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Motoren laufen warm

Venezuela: Hunderttausende Menschen begleiten Hugo Chávez bei der offiziellen Anmeldung seiner Kandidatur zur Wiederwahl

Von Modaira Rubio, Caracas *

Venezuelas Staatschef Hugo Chávez hat sich am Montag (Ortszeit) offiziell beim Nationalen Wahlrat (CNE) als Kandidat für die Präsidentschaftswahl am 7. Oktober eingetragen. Bereits einen Tag zuvor hatte dies sein wichtigster Herausforderer, der für die ultrakonservative Rechte antretende Henrique Capriles Radonski getan. Damit ist der Wahlkampf, der offiziell erst am 1. Juli beginnt, in seine entscheidende Phase eingetreten.

Mit seinem Auftritt am Montag sprengte Chávez die Zweifel an seinem Gesundheitszustand. Begleitet von einer wahren »roten Flut« Hunderttausender Anhänger in Caracas suchte der Präsident die Wahlbehörde auf. Nach dem Erledigen der Formalitäten wandte er sich mit einer mehr als drei Stunden dauernden Rede an seine Unterstützer, in der er sich auch über die von Oppositionsmedien verbreiteten Prognosen über seinen bevorstehenden Tod lustigmachte und daran erinnerte, daß diese angekündigt hatten, er werde sich gar nicht mehr zur Kandidatur anmelden können. Bereits am vergangenen Sonnabend hatte Chávez auch informiert, daß er sich einem Gesundheitscheck unterzogen habe und alle Untersuchungen gut verlaufen seien. »Ich fühle mich sehr gut«, unterstrich er.

Wie es das venezolanische Wahlgesetz vorschreibt, legte der Präsident dem CNE den Entwurf seines Regierungsprogramms für die nächste Amtszeit 2013 bis 2019 vor. In seiner Ansprache rief er außerdem das ganze Volk auf, dieses Dokument zu lesen, zu analysieren und zu diskutieren, bevor es endgültig von der Nationalversammlung beschlossen werden soll. In dem Programm kündigt Chávez an, die Revolution und den Aufbau des Sozialismus zu verstärken. Als wichtigste Punkte hob er die Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit und eine Stärkung der internationalen Rolle Venezuelas hervor: »Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln auf kommunaler und bezirklicher Ebene ist lebenswichtig. Dadurch machen wir das Land zu einer echten sozialen und Wirtschaftsmacht.« Zudem müsse Venezuela zur Rettung des Planeten beitragen.

In seiner Ansprache begrüßte Chávez weiter die Parteien, die sich im Wahlbündnis Großer Patriotischer Pol (GPP) zusammengeschlossen haben, darunter seine eigene Vereinte Sozialistische Partei (PSUV), die KP Venezuelas (PCV), die Revolutionäre Bewegung Tupamaro und andere. Ausdrücklich hob er die Rückkehr der sozialdemokratischen Podemos in das Lager seiner Unterstützer hervor, nachdem der Oberste Gerichtshof vor einigen Tagen entschieden hatte, dem vom Vizegeneralsekretär Didalco Bolívar repräsentierten linken Flügel der gespaltenen Partei den Anspruch auf die Nutzung des Symbols und des Namens bei den Wahlen zuzusprechen. Während Bolívar umgehend den Austritt seiner Partei aus der Sozialistischen Internationale ankündigte, will die rechte Minderheit um den bisherigen Parteichef Ismael García weiter den Oppositionskandidaten Capriles Radonski unterstützen.

Der Präsident warnte erneut vor Plänen der extremen Rechten, die auf einen Sturz der Bolivarischen Revolution »im Stil Libyens oder Syriens« setzen. Die Streitkräfte und das Volk seien jedoch bereit, »jede innere oder äußere Bedrohung der Stabilität des Landes zu bekämpfen«, warnte Chávez. Ein Abenteuer wie der Putsch vom April 2002 würden diese Kräfte »für immer bereuen«. Zugleich hob er hervor, daß die Kandidatur Capriles’ den demokratischen Charakter Venezuelas beweise. Er rief seinen Kontrahenten auf, ebenfalls den Wahlrat CNE zu respektieren: »Ich jedenfalls werde der erste sein, der auf nationaler wie internationaler Ebene die Ergebnisse anerkennen wird, die er bekanntgibt.«

In allen Wahlumfragen führt Chávez bislang mit einem Vorsprung von 15 bis 30 Prozentpunkten vor Capriles. »Aber wir lassen erst die Motoren warmlaufen«, unterstrich er mit Blick auf den offiziellen Wahlkampfbeginn am 1. Juli.

Die Abstimmung am 7. Oktober wird von mehr als 200 internationalen Beobachtern kontrolliert, darunter Vertreter des Carter-Zentrums, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR).

