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An Kolumbien verkauft

Venezuela liefert schwedischen Journalisten als angebliches FARC-Mitglied an Bogotá aus. Proteste in Caracas

Von André Scheer *

Gegen den wütenden Protest zahlreicher linker Organisationen aus ganz Lateinamerika haben die venezolanischen Behörden am Montag abend (25. April) einen schwedischen Journalisten kolumbianischer Herkunft an Bogotá ausgeliefert. Während Staatschef Hugo Chávez gerade in einer über alle Fernsehsender des Landes ausgestrahlten Ansprache eine Erhöhung des Mindestlohns um 25 Prozent zum 1. Mai ankündigte, wurde Joaquín Pérez Becerra in ein Flugzeug gesetzt und nach Bogotá geflogen. Dort wurde er von den kolumbianischen Behörden triumphierend den Fernsehkameras vorgeführt, bevor er von schwerbewaffneten Polizisten gefesselt weggebracht wurde.

Der 55 Jahre alte Chef der von Schweden aus arbeitenden alternativen kolumbianischen Nachrichtenagentur ANNCOL war am Freitag aus Frankfurt kommend bei seiner Landung auf dem internationalen Flughafen Maiquetia bei Caracas festgenommen worden. Zuvor hatte der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos telefonisch seinen venezolanischen Amtskollegen Hugo Chávez um die Verhaftung gebeten. Bogotá wirft dem Journalisten vor, unter dem Namen Alberto Martínez »mehr als 30 Jahre lang« Mitglied der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und deren Europavertreter gewesen zu sein. Gestützt ist diese Beschuldigung auf E-Mails, die angeblich auf dem sagenumwobenen Laptop des ermordeten FARC-Kommandeurs Raúl Reyes gefunden worden sein sollen (siehe unten). Pérez selbst bestreitet, der Guerillaorganisation anzugehören.

Joaquín Pérez Becerra arbeitete Anfang der 90er Jahre als Kommunalabgeordneter im Bezirk Corinto im kolumbianischen Departamento Valle del Cauca für die legale Linkspartei »Patriotische Union« (UP). Gegen diese Organisation, die Ende der 80er Jahre im Zuge eines Friedensabkommens zwischen der Regierung in Bogotá und der kolumbianischen Guerilla entstanden war, entfesselten paramilitärische Gruppen einen Ausrottungsfeldzug, dem Angaben von Menschenrechtsgruppen zufolge mehr als 5000 Menschen zum Opfer fielen. Auch Pérez’ damalige Ehefrau wurde von rechtsextremen Gruppen entführt und ermordet. Er selbst floh 1994 nach Schweden, das ihm politisches Asyl gewährte. Dort lernte er seine neue Frau kennen, mit der er ein gemeinsames Kind hat. Als dieses vor gut zehn Jahren geboren wurde, nahm Pérez die schwedische Staatsangehörigkeit an und gab die kolumbianische ab.

»Die Behörden müssen wissen, daß der Ausweis, mit dem Pérez am 23. April in Venezuela einreiste, ein schwedischer Paß war, und die logische Konsequenz ist, daß er weder einen kolumbianischen Paß noch Personalausweis besitzt, deren Nummer jetzt in dem Kommuniqué der venezolanischen Regierung publiziert wurden«, kritisiert seine nicht namentlich genannte Ehefrau im Gespräch mit der venezolanischen Wochenzeitung Tribuna Popular. Tatsächlich hatte das venezolanische Informationsministerium in einer Erklärung von dem »kolumbianischen Staatsbürger« Joaquín Pérez Becerra gesprochen und die Nummer eines angeblich von diesem benutzten Ausweises des südamerikanischen Landes genannt.

Schwedens auch für Venezuela zuständige Botschafterin in Bogotá, Lena Nordström, sowie die konsularischen Vertreter des skandinavischen Landes intervenierten sofort und wiesen die Behörden in Caracas auf die Staatsangehörigkeit von Pérez Becerra hin. Trotzdem wurde den Diplomaten der Zugang zu dem Inhaftierten verweigert. Schwedische Medien reagierten empört auf die Verhaftung ihres 55 Jahre alten Landsmannes und zitierten dessen Freunde und Mitstreiter, die nun um sein Leben fürchten. Hernán Quinteros, ein ebenfalls in Schweden lebender Menschenrechtsaktivist, sagte dem schwedischen Rundfunk, Pérez habe in Stockholm ein ganz normales Leben als Journalist geführt. »Wir Kolumbianer im Exil wurden immer wieder beschuldigt, Anhänger der Guerilla zu sein. Das ist nichts Neues. Wenn Sie gegen die Regierung sind, werden Sie als Guerilla-Terrorist bezeichnet«, so Quinteros.

