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"Basis konnte nicht mobilisiert werden"

Wie weiter nach dem Scheitern der Verfassungsreform in Venezuela? Ein Gespräch mit Dario Azzellini, Caracas *



Woran ist das Regierungslager beim Referendum über eine Reform der Verfassung in Venezuela am Sonntag (2. Dez.) gescheitert?

Weil die eigene Basis nicht mobilisiert und überzeugt werden konnte. Vergleichen wir das Ergebnis mit den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2006, dann stellen wir fest, daß die Opposition nur etwa 200000 Stimmen hinzugewonnen hat. Die bolivarischen Kräfte haben indes fast drei Millionen Stimmen verloren. Diese Leute haben aber nicht gegen die politische Option der Regierung gestimmt, sondern sind nicht zur Wahl gegangen, weil sie von dem Reformprojekt nicht überzeugt waren.

Welche Konsequenzen wird das haben?

Einige Punkte der Reform – wie etwa die territoriale Neugliederung – können nicht durchgeführt werden. Andere schon, dazu zählen viele der sozialen Maßnahmen. Allerdings könnte die Rechte nunmehr gestärkt werden. Sie kann darauf verweisen, daß das sozialistische Projekt abgelehnt wurde. Zudem besteht nach einer solchen Niederlage die Tendenz, die Reihen »fester zu schließen«. Möglich ist aber auch, daß die Linke gestärkt wird. Dafür müßte sich die Erkenntnis durchsetzen, daß mehr Partizi­pation, eine stärkere Einbeziehung der Basis, eine breitere Debattenkultur und tiefergehende Veränderungen nötig sind, die zudem gleich beginnen und spürbar werden. Chávez’ Aussagen in der Wahlnacht deuten auf letztere Entwicklung hin. Eine weitere Konsequenz wäre, die Fehler zu analysieren und zu beheben. Wenn die neue Vereinte Sozialistische Partei (PSUV) fünf Millionen Mitglieder hat – warum hat das Reformprojekt nur vier Millionen Stimmen bekommen? Was ist mit der Korruption? Und der Ineffizienz vieler Institutionen? Solche Fragen stehen jetzt auf der Agenda.

Was bedeutet es, wenn Chávez nun 2012 nicht mehr kandidieren darf? Rächt sich die Fixierung auf eine Führungspersönlichkeit?

Ich denke nicht, daß das seine Absicht war. Im Gegenteil: Chávez hat immer wieder betont, daß er eine solche Orientierung auf eine Führungsperson ablehnt. Die Idee, mehrere Kandidaturen zu ermöglichen, wurde von der Basisbewegung erhoben, weil sie niemandem anders als dem Präsidenten vertraut. Eine Konsequenz ist nun, daß personelle Alternativen gesucht und die Strukturen »entpersonalisiert« werden müssen. Für die Bewegung ist das auf mittlere und lange Sicht von Vorteil, selbst wenn es kurzfristig zu Machtkämpfen führen kann.

Könnte der ehemalige Verteidigungsminister Raúl Baduel eine Alternative sein?

Eine Alternative in einem sozialistischen Prozeß sicher nicht. Bei seiner Abschiedsrede als Verteidigungsminister bezog sich seine Hauptkritik darauf, daß der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« nicht genau definiert sei. Heutzutage eine genaue Definition zu verlangen, scheint mir absurd und gefährlicher als alles andere. Der Ausstieg Baduels aus dem Chavismus wurde von der Opposition begrüßt, die ihn dennoch nicht aufnahm. Der Ausgang des Referendums hat die Karten allerdings neu gemischt. Das gemäßigte Oppositionslager wurde gestärkt, ihm paßt Baduel gut als Führungsfigur.

Ist die Niederlage trotzdem auch eine Chance?

Eine Chance und eine Gefahr. Chávez hat den Reformvorstoß ja nicht gemacht, um zu verlieren. Aber die Niederlage bedeutet nicht das Ende der Bewegung oder des Projekts. Eine Reflexion darüber, was anders laufen muß, die Erkenntnis, daß nicht alles einfach automatisch von der Bevölkerung durchgewunken wird, sind Faktoren, die zu einer Stärkung führen können.

Die große Unbekannte bleiben die Basisbewegungen als Träger des politischen Prozesses. Wie haben sie reagiert?

Trotz der Enttäuschung herrscht das Gefühl vor, eine Schlacht verloren zu haben, während der »Krieg« noch bevorsteht. Es wird viel hinterfragt und es gibt viel Selbstkritik. Ich denke, die Basisbewegungen sollten und werden die Regierung und Institutionen stärker unter Druck setzen, um zugleich die interne Debatte zu verstärken. Wer sollte der Basis nun noch Vorgaben machen, und mit welchem Recht? Am Montag nachmittag haben sich spontan Tausende Chávez-Anhänger vor dem Präsidentenpalast Miraflores versammelt, um lautstark ein »Reinemachen im eigenen Haus« zu fordern, also ein effektives Vorgehen gegen Korrupte, Reformisten und Bürokraten.

Interview: Harald Neuber

* Dario Azzellini ist Politikwissenschaftler, Autor und Dokumentarfilmer. Im Internet: azzellini.net

Aus: junge Welt, 5. Dezember 2007



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