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"Gemeinsame Stärke"

Venezuela tritt dem südamerikanischen Wirtschaftsbündnis Mercosur bei

Venezuela tritt am 9. Dezember 2005 dem Mercosur bei. Damit nimmt auch die politische Bedeutung des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses zu. Im Folgenden dokumentieren wir hierzu einen Artikel und Hintergrundinformationen sowie ein Interview mit Adán Chávez Frías, dem Bruder des Präsidenten Chávez.



Gemeinsame Stärke

Von Harald Neuber

Lange wurde der »Gemeinsame Markt des Südens« (Mercosur), gedacht als Alternative zum US-Freihandel, belächelt. Doch gut 14 Jahre nach seiner Gründung 1991 hat sich das Bündnis zu einer ernsthaften Konkurrenz für die US-Pläne einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA, span.: ALCA) entwickelt. Am Freitag nun wird mit Venezuela ein weiterer Staat dem Mercosur beitreten. Das Beitrittsabkommen soll zum Abschluß eines zweitägigen Treffens der Staats- und Regierungschefs des Wirtschaftsbundes unterzeichnet werden. Binnen weniger Jahre soll der Erdölstaat zum Vollmitglied avancieren. Verständlich, daß diese Entwicklung weltweit auf Interesse stößt: Zum Gipfeltreffen in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo haben sich Beobachter aus Mexiko, Rußland, China, der Dominikanischen Republik, Israel, Surinam, Guyana, Australien, Frankreich und Namibia angemeldet.

Zunächst als Beobachter

Vor seiner Abreise nach Montevideo bekräftigte der venezolanische Außenminister Alí Rodríguez am Dienstag die politische Bedeutung des Beitritts für sein Land: »Dieser Schritt ist für ganz Lateinamerika sinnvoll, weil wir eine gemeinsame Nation bilden mit einem gemeinsamen Territorium, einer Herkunft, einer Geschichte, einem Glauben – wir haben sogar dieselben Probleme. Deswegen sollten wir sie auch gemeinsam versuchen zu lösen.« Nach dem Beitritt wird Venezuela zunächst den Status eines Beobachters im Mercosur innehaben. In der »Kommission des Gemeinsamen Marktes«, dem Planungsgremium des Bündnisses, werden die Vertreter Caracas’ bis auf weiteres zwar Rede- aber kein Stimmrecht haben. Ähnlich wird bislang mit den assoziierten Mitgliedern Bolivien, Chile, Ecuador, Kolumbien und Peru verfahren. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe der vier Gründerstaaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay entwickelt einen Zeitplan, an dessen Ende für Venezuela die Vollmitgliedschaft steht. Auf dem Weg dahin wird sich Caracas den politischen und wirtschaftlichen Abkommen anschließen müssen. Nach Angaben des Vizebeauftragten Uruguays für den Mercosur, Nelson Fernández, könnte dieses Ziel »binnen zwei bis drei Jahren« erreicht sein.

Öl für Entwicklung

Trotz andauernder Probleme zwischen Argentinien und Brasilien haben die vier Kernstaaten des Bundes in den vergangenen Jahren mit zunehmendem Erfolg eine gemeinsame Wirtschaftspolitik entwickelt. Venezuela bringt nun mit seinem Erdöl einen wichtigen Rohstoff ein, um diese Politik zu vertiefen. Caracas macht seinerseits keinen Hehl daraus, die »Ölkarte« auch auszuspielen. Nach Energiegeschäften mit Brasilien und Argentinien wird das Gipfeltreffen in Montevideo zum Anlaß für weitere entsprechende Abkommen mit Paraguay und Uruguay dienen.

