Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Hugo Chávez

Von Ignacio Ramonet *

Wenige Regierende auf der Welt sind heute so sehr Zielscheibe hasserfüllter Meinungshetze wie Hugo Chávez, der Präsident von Venezuela. Seine Feinde schrecken vor nichts zurück, ob Staatsstreich, Ölförderstreik, Kapitalflucht oder Attentat. Seit den Angriffen Washingtons auf Fidel Castro hat es in Lateinamerika keinen derart verbissenen Kampf mehr gegen ein Staatsoberhaupt gegeben.

Seit Jahren werden Verleumdungen gegen Chávez in Umlauf gebracht. Sie entstehen in Propagandaküchen wie dem National Endowment for Democracy, dem Freedom House und anderen, von der Regierung des US-Präsidenten George W. Bush finanzierten Institutionen. Diese Maschinerie des Rufmordes verfügt über nahezu unbeschränkte Mittel zur Manipulation der Nachrichtensysteme – angefangen bei angesehenen überregionalen Zeitungen und bis hin zu einigen Menschenrechtsorganisationen, die sich für solche Zwecke einspannen lassen. In welch schlechter Verfassung der Sozialismus heute ist, erkennt man daran, dass auch Teile der sozialdemokratischen Linken in den Chor der Verleumder einstimmen.

Warum dieser grosse Hass? Während sich die europäische Sozialdemokratie in einer tiefen Identitätskrise befindet, ist Hugo Chávez durch historische Umstände offenbar eine führende Rolle bei der weltweiten Neugründung der Linken zugefallen. Auf dem alten Kontinent hat das Zusammenwachsen Europas bewirkt, dass Alternativen zum Neoliberalismus heute kaum noch denkbar, geschweige denn umsetzbar sind. Dagegen gibt es in Brasilien, Argentinien, Bolivien und Ecuador immer mehr Experimente, die dem venezolanischen Beispiel folgen und deren Erfahrungen der Hoffnung auf eine Emanzipation der armen Bevölkerung dieser Länder Nahrung geben.

In dieser Hinsicht ist die Bilanz von Hugo Chávez in der Tat aussergewöhnlich und erklärt auch, warum er in Dutzenden Länder zu einer festen Bezugsgrösse geworden ist. Unter gewissenhafter Beachtung demokratischer Prinzipien und Freiheiten (1) hat er sein Land auf eine neue politische Grundlage gestellt und eine Verfassung geschaffen, mit der auch die breite Masse am Wohlstand teilhaben kann. Er hat rund fünf Millionen Ausgegrenzte in die Gesellschaft integriert, darunter viele Indigene, die bisher nicht einmal ihre Staatsbürgerschaft nachweisen konnten. Chávez hat die Kontrolle über die staatliche Aktiengesellschaft Petroleos de Venezuela SA zurückgewonnen, sowie das wichtigste Telekommunikationsunternehmen CANTV, den Stromversorger Electricidad de Caracas und die Ölfelder im Orinoco-Becken verstaatlicht. Er hat auch einen Teil der Öleinnahmen dafür verwendet, seinem Land mehr Unabhängigkeit gegenüber den internationalen Finanzinstitutionen zu verschaffen – und mit einem anderen Teil umfangreiche Sozialreformen finanziert.

Mehr als drei Millionen Hektar Ackerland wurde unter den Bauern verteilt. Millionen Erwachsene und Kinder haben Lesen und Schreiben gelernt. Tausende Apotheken wurden in den armen Stadtvierteln eröffnet. Zehntausende Arme mit Augenkrankheiten wurden gratis behandelt und operiert. Grundnahrungsmittel werden subventioniert und an die Armen um Preise verkauft, die deutlich unter dem Marktniveau liegen. Die wöchentliche Arbeitszeit ist von 44 Stunden auf 36 Stunden gesunken, und der Mindestlohn liegt mit umgerechnet rund 320 Franken im Monat heute als einer der höchsten in ganz Lateinamerika knapp hinter dem von Costa Rica.