Auch der selbst von ähnlichen Vorwürfen und Übergriffen betroffene Chefredakteur der kolumbianischen Wochenzeitung Voz, Carlos Lozano, unterstrich: »Joaquín Pérez Becerra ist kein Terrorist. Er ist nicht einmal Mitglied der FARC, wie es Geheimdienste und Regierung Kolumbiens das Land und die Welt glauben machen wollen.« Auch wenn man mit dem Stil von ANNCOL nicht einverstanden sei, mache dies deren Chef nicht zum Terroristen oder FARC-Mitglied. »­ANNCOL verbirgt ihre Sympathie für die Guerillagruppe nicht, und dazu hat sie jedes Recht, denn das ist freie Meinungsäußerung.«

In Caracas versuchten noch am Wochenende bekannte Politiker des Regierungslagers, Joaquín Pérez im Gefängnis zu besuchen. Doch sowohl dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) und Parlamentsabgeordneten Oscar Figuera als auch dem Führungsmitglied von Chávez’ eigener Vereinten Sozialistischen Partei (PSUV), Amilca Figueroa, wurde vom »Bolivarischen Geheimdienst« (SEBIN) der Zugang zu dem Gefangenen verweigert. Sein Rechtsanwalt Hugo Martínez kritisierte, daß der Umgang mit seinem Mandanten alle Normen verletzt, und weder den Vorschriften für eine Auslieferung noch denen für eine Abschiebung entsprochen habe. Erst auf venezolanischem Staatsgebiet sei die Fahndung durch INTERPOL aktiviert worden, Pérez sei in völliger Isolation gehalten worden, ihm sei konsularischer und anwaltlicher Beistand verweigert worden, über Stunden habe er nichts zu Essen bekommen. »Dem schwedischen Staatsangehörigen Joaquín Pérez ist sein Recht auf ein faires Verfahren verweigert worden«, unterstrich der Jurist am Montag in Caracas.

* Aus: junge Welt, 27. April 2011


Chávez auf Abwegen

Auslieferung an Bogotá

Von André Scheer **


Was hat Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez dazu getrieben, Joaquín Pérez Becerra an Kolumbien auszuliefern? Ein Anruf seines kolumbianischen Amtskollegen Juan Manuel Santos genügte, damit die venezolanischen Behörden den schwedischen Journalisten tagelang in Isolationshaft festhielten, ihm den Beistand des schwedischen Konsulats verweigerten und ihn dann nicht etwa aufgrund eines internationalen Haftbefehls an Bogotá auslieferten, sondern ihn ganz einfach abschoben – und zwar nach Bogotá. Damit sollten die bürokratischen Verfahren abgekürzt werden, hieß es dazu in Caracas.

Noch vor wenigen Monaten empfing Chávez im Präsidentenpalast Miraflores die führenden Köpfe der kolumbianischen Guerilla und sprach sich dafür aus, die FARC als kämpfende Partei im kolumbianischen Bürgerkrieg anzuerkennen, um dadurch einer Verhandlungslösung näherzukommen. Gegen den erbitterten Widerstand des damaligen kolumbianischen Staatschefs Álvaro Uribe erreichte Chávez auf diese Weise die Freilassung einer Reihe Gefangener aus der Gewalt der Guerilla. Nun aber wiederholt er Bogotás Phrasen über »Drogenhändler« und »Terroristen«. Damit sichert Chávez zwar die derzeit stabilen Beziehungen zum Nachbarland. Zugleich jedoch opfert er seine Glaubwürdigkeit als Führungspersönlichkeit eines revolutionären Prozesses, mit dem zahlreiche Menschen weltweit große Hoffnungen verbinden.

