklärt Kommunalwahlen zur Volksabstimmung über den Nachfolger von Hugo Chávez

Von Tobias Lambert *

Die Opposition will aus den Kommunalwahlen am Sonntag in Venezuela ein Referendum über Präsident Nicolás Maduro machen.

Sabotage oder böses Omen? Licht aus für Venezuelas Präsident Nicolás Maduro: Kurz nachdem der Staatschef am Montagabend eine live im Radio und Fernsehen übertragene Rede begonnen hatte, fiel in Teilen des südamerikanischen Landes der Strom aus. Betroffen war auch die Hauptstadt Caracas. Bei dem Vorfall sei Sabotage im Spiel gewesen, twitterte der Präsident. »Ich fordere die Bevölkerung auf, wachsam zu bleiben.« Die Opposition plane, Lokalwahlen am kommenden Sonntag durch Sabotage der Stromversorgung zu behindern, so die sozialistische Regierung.

Eigentlich sind es nichts weiter als Kommunalwahlen. Am 8. Dezember ist die venezolanische Bevölkerung in 335 Ortschaften dazu aufgerufen, Bürgermeister und lokale Abgeordnete zu wählen. Im Präsidialsystems Venezuelas ist die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen meist niedrig und viele WählerInnen entscheiden eher aufgrund lokaler Themen als strikt entlang der Parteilinien.

Doch dieses Mal scheint es um mehr zu gehen. Oppositionsführer Henrique Capriles Radonski, der als amtierender Gouverneur des nördlichen Bundesstaates Miranda selbst nicht zur Wahl steht, versucht seit Wochen zu mobilisieren. »Um einen nationalen Wandel einzuleiten, müssen wir am Sonntag gewinnen«, rief er die Oppositionsanhänger auf einer Wahlkampfveranstaltung am Dienstag nochmals zur Wahl auf. Die im Oppositionsbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) versammelten Parteien wollen die erste landesweite Abstimmung in der Regierungszeit des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro zu einem Referendum über dessen Amtsführung machen.

Mitte April hatte Maduro die Neuwahl nach dem Tod des langjährigen Präsidenten Hugo Chávez mit gut 200 000 Stimmen Vorsprung nur überraschend knapp gegen Capriles gewonnen. Dieser erkennt das Ergebnis bis heute nicht an und wird dafür teilweise auch innerhalb des MUD kritisiert.

Maduro hingegen konnte nach der Präsidentschaftswahl zunächst Boden bei den Chavisten gutmachen. Unter dem Motto »Regierung der Straße und der Effizienz« tourte er mit seinen MinisterInnen unentwegt durch das Land und hat dabei laut offiziellen Angaben fast 2500 Projekte angestoßen.

Aber es gibt auch Unmut in den eigenen Reihen. Die chavistischen KandidatInnen wurden nicht durch Vorwahlen ermittelt, sondern von oben bestimmt. In etwa einem Fünftel der Gemeinden haben sich alternative chavistische KandidatInnen aufgestellt, denen aber in der Regel kaum Chancen zugeschrieben werden. Noch uneinheitlicher präsentiert sich jedoch der MUD. Fast in der Hälfte der Gemeinden treten einzelne Parteien des Bündnisses mit eigenen KandidatInnen an.

Zwar gilt es als wahrscheinlich, dass die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) gemeinsam mit ihrem Parteienbündnis »Großer Patriotischer Pol« wieder die deutliche Mehrheit der Ämter erringen wird. Bisher regiert die Opposition lediglich in 60 Rathäusern. Neben symbolträchtigen Bürgermeisterposten in den großen Städten hofft der MUD aber vor allem darauf, landesweit gerechnet die Mehrheit der Stimmen zu erhalten und dies als Votum gegen Maduro zu interpretieren. Derzeit erlebt Venezuela die schwerste ökonomische Krise seit dem Putsch und der Erdölsabotage 2002 und 2003. Die Inflation wird dieses Jahr bei über 50 Prozent liegen – mehr als doppelt so hoch wie 2012. Produkte des täglichen Bedarfs wie Milch oder Toilettenpapier sind oft gar nicht verfügbar und werden gehortet, sobald sie irgendwo auftauchen.