Als Folge dieser Massnahmen ist die Armutsrate in Venezuela zwischen 1999 und 2005 von 42,8 Prozent auf 33,9 Prozent gesunken (2). Der Anteil der Bevölkerung, die von der Schattenwirtschaft lebt, sank ebenfalls von 53 Prozent auf 40 Prozent. Der Rückgang der Armut hat ein Wirtschaftswachstum gestützt, das in den letzten drei Jahren durchschnittlich 12 Prozent betrug, eine der höchsten Raten der Welt. Sie verdankt sich unter anderem einem heimischen Konsum, der jährlich um bis zu 18 Prozent zulegte (3).

Angesichts dieser Ergebnisse und einiger aussenpolitischer Erfolge ist es deshalb kaum verwunderlich, dass die Herrschenden dieser Welt Präsident Hugo Chávez auf ihre Abschussliste gesetzt haben.

Anmerkungen
  1. So wurde das Lügengeflecht rund um die Nichterneuerung der Konzession für Radio Caracas Television (RCTV) widerlegt, nachdem der Sender am 16. Juli seinen Betrieb über Kabel und Satellit wieder aufgenommen hat.
  2. «Poverty Rates in Venezuela. Getting the Numbers Right», Center for Economic an Policy Research, Washington, D.C., Mai 2006.
  3. Business Week, Dossier «Chávez, not so bad for business», New York, 21. Juni 2007 Übersetzung: Herwig Engelmann

    * Aus: Le Monde diplomatique, August 2007; Beilage in der Schweizer Wochenzeitung WOZ


    Dieser Beitrag des Chefredakteurs von "Le Monde diplomatique" erschien auf Französisch, Englisch, Esperanto, Farsi und Portugiesisch, allerdings nicht in der in Berlin erscheinenden monatlichen Beilage der Tageszeitung taz. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass die Auswahl der Artikel in der deutschen Ausgabe von der anderssprachiger Ausgaben abweicht. Z.B. sind einige Fälle erinnerlich, wo israelkritische Beiträge nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Ungewöhnlich ist es aber, wenn auf einen Leitartikel des Chefredakteurs verzichtet wird. Ob das daran liegt, dass sich Ramonet zu eindeutig auf die Seite des venezolanischen Präsidenten Chávez schlägt, während die taz keine Gelegenheit auslässt, dem "Linkspopulisten" aus Caracas etwas am Zeug zu flicken, kann nur gemutmaßt werden. Wenn es so wäre, zeugte es aber von geringer Souveränität und Toleranz eines angeblich immer noch etwas "alternativen" Blattes.

    Die taz hat aber eine nicht von der Hand zu weisende andere Erklärung. Im Editorial zur deutschen Ausgabe schrieb sie:
    "In der deutschen August-Printausgabe von Le Monde diplomatique ist das Editorial von Ignacio Ramonet über Hugo Chavez nicht erschienen, weil es damit ein Aktualitätsproblem gab: Vor dem Erscheinen der deutschen Ausgabe, aber nachdem Ramonet sein Editorial geschrieben hatte, wurden die jüngsten Verfassungsänderungen in Venezuela breit debattiert. Auf diese geht Ramonet gar nicht ein - was in unseren Augen unerlässlich gewesen wäre. Wir wollen als deutsche Ausgabe einer linken Monatszeitung die in Venezuela erzielten sozialen Fortschritte wahrlich nicht unter den Teppich kehren (und planen für unsere Septemberausgabe einen ausführlichen Beitrag zu dem Thema)."

    Nun, der besagte Artikel von Ramonet erschien in der Schweizerischen Ausgabe von "Le Monde diplomatique" - auf Deutsch, nämlich in der Schweizer Wochenzeitung "WOZ".



    Zurück zur Venezuela-Seite

    Zurück zur Homepage