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"Die venezolanische Revolution ist im Volk verankert"

Der französische Publizist Ignacio Ramonet über Hugo Chávez, die Bolivarianische Revolution und die Opposition *




Das Interview im Livestream: weltnetz.tv [Externer Link]




Harald Neuber: Ignacio Ramonet, ein Teil der venezolanischen Opposition erkennt die Legalität der Regierung in Venezuela nicht mehr an. Wie kann es nun also ohne Präsident Hugo Chávez weitergehen?

Ignacio Ramonet: Abgesehen von der Meinung einiger eher ideologisch geleiteter Oppositioneller ist die Lage völlig legal. Der Artikel 231 der Verfassung erlaubt es dem Präsidenten in Fall seiner Abwesenheit nach dem 10. Januar vor dem Obersten Gerichtshof seinen Amtseid im Rahmen einer bestimmten Zeitspanne abzulegen. Das ist alles gemäß der Verfassung. Nun hat die neue Regierung die Geschäfte aufgenommen, eine neue Legislaturperiode hat begonnen, weswegen es keine Probleme mit der Legalität gibt.

Was ist also das Problem hier? Das Problem ist, dass sich der Präsident noch immer nicht voll erholt hat. Aber es gibt in der Regierung eine Kontinuität, weil es nicht um eine Wahl, sondern eine Wiederwahl geht. Es gibt eine funktionierende Verwaltung, eine Regierung, es gibt mit dem Vizepräsidenten einen Regierungschef. Deswegen gibt es in Venezuela in keinster Weise ein Machtvakuum.

Harald Neuber: Ignacio, dennoch beeinträchtigt der Zustand des Präsidenten doch die politische Lage.

Ignacio Ramonet: Klar, er beeinträchtigt die Lage, weil wir nicht wissen, in welchem Zeitraum er sich erholen wird. Wenn es zu lange dauert, dann muss laut Verfassung über Wahlen nachgedacht werden. In diesem Fall hat der Präsident selbst gesagt, dass er sich Vizepräsident Nicolás Maduro als Kandidat der Vereinten Sozialistischen Partei wünscht. Wenn es also zu Wahlen käme, dann wäre Nicolás Maduro der Kandidat der Bolivarianischen Revolution.

Ich persönlich glaube, dass es gute Chancen gibt, dass er dann gewinnt. Da gibt es wenig Zweifel, denn es liegen mehrere Wahlsiege der Regierung hinter uns. Bei den Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober, bei den Regionalwahlen am 16. Dezember. Und die Opposition hat weder Argumente noch ein Programm, um die venezolanische Gesellschaft zu überzeugen.

Harald Neuber: Tatsächlich fordern einige Oppositionelle Neuwahlen, andere nicht. Wie ist die Lage der Regierungsgegner?

Ignacio Ramonet: Das Oppositionsbündnis MUD ist eine Allianz aus 19 Parteien und Organisationen. Es ist ein Bündnis, das derzeit noch nicht über einen gemeinsamen Kandidaten entschieden hat. Der Kandidat der Präsidentschaftswahlen, Henrique Capriles, ist nicht automatisch auch der nächste Kandidat.

So gesehen ist die Opposition derzeit nicht politisch organisiert, um sich neuen Wahlen zu stellen. Und tatsächlich fordert die Opposition Neuwahlen nicht gerade mit besonderem Nachdruck. Einige treten mit dieser Forderung auf, die Mehrheit aber nicht. Auch auf internationaler Ebene halten sich die gewohnten Gegner der venezolanischen Regierung, vor allem die Medien, sehr zurück. Denn auch sie wissen, dass es für die Opposition kein guter Moment für Neuwahlen wäre.

Harald Neuber: Ignacio, würden Sie sagen, dass der politische Prozess in Venezuela an der Figur Chávez hängt?

Ignacio Ramonet: Nein. Ich denke, dass Hugo Chávez viel politische Kreativität, viel Schaffensdrang und eine Vision hat. Das macht die Einmaligkeit der venezolanischen Erfahrung aus. Und das ist schwer zu ersetzen. Aber die venezolanische Revolution ist heute eine Forderung der Mehrheit der Gesellschaft. Die Bolivarianische Revolution ist in der Gesellschaft verankert. Deswegen wird sie sich fortsetzen. Ob Hugo Chávez Präsident bleibt oder nicht, wird die nächste Stufe der Revolution nicht beeinträchtigen. Wenn der Präsident zurückkehrt und den Prozess unterstützt, auch wenn er ihn nicht mehr leiten kann, dann wäre das immer noch ein wichtiger Beitrag.

Harald Neuber: Meine letzte Frage: Am 10. Januar gab es in Caracas und in anderen Städten des Landes große Demonstrationen des Regierungslagers, auch andere Präsidenten Lateinamerikas und der Karibik waren dabei. Wird die Zukunft der Bolivarianischen Revolution auf der Straße entschieden?

Ignacio Ramonet: Nun, sie wird in erster Linie an den Wahlurnen entschieden. Schließlich gab es gerade zwei wirklich wichtige Wahlen: die Präsidentschaftswahl am 7. Oktober und die Gouverneurswahl am 16. Dezember. In beiden Fällen hat die Bolivarianische Revolution klar gesiegt, in beiden Fällen demokratisch und unter den Augen internationaler Wahlbeobachter.

Aber die Menschen auf der Straße haben in den vergangenen Wochen die Haltung des Obersten Gerichtshofes unterstützt. Demnach müssen keine sofortigen Neuwahlen anberaumt werden, weil der amtierende und wiedergewählte Präsident am 10. Januar zur Vereidigung nicht anwesend war. Es ist vor diesem Hintergrund wichtig zu sehen, dass es eine breite Unterstützung des Prozesses nicht nur durch die Bevölkerung gibt, sondern auch durch viele lateinamerikanische Präsidenten. Ich denke, dass in ganz Südamerika verstanden wird, dass die Bolivarianische Revolution viel Positives zur Einheit, Integration, Unabhängigkeit und Souveränität des ganzen Kontinents beigetragen hat. Und davon hat der gesamte Kontinent profitiert.

Harald Neuber: Ignacio Ramonet, vielen Dank für das Interview.

Ignacio Ramonet: Vielen Dank.

28.01.2013

Das Interview können Sie im spanischen Original per Livestream auf weltnetz-tv sehen und hören: weltnetz.tv [Externer Link]


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