Die Unternehmensverbände verweisen auf die Preisbindung, die die Regierung vielen Produkten auferlegt hat, und auf die Schwierigkeit, US-Dollar für Importe zu erhalten. Devisenkontrollen erschweren den freien Währungshandel, auf dem Schwarzmarkt wird mittlerweile das Sieben- bis Achtfache für einen Dollar gezahlt. Die Regierung wirft den privaten Unternehmen hingegen vor, mit Wucherpreisen und gezielter Warenverknappung einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung zu entfesseln.

Um gegen Korruption und ökonomische Probleme vorzugehen, hatte Maduro Anfang Oktober Sondervollmachten beantragt, die ihm das Parlament Mitte November verlieh. Die dazu nötige Dreifünftelmehrheit war nur zu Stande gekommen, indem die chavistische Parlamentsmehrheit einer oppositionellen Abgeordneten wegen Korruptionsvorwürfen die Immunität entzog. Nun kann Maduro ein Jahr lang Dekrete über Wirtschaftsfragen erlassen. Die ersten zielen auf eine stärkere Regulierung von Preisen und des Devisenhandels ab. Maduro wirft den Industrie- und Arbeitgeberverbänden vor, gemeinsam mit der Opposition einen »Wirtschaftskrieg« angezettelt zu haben.

Die Opposition und private UnternehmerInnen kritisierten Maduros Vorgehen scharf – und machten die Sondervollmachten zum Thema des Kommunalwahlkampfes. Die regierenden Sozialisten hatten zunächst keine nationalen Themen in den Vordergrund stellen wollen, schwenkten aufgrund der Oppositionskampagne jedoch rasch um. Die wichtigste Aufgabe der eigenen KandidatInnen sei es, »die Leute in Unterstützung von Maduros wirtschaftlichen Maßnahmen und der Sondervollmachten zu mobilisieren«, sagte der Kampagnenchef der PSUV, Franciso Ameliach.

Somit werden die Kommunalwahlen am Sonntag ohne Zweifel Einfluss auf die nationale Politik haben. Ein starkes Ergebnis des Regierungsbündnisses würde Maduros Legitimität erhöhen, ein schwaches Abschneiden der Opposition Auftrieb geben. Sollte diese in der Wählergunst einigermaßen stabil bleiben, hätte sie ernsthafte Chancen, Maduro im Jahr 2016 durch ein Abwahlreferendum aus dem Präsidentenamt zu entfernen. Bereits zuvor stehen 2015 Parlamentswahlen an.

Doch auch für Henrique Capriles steht einiges auf dem Spiel. Da er als Oppositionsführer im Wahlkampf äußerst präsent ist, würde ein schlechtes Abschneiden des MUD seine Position in dem heterogenen Oppositionsbündnis schwächen. Es geht also weniger um einzelne Politiken oder Gesetze, sondern die Macht im Land. Denn laut Verfassung könnte die Opposition mit dem Rückhalt von fünf Prozent der eingeschriebenen WählerInnen tatsächlich ein Referendum über die Aufhebung von Dekreten erzwingen. Ob die WählerInnen die Kommunalwahl indes wirklich als Referendum über Maduros bisherige Amtszeit nutzen, ist fraglich. Die Öffentlichkeit wird die Ergebnisse ab Montag jedoch weitgehend als solches bewerten. Nicht nur in Venezuela.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Dezember 2013


Wohnungsnot in vielen Kommunen

Die unter Chávez gestartete Gran Misión Vivienda versucht Abhilfe zu schaffen

Von Tobias Lambert **


Ciudad Caribia in der Nähe von Caracas ist die sozialistische Modellstadt Venezuelas und eine Antwort auf den Mangel an Wohnraum. Die Unterstützung für die Regierung ist dort groß.