Die weitaus größere Herausforderung besteht für Venezuela in der Übernahme der Zollrichtlinien des Bündnisses. Neben der Erdölindustrie verfügt Venezuela kaum über eigene Industrie und Agrarwirtschaft. Noch immer müssen bis zu 80 Prozent der Nahrungsmittel und Konsumgüter importiert werden. Dafür wurden bislang sehr niedrige Importzölle erlassen. Die notwendige Angleichung an das höhere Mercosur-Niveau droht die Preise für viele Güter in die Höhe zu treiben. Zwar wurden in den vergangenen Jahren immer mehr Lebensmittelimporte aus den Mercosur-Staaten Argentinien und Brasilien bezogen, so daß sich ein negativer Effekt dabei kaum bemerkbar machen wird, für importierte Konsumgüter gilt das jedoch nicht. Die Opposition wird diese Entwicklung ohne Zweifel politisch ausschlachten.

Andererseits führt für Venezuela kein Weg daran vorbei, den Erdölreichtum zunehmend für den Aufbau einer eigenen Industrie und Landwirtschaft zu nutzen – die Erdölreserven werden schließlich nicht ewig halten. Eine Entwicklung von Beginn an, deren langfristiges Ziel die Selbstversorgung des Landes ist, gehört daher zu den wichtigsten Vorhaben der Regierung Chávez. Der Beitritt zum Mercosur wird dabei helfen.


Mercosur
Auch im 15. Jahr des Mercosur setzen viele Lateinamerikaner Hoffnung in den Ausbau des Staatenbundes. Wenn die Länder Südamerikas wirtschaftlich zusammenrückten, würde dies auch die internationale Rolle der Region stärken. Dieser Gedanke dominiert, seit das Bündnis im März 1991 in Asunción, der Hauptstadt Paraguays, ins Leben gerufen wurde.
Die Gründung des Mercosur war damals eine direkte Konsequenz der internationalen Neuordnung nach dem Kalten Krieg. Zum ersten Mal in der Geschichte Lateinamerikas war es gelungen, ein dauerhaft angelegtes Bündnis zu etablieren. Gut 200 Millionen Einwohner leben in den Mitgliedsstaaten des »Gemeinsamen Marktes des Südens«: Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Der Mercosur umfaßt 58 Prozent des lateinamerikanischen Territoriums. Das Bruttoinlandsprodukt beträgt umgerechnet über 700 Milliarden US-Dollar, das Exportvolumen 55 Milliarden US-Dollar. Importiert werden Waren im Wert von 45 Milliarden US-Dollar.
2003 und 2004 traten Ecuador, Kolumbien und Peru als assoziierte Mitglieder bei. Chile und Bolivien hatten diesen Schritt schon 1996, bzw. 1997 getan. Mit dem Beitritt Venezuelas wird nun wohl auch die politische Rolle des Bündnisses gestärkt werden. Während Chile und Kolumbien als assoziierte Mitglieder das Hintertürchen nach Washington offen lassen, drängen die alten und das künftige Vollmitglied auf eine klare Abgrenzung. Präsident Hugo Chávez gehört dabei zu den stärksten Verfechtern einer Alternative zum US-dominierten Freihandelskonzept ALCA. Der Grund ist einfach: Während in der Zielerklärung des Mercosur die regionale Entwicklung und wirtschaftliche Kooperation im Vordergrund steht, drängen die ALCA-Unterhändler Washingtons vor allem auf eine rasche Aufhebung der Zollschranken – zum Vorteil der US-Wirtschaft. (hneu)



"Unser politischer Prozeß setzt auf einen neuen Menschen"

Über die bolivarische Revolution, Kuba und die Beziehung zu Lateinamerika. Ein Gespräch mit Adán Chávez Frías*

F: Dreieinhalb Jahre sind seit dem Putschversuch gegen Ihre Regierung vergangen. Sind die Gefahren für die bolivarische Revolution damit gebannt?

Nein. Gerade in bezug auf die USA müssen wir auch weiterhin davon ausgehen, daß jedes Imperium treue Gefolgsleute hat. Wir wären naiv, wenn wir glaubten, der Feind sei besiegt. Ganz im Gegenteil: Gerade in diesem Augenblick entwickelt er neue Strategien, um sein Ziel schließlich doch noch zu erreichen: den politischen Prozeß in unserem Land zu unterbrechen. Die Erfahrung hat uns gelehrt, daß wir in jedem Moment auf eine mögliche ausländische Intervention vorbereitet sein müssen – wie auch immer sie sich gestaltet.

