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Rückenwind für Hugo Chávez

Vor den Wahlen im November kommt dem Präsidenten Venezuelas der Beitritt zum Mercosur gelegen

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires *

Sechs Jahre musste Staatschef Chávez warten: Mit der Aufnahme Venezuelas erstreckt sich der südamerikanische Wirtschaftsverbund Mercosur (Gemeinsamer Markt des Südens) künftig bis an die Karibik. Der Beitritt soll beim heutigen Sondergipfel in Brasilía besiegelt werden.

»Der Mercosur hat seinen armen Bruder rausgeworfen, um den reichen Onkel reinzulassen.« So kommentierte Martín Sannemann, Sprecher des von keinem lateinamerikanischen Staat anerkannten Präsidenten Paraguays, Federico Franco, den Beitritt Venezuelas zur südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur.

Wenn Venezuelas Präsident Hugo Chávez am Dienstag in Rio de Janeiro die Beitrittsurkunde in den Händen halten wird, dann werden die rechten Senatoren in Paraguay spüren, dass sie sich mit dem politischen Putsch gegen den gewählten Präsidenten Fernando Lugo selbst geschlagen und auch die Lateinamerikapolitik der USA gehörig durcheinandergebracht haben. Paraguays Senatoren waren die letzten Garanten der US-Politik dafür, den Beitritt Venezuelas zum Mercosur zu verhindern.

Nach Ansicht des Brasilianers Samuel Pinheiro Guimarães hat der Beitritt Venezuelas gleich mehrere Konsequenzen. In einem Beitrag für das Internetportal »Carta Maior« schreibt er, der Beitritt werde verhindern, dass Chávez durch einen Staatsstreich aus dem Amt geholt werden kann. Zudem werde verhindert, dass sich die große Wirtschaftskraft und die Energiereserven Venezuelas wie schon einmal in die US-Ökonomie einbinden lassen. Damit wird der Mercosur in genau diesem Maße gestärkt und für andere südamerikanische Beitrittskandidaten attraktiv. Damit wurde auch der Strategie der USA einen Strich durch die Rechnung gemacht, über Freihandelsabkommen mit einzelnen Staaten eine Blockbildung im südlichen Amerika zu aufzuhalten.

Der Mercosur war 1991 von Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay gegründet worden. Doch die Gewichte sind höchst ungleich verteilt. Die vier Vollmitglieder und Venezuela haben 260 Millionen Einwohner und erwirtschaften ein Bruttoinlandsprodukt von rund 1,2 Billionen Dollar. Davon entfallen 70 Prozent auf Brasilien. Den Rest teilen sich Argentinien mit 16 Prozent, Venezuela mit zwölf Prozent, Uruguay mit 1,4 und Paraguay mit 0,6 Prozent.

Ohne den politischen Putsch gegen Paraguays Präsidenten Lugo würde es den Beitritt Venezuelas zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben. Zwar sind die Verhandlungen seit über sechs Jahren abgeschlossen und die Präsidenten der vier Mitgliedstaaten hatten im Jahr 2006 grünes Licht für die Aufnahme Venezuelas gegeben. Aber jeder Beitritt eines neuen Mitgliedsstaates muss von den nationalen Parlamenten gebilligt werden. Und bisher hatte noch die Zustimmung der paraguayischen Senatoren gefehlt.

Kurz nach dem Präsidentenwechsel war Paraguays neue Führung von dem routinemäßig alle halbe Jahr stattfindenden Treffen der Staatschefs des Mercosur Ende Juni ausgeladen worden. Dort beschlossen die übrigen drei Länder einstimmig, Paraguay bis zur demokratischen Wahl eines neuen Präsidenten aus allen Gremien des Mercosur zu verbannen. Danach beschlossen sie, Venezuela als Vollmitglied aufzunehmen. Zwar versicherten die Präsidenten Cristina Kirchner aus Argentinien, Dilma Rousseff aus Brasilien und José Mujica aus Uruguay, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Fakt ist aber: Der Beitritt wäre ohne die Suspendierung Paraguays und die damit nicht mehr notwendige Zustimmung seiner Senatoren rechtlich nicht möglich gewesen.

Samuel Pinheiro Guimarães war der erste Hohe Repräsentant des Mercosur. Ein Amt, das erst 2011 eingerichtet worden war. Ende Juni trat er zurück. In seinem Abschlussbericht kommt er zu dem Ergebnis, dass der Mercosur nur ein Interesse daran hat, selbst stärker zu werden. In einer in die Krise geratenen multipolaren Welt liege der Aufbau eines neuen Staatenblocks nicht im Interesse einer bereits bestehenden Großmacht. »Jeder Großmacht kommt es entgegen, Abkommen mit isolierten Staaten auszuhandeln.« Darin liege auch weiter eine Gefahr für die Wirtschaftsgemeinschaft. »Die zentrale Charakteristik des Mercosur ist seine Asymmetrie«, schreibt Guimarães über das Verhältnis des schwergewichtigen Brasiliens zu den übrigen. Dies sei die Ursache der ständigen politischen Spannungen, welche nur durch eine erhebliche Aufstockung des Strukturausgleichsfonds abgebaut werden könne.