Der Spagat zwischen offiziellen Beziehungen, die ein Regierungs­chef mit anderen Staaten führen muß, und Sympathien für Oppositionskräfte in denselben Ländern ist kompliziert. Da kann sich ein Sozialist wie Chávez durchaus als zeitweiliger Verbündeter eines Mannes wie Mahmud Ahmadinedschad wiederfinden. Da kann auch eine Männerfreundschaft mit einem ultrarechten Herrscher wie Santos beschworen werden. Diplomatie ist aber kein Grund, die eigenen Gesetze zu verletzen, um dem Gegenüber einen Gefallen zu tun. Staatsbeziehungen sind keine Rechtfertigung dafür, einen Journalisten – dem keine Beteiligung an bewaffneten Aktionen vorgeworfen wird – rechtswidrig an eine Bürgerkriegspartei auszuliefern.

Chávez riskiert nicht nur eine diplomatische Krise mit Stockholm wegen der Auslieferung eines schwedischen Staatsangehörigen. Die könnte er problemlos aussitzen. Doch er könnte das Vertrauen zerstört haben, das viele Menschen weltweit bislang in ihn gesetzt haben. In ersten Reaktionen wurde er von lateinamerikanischen Linken bereits als »Verräter« beschimpft. Diese Verbündeten werden ihm fehlen, wenn er sie – eher früher als später – wieder braucht. Die Rechte im eigenen Land verzeiht ihm die Bolivarische Revolution nicht. Sie wird auch weiterhin versuchen, ihn mit allen Mitteln von der Macht zu verdrängen und die Errungenschaften der vergangenen zwölf Jahre umzukehren. Wenn Chávez dann auf Unterstützung von Santos hoffen sollte, könnte sich das als tödlicher Fehler herausstellen.

** Aus: junge Welt, 27. April 2011 (Kommentar)

Alles FARC

Rechte Medien in Kolumbien und Venezuela haben den an Bogotá ausgelieferten Joaquín Pérez ­Becerra alias »Alberto Martínez« nicht nur als den »Joseph Goebbels der FARC« ausgemacht, sondern ihre Kampagne gleich noch gegen junge Welt und andere Linke ausgedehnt. So behauptet die in Caracas erscheinende El Universal etwa: »Die ›Zuneigung‹ für den Aufständischen durch linke und kommunistische Gruppen in aller Welt begründete sich in dessen Führungsrolle bei Treffen dieser Kräfte wie der jährlich in Berlin durchgeführten ›Rosa-Luxemburg-Konferenz‹, die von den FARC eine monatliche Zahlung in Höhe von 1500 US-Dollar erhält.«

Auch der kolumbianische Rundfunksender CMI behauptet auf seiner Homepage, »Alberto Martínez« sei »Verantwortlicher für das Betreiben weiterer Verleumdungsstrategien gegen das kolumbianische Volk« gewesen, darunter »die Zeitschrift Resistencia Internacional, die als weiteres Organ der FARC im Rahmen der Rosa-Luxemburg-Konferenz gilt, die jährlich in Berlin (Deutschland) durchgeführt wird«. Und weiter phantasiert der Autor: »Er hat Treffen geleitet, (…) an denen auch Vertreter verschiedener Gruppen wie der ›Sozialistischen Linkspartei der Sozialistischen Jugend‹ (sic!), dem ›Kolumbien-Komitee‹, der ›Vertretung des Internationalen Forums‹, der Linkspartei und der Linksjugend teilnahmen.« Phantasievolle Namen, die zugleich mal willkürlich europäischen Ländern zugeordnet werden. So sollen sowohl die Menschenrechtsorganisation »Asociación Jaime Pardo Leal« als auch der Rundfunksender Radio Café Stereo in Deutschland sitzen, dabei arbeiten sie von Schweden aus.

Dafür macht das Onlineportal Terra »Alberto Martínez« gleich zum »Hauptverantwortlichen für die Kontakte und Zellen zur ›politischen‹ und finanziellen Unterstützung der FARC in Italien, Deutschland, Spanien, Holland, Schweiz, Belgien und Norwegen«. Von dort ist es nicht mehr weit zu einem »auf diesem Kontinent organisierten kriminellen Netz, den kriminellen Beziehungen mit anderen Gruppen wie der ETA und der internationalen Finanzierung des Terrorismus aus dem Ausland«.
(scha)




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