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"Wir" und "sie"

Venezuela: In Caracas hat das neue Parlament seine Arbeit aufgenommen

Von Harald Neuber*

Am heutigen Freitag nimmt die neugewählte Nationalversammlung in Venezuela ihre Arbeit auf – und für die Opposition ist die Sache klar. Das Land werde fortan von einem »Ein-Parteien-Parlament« beherrscht. Tatsächlich entfallen die 167 Sitze der Nationalversammlung entweder auf die Regierungspartei Bewegung Fünfte Republik (MVR) oder auf eine der ihr verbündeten Gruppierungen. Die Oppositionsparteien hatten sich kurz vor dem Wahlgang am 4. Dezember in Anbetracht der schlechten Umfragewerte überraschend zurückgezogen. Die Wahlbeteiligung war daraufhin auf 25 Prozent eingebrochen. Nach dem Boykott versuchen sie nun von außen, die Legitimität von Parlament und staatlichen Institutionen generell in Abrede zu stellen.

An der Spitze dieses Vorhabens steht die US-finanzierte Gruppe Súmate. Mit Blick auf die Präsidentschaftswahl im Dezember forderten deren Sprecher Maria Machado und Alejandro Paz seit dem 4. Dezember wiederholt die Erneuerung des Nationalen Wahlrates. Dieser, so ihr Vorwurf, werde wie auch das Parlament von der Regierung kontrolliert. »Wir venezolanischen Bürger fordern die Neubesetzung des Wahlrates durch Mitglieder, die mit dem Rückhalt der gesamten Bevölkerung rechnen können«, heißt es in einer Súmate-Erklärung, die im Dezember von der ebenfalls oppositionellen Tageszeitung El Universal verbreitet wurde. Der Wahlrat, der in Venezuela den Status einer zusätzlichen Staatsgewalt innehat, habe sich seit geraumer Zeit »allen Empfehlungen internationaler Beobachter« widersetzt. Wie auch das »Ein-Parteien-Parlament« habe er jegliche Legitimität verloren, erklärte Súmate-Sprecherin Machado. Dem entgegen steht das Urteil der Beobachtergruppe, die von der Europäischen Union zu den Wahlen Anfang Dezember entsandt worden war. Deren Leiter, der portugiesische Christdemokrat José Albino Silva, hatte abschließend erklärt: »Nach unserem Urteil war die notwendige Transparenz bei diesen Wahlen gegeben«.

Abgeordnete des neuen Parlamentes wehren sich daher gegen die Angriffe der Opposition. Nach Ansicht des MVR-Abgeordneten Willian Lara ist in der Nationalversammlung durchaus »eine breite Debatte« zu erwarten. Zwischen den vertretenen Parteien geben es zwar »keinen Widerstand gegen den Prozeß des Wandels« an sich, doch seien unterschiedliche Positionen zu erkennen. Ähnlich äußerte sich der Abgeordnete Miguel González von der Gruppe »Vereinigung der Wahlsieger«, die mit sieben Sitzen im Parlament vertreten ist. Innerhalb der »Revolution«, sagt González, »gibt es viele Denkrichtungen von links bis rechts«. Die zu erwartende Diskussion sei daher positiv zu bewerten. Daß diese Haltung zu euphemistisch sein könnte, zeigte sich in den Tagen vor der konstituierenden Sitzung des Parlamentes bei den Verhandlungen um das Präsidium.

Den Vorsitz des Leitungsgremiums hat weiterhin der MVR-Mann Nicolás Maduro inne. Auf den zweiten und dritten Platz kamen Desirée Santos Amaral (MVR) und Roberto Hernández von der Kommunistischen Partei Venezuelas. Protest gab es dagegen von den sozialdemokratischen Parteien PPT und PODEMOS. Daß sie am Ende außen vor blieben, mag der politischen Ausrichtung geschuldet sein. Der Generalsekretär der PPT, Rafael Uzcátegui, hatte unlängst erklärt, der zentrale Fehler der Opposition sei es gewesen, das Land in zwei Gruppen zu spalten. Seine Partei werde nun dafür sorgen, daß auch oppositionelle Meinungen wieder im Parlament diskutiert würden.

* Aus: junge Welt, 6. Januar 2006


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