Die Krise in Europa und den USA sowie der Aufstieg Chinas erzeugen einen enormen Kapitalfluss in den Süden, der »die wirtschaftlichen Verbindungen im Mercosur untergräbt, die die wichtigste Grundlage des Integrationsprozesses sind«, glaubt Guimarães. Deindustrialisierung sei eine der schlimmsten Konsequenzen. Ihr könne mit Hilfe von Rohstoffexporten begegnet werden. Doch dies berge die Gefahr, zu einem bloßen Rohstofflieferanten für die EU, die USA und China zu verkommen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 31. Juli 2012


Bruderbund in Brasilia

MERCOSUR nimmt Venezuela bei Gipfeltreffen als neues Vollmitglied auf

Von André Scheer **


Bei einem außerordentlichen Gipfeltreffen in Brasilia wird Venezuela am heutigen Dienstag offiziell in den Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUR) aufgenommen. Ursprünglich war der Beitritt des Landes bereits 2006 unterzeichnet worden, allerdings blockierte zuletzt noch die rechte Parlamentsmehrheit in Paraguay die Ratifizierung des Aufnahmeprotokolls. Dieses Hindernis entfiel erst im Juni, als die Mitgliedschaft Paraguays im MERCOSUR nach dem Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Fernando Lugo suspendiert wurde. Bei einem Gipfeltreffen am 29. Juni im argentinischen Mendoza vereinbarten die verbliebenen Mitgliedsstaaten Argentinien, Brasilien und Uruguay nicht nur den Ausschluß von Asunción, sondern auch den formellen Vollzug des venezolanischen Beitritts.

Es ist die erste Aufnahme eines neuen Vollmitglieds in den südamerikanischen Wirtschaftsblock seit dessen Gründung 1991. Mit dem Beitritt Venezuelas repräsentiert die Organisa­tion nahezu drei Viertel des gesamten Bruttoinlandsprodukts Südamerikas und mehr als 250 Millionen Einwohner. Zudem gewinnt der MERCOSUR mit seinem neuen Mitglied einen besonders energiereichen Partner, was für die anderen Mitgliedsländer angesichts der Weltwirtschaftskrise von spezieller Bedeutung sein dürfte. Dem Block gehören neben den Vollmitgliedern als assoziierte Staaten Chile, Ecuador, Kolumbien, Peru und Boli­vien an. Mexiko und Neuseeland gelten als Beobachter. Im Juni machte Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao bei einem Besuch in Buenos Aires zudem den Vorschlag einer Freihandelszone zwischen der Volksrepublik und dem MERCOSUR.

Bevor Gastgeberin Dilma Rousseff, ihre argentinische Amtskollegin Cristina Fernández, Uruguays Präsident José Mujica und der venezolanische Staatschef Hugo Chávez heute den Beitritt offiziell vollziehen, diskutierten Fachleute am Vortag den Zeitplan für die Integration Venezuelas in die Freihandelsbestimmungen des Marktes. So verfügen die bisherigen Mitglieder über gemeinsame Außenhandelszölle gegenüber Dritten, an die sich Venezuela in einem bestimmten Zeitraum anpassen muß. Zugleich darf das Land jedoch eine Liste von Produkten aufstellen, für die es eigene Außenzölle und Abgaben festlegt. Im Fall von Brasilien und Argentinien umfassen diese Listen rund 200 Produkte.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 31. Juli 2012


Chronik

1991: Der Mercado Común del Sur (Gemeinsamer Markt des Südens) wird durch die Unterzeichnung des Vertrages von Asunción vom 26. März aus der Taufe gehoben. Gründungsmitglieder sind Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay. Venezuela hat 2006 den Beitritt unterzeichnet, aber noch nicht vollzogen. Assoziierte Staaten sind: Chile (1996), Bolivien (1997), Peru (2003), Kolumbien (2004), Ecuador (2004).

1994: Das Protokoll von Ouro Preto über die institutionelle Struktur des Mercosur wird am 9. Dezember unterzeichnet. Der Mercosur wird zur Zollunion Es gibt nur noch gemeinsame Außenzölle.

1995: Auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel in Madrid wird ein Rahmenabkommen geschlossen, das als Vorstufe eines Freihandelsabkommens zwischen EU und Mercosur dienen soll. Die Verhandlungen sind seit 2004 an einem toten Punkt.

2007: Bei einem Treffen der Mercosur-Staaten Bolivien und Ecuador in Paraguay wird am 22. Mai die Gründung einer von IWF und Weltbank unabhängigen Bank des Südens beschlossen. Bisher ist die Gründung noch nicht vollzogen.

2012: Paraguay wird am 29. Juni wegen des »sanften« Putsches gegen Präsident Fernando Lugo suspendiert. Venezuela soll am 31. Juli als erstes Vollmitglied neben den Gründungsmitgliedern aufgenommen werden. ML




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