F: Bis vor kurzem waren es vor allem Fidel Castro und Hugo Chávez, die sich gegen das US-Freihandelsabkommen ALCA aussprachen. Der venezolanische Präsident hat das Modell der »Bolivarischen Alternative für Amerika« (ALBA) entwickelt. Erklären Sie uns das Konzept?

Die Bolivarische Alternative für Amerika wurde von Präsident Chávez erstmals im Dezember 2001 auf dem III. Gipfel der Karibischen Gemeinschaft (CARICOM) vorgestellt, der auf der Isla Margarita in Venezuela stattfand. Damals skizzierte er die Wege zur umfassenden Intergration zwischen Lateinamerika und der Karibik und erklärte, daß dieser Prozeß auf den Prinzipien einer gleichberechtigten Kooperation, der Solidarität und Souveränität vonstatten gehen müsse.

F: Welche konkreten Schritte sind für diesen Einigungsprozeß notwendig?

Außenpolitisch verwenden wir gerade viel Kraft darauf, neue Modelle der regionalen Integration voranzutreiben. Der Schwerpunkt liegt dabei natürlich auf Lateinamerika.

F: Mitunter wird Ihrer Regierung deswegen vorgeworfen, die bolivarische Revolution exportieren zu wollen.

Unser Interesse ist nicht der Export einer Revolution, die tatsächlich nur in unserem Land stattfindet. Die Revolution hat aber Prinzipien. Dazu gehört die Stärkung einer internationalen Politik, die auf der Verteidigung der nationalen Souveränität und der multipolaren Weltordnung beruht. Es geht der venezolanischen Regierung daher auch um eine neue Regionalpolitik, die auf die Zusammenarbeit der lateinamerikanischen und karibischen Länder setzt. Das mag banal klingen, hat aber weiterreichende Folgen, beispielsweise für die Sicherheitspolitik des amerikanischen Doppelkontinentes.

F: Können Sie uns Beispiele für diese Politik nennen?

Die Gründung der Südamerikanischen Staatengemeinschaft (CSN) im Dezember 2004 in Cusco, Peru, wirtschaftliche Kooperationsprojekte wie Petrocaribe, Petroamérica, der lateinamerikanische Nachrichtenkanal Telesur, der Internationale Humanitäre Fonds (als Gegenkonzept zum Internationalen Währungsfonds, d.Red.), der Bolivarische Volkskongreß, die Annahme einer Sozialcharter durch Teile der Organisation Amerikanischer Staaten. – All das sind Beispiele dafür, wie unsere Staaten die willkürlich gezogenen Staatsgrenzen überwinden. Uns geht es um die Schaffung einer gemeinsamen finanzpolitischen und wirtschaftlichen Struktur in Lateinamerika und der Karibik. Nach einer langen Zeit der Abhängigkeit von ausländischen Interessen können wir heute endlich sagen, daß der revolutionäre Elan der antikolonialen Befreiungsbewegung wieder auflebt. Unsere Völker sind wieder die Protagonisten ihrer Geschichte.

F: Welche Rolle kommt den USA dabei zu?

Bis jetzt haben die Vereinigten Staaten von Amerika an der historischen Monroe-Doktrin festgehalten und damit nur ihre eigene Einflußsphäre sichern wollen. Aber bevor dieses Jahrhundert zu Ende ist, werden wir sagen können: Lateinamerika den Lateinamerikanern. Darauf arbeitet die bolivarische Regierung Venezuelas hin: Auf die endgültige Befreiung Lateinamerikas und der Karibik von Fremdbestimmung.

* Adán Chávez Frías, Bruder des amtierenden Präsidenten Venezuelas, steht der Botschaft der Bolivarischen Republik in Havanna vor. Im diplomatischen Korps wird der charismatische Vertreter Venezuelas gemeinhin als »der Professor« bezeichnet, eine Anspielung auf seine ursprüngliche Tätigkeit als Physiker.

Interview: Deisy Francis Mexidor, Havanna

Alle Texte auf dieser Seite aus: junge Welt, 7. Dezember 2005


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