Gemächlich schlängelt sich der vollbesetzte Jeep den Hügel hinauf. Nur 15 Minuten Fahrtzeit trennen den dicht besiedelten, hektischen Stadtteil Catia im tiefen Westen der Hauptstadt Caracas von den Neubauten von Ciudad Caribia. Doch der Kontrast könnte kaum größer sein. Aufgeräumte Wege, von jungen Bäumen gespickte Plätze, auf Spiel- und Sportplätzen tobende Kinder. Hier, zwischen Caracas und der Küste gelegen, wächst die erste »sozialistische Stadt« Venezuelas heran. Mit dem Modellprojekt leitete der Anfang März dieses Jahres verstorbene Ex-Präsident Hugo Chávez im Jahr 2008 eine neue Ära des staatlichen Wohnungsbaus ein. Heute sind knapp 1700 Wohnungen übergeben, bis 2019 sollen in Ciudad Caribia fast 100 000 Menschen zu niedrigen Mieten leben.

Um der verbreiteten Wohnungsnot entgegenzutreten hat die bolivarianische Regierung 2011 die Gran Misión Vivienda Venezuela ins Leben gerufen, in deren Rahmen landesweit bisher mehr als 450 000 neue Wohnungen entstanden sind. Neubauten entstehen auch in Caracas selbst, die Hauptstadt ist jedoch schon jetzt äußerst dicht besiedelt.

Ciudad Caribia wird in einem Joint Venture mit Kuba gebaut, die BewohnerInnen sind in Planung und Ausführung mit einbezogen. Genau wie Catia gehört die Neubaustadt verwaltungstechnisch zum Bezirk El Libertador, der den wichtigsten Teil von Caracas umfasst. Hier steht der chavistische Bürgermeister Jorge Rodríguez zu Wiederwahl. Aus Ciudad Caribia hat er nicht viel Gegenwind zu erwarten.

Während die meisten venezolanischen Städte unter verbreiteten Problemen wie Unsicherheit, schlechter Müllentsorgung und fehlendem öffentlichen Raum leiden, wirkt Ciudad Caribia im Vergleich wie ein Idyll. Die fehlende Planung, die große Teile von Caracas charakterisiert, konnte hier von vornherein vermieden werden.

Die meisten der BewohnerInnen sind Opfer der heftigen Regenfälle von 2010 und stammen aus Armenvierteln, die teilweise unbewohnbar wurden. César, der in einer der Neubauten wohnt, blickt auf einen bereits fertig gestellten Sektor von Ciudad Caribia herab. »Es ist schön hier«, sagt der Rentner. Chávez war begeistert von der Idee der »sozialistischen Stadt«, er kam mehrfach zu Besuch. Doch Maduro sei bisher noch nicht hier gewesen, beklagt sich César und verweist damit auf eine der entscheidenden Fragen für die Zukunft der Neubaustadt. Was passiert hier, sollte diese oder eine andere Regierung eines Tages das Interesse an Ciudad Caribia verlieren?

Wenngleich Kriminalität bisher kaum vorhanden ist, gab es bereits Vorfälle mit Drogendealern. Bei einem Polizeieinsatz dieses Jahres kam es zu Tumulten, in denen die Polizei versehentlich ein 17-jähriges Mädchen erschoss. Bisher ist das jedoch ein Einzelfall, die verbreiteteren Herausforderungen sind eher alltäglicher Art. Der geplante Industriekomplex ist noch nicht fertig. Auch Einkaufsmöglichkeiten oder Kultureinrichtungen sind bisher noch rar gesät. Zum Arbeiten und Einkaufen müssen viele nach wie vor in die nahegelegene Hauptstadt fahren.

Das Beispiel Ciudad Caribia zeigt, dass viele der historisch bestehenden Probleme, wie etwa die Wohnungsnot, auf kommunaler Ebene allein gar nicht zu lösen sind. Ohne Kooperation mit der Zentralregierung würden fast nirgendwo neue Wohnungen entstehen. Ob Ciudad Caribia eine Zukunft hat wird sich hingegen vor allem vor Ort entscheiden. Indem sich die BewohnerInnen weiter organisieren und aktiv in die Stadtplanung einbringen.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Dezember 2013


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