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 13. Juni 2012


"Den Übergang zum Sozialismus unumkehrbar machen"

Venezuelas Präsident Hugo Chávez legte am Montag dem Nationalen Wahlrat (CNE) den Entwurf seines Regierungsprogramms für 2013-2019 vor. Wir übernehmen Auszüge aus der Einleitung des 40seitigen Papiers aus der "jungen Welt".

Dies ist ein Programm des Übergangs zum Sozialismus und der Radikalisierung der partizipativen und protagonistischen Demokratie. Wir gehen von dem Prinzip aus, daß die Beschleunigung des Übergangs notwendig über die, verzeiht die Redundanz, Beschleunigung des Prozesses der Übertragung der Macht an das Volk führt. Die lebendige, effektive und umfassende Ausübung der Volksmacht ist unersetzbare Bedingung für die Schaffung des bolivarischen Sozialismus des XXI. Jahrhunderts.

Machen wir uns nichts vor: die sozioökonomische Form, die in Venezuela noch vorherrscht, ist kapitalistischen und rentenökonomischen Charakters. Der Sozialismus hat sicherlich erst begonnen, seine eigene innere Dynamik unter uns durchzusetzen. Dies ist ein Programm, um diesen Prozeß zu stärken und zu vertiefen, in Richtung auf eine radikale Unterdrückung der Logik des Kapitals, die beim Vorangehen zum Sozialismus Schritt für Schritt, aber ohne den Rhythmus zu verlangsamen, erfüllt werden muß.

Um zum Sozialismus voranzuschreiten, brauchen wir eine Volksmacht, die in der Lage ist, die Mechanismen der Unterdrückung, Ausbeutung und Herrschaft, die in der venezolanischen Gesellschaft noch fortdauern, aufzulösen, und im täglichen Leben eine neue Gesellschaft zu gestalten, in der Brüderlichkeit und Solidarität einhergehen mit einer neuen Art und Weise der Planung und Produktion des materiellen Lebens unseres Volkes. Dies verläuft über die vollständige Zerschlagung der geerbten bourgeoisen Staatsform, die sich noch in ihren alten, unheilbringenden Praktiken reproduziert, und über die fortgesetzte Erzeugung neuer Formen politischer Amtsführung.

Welches ist das Umfeld in Unserem Amerika und weltweit, in dem wir einem alternativen sozialistischen Modell Leben einhauchen? Es ist klar, daß Unser Amerika einen Epochenwandel erlebt, der – es ist angebracht, darauf hinzuweisen – mit dem Machtantritt der Bolivarischen Revolution begann: ein Epochenwandel, der sich durch eine reale und wirkliche Veränderung der Machtbeziehungen zugunsten der großen Mehrheiten ausdrückt. Es ist auch klar, daß das kapitalistische Weltsystem eine Strukturkrise erlebt, die zu einer finalen Krise werden könnte: einer Krise, die uns wegen ihres katastrophalen Umfangs politisch zwingt, jeden Tag aufzuklären und vorauszusehen, um ihre Auswirkungen auf Venezuela zu minimieren. Aber es gibt ein ermutigendes Zeichen, das ich hervorheben möchte: Ein internationales multipolares System, das sich an dem großen Prinzip Bolívars orientiert, zum Gleichgewicht des Universums beizutragen, hat begonnen, seine Wurzeln zu schlagen.

Dies ist ein Programm, das sich bemüht, den »Point of no return« zu überschreiten. Um es mit Antonio Gramsci zu sagen: Das Alte muß endgültig sterben, damit das Neue in seiner ganzen Größe geboren werden kann.

Die Kohärenz dieses Regierungsprogramms stützt sich auf ein entscheidendes Diktum: Wir sind verpflichtet, den Übergang zum Sozialismus unumkehrbar zu machen. Uns neu zu begründen, wie es unsere Magna Charta verlangt, ist eine Notwendigkeit, die keinerlei Verzögerung erlaubt, denn ohne dieses lebenswichtige Fundament würden wir die Gelegenheit verpassen, diese uns bevorstehende historische Heldentat des Volkes abzuschließen, für die wir uns ethisch verantwortlich fühlen. Die Festigung der Bolivarischen und Sozialistischen Fünften Republik ist die schönste und leuchtendste Herausforderung in zwei Jahrhunderten des Kampfes und der Opfer.

Dieses Vaterland aufzubauen, damit du, Venezolanerin und Venezolaner, in Gerechtigkeit und Würde gut leben kannst, ist es, was mich zum Kampf anspornt. Ich schlage euch vor, daß wir weiterkämpfen für »das feierliche Wecken einer neuen Welt«, wie es unser Sänger Alí Primera sagte, für ein unabhängiges und sozialistisches Heimatland, in dem wir beseelt von den höchsten Werten des Humanismus leben können. Darin setze ich, mein geliebtes Volk, mein ganzes venezolanisches Herz ein.

Unabhängigkeit und sozialistisches Vaterland!

Wir werden leben und wir werden siegen!

[Übersetzung: André Scheer] jW, 13.06.2012




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