Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Harte Arbeit

Dokumentiert. Mit Hilfe von "fünf Motoren" will Präsident Hugo Chávez den Reformprozeß in Venezuela antreiben

Seit dem Sieg von Hugo Chávez bei der Präsidentschaftswahl Ende vergangenen Jahres ist der Reformprozeß in Venezuela verstärkt worden. In den Wochen nach diesem Erfolg stellte der Staatschef fünf »Motoren der Revolution« vor. An diesen »Leitlinien des Umgestaltungsprozesses« werde man sich künftig orientieren, so der Präsident. In der internationalen Presse fand vor allem eine dieser Vorgaben Beachtung: Für einen Zeitraum von 18 Monaten erteilte die Legislative dem Präsidenten Chávez die Befugnis, Gesetzesdekrete zu erlassen. Zahlreiche deutschsprachige Medien von der taz bis zur FAZ stellten das »Ley Habilitante«, offensichtlich mit politischem Vorsatz und in Anlehnung an den Hitlerfaschismus, als »Ermächtigungsgesetz« vor. Die junge Welt übersetzt das »Ley Habilitante« als »Befähigungsgesetz«.
Neben diesem ersten »Motor der Revolution« dokumentiert jW Erklärungen Chávez´ zu den vier anderen strategischen Leitlinien »Verfassungsreform«, »Moral und Klarheit«, »Die neue Geometrie der Macht« und die »Erweiterung der kommunalen Macht«. Die Texte stammen aus Broschüren des Ministeriums für Kommunikation und Information (Minci). Als deren Quellen dienten drei Ansprachen von Hugo Chávez: die Rede zur Vereidigung des neuen Regierungskabinetts am 8. Januar 2007, die Rede zur Vereidigung des Präsidenten der Republik am 10. Januar 2007 und die Rede zur Vereidigung der präsidialen Räte für eine Verfassungsreform und für eine kommunale Reform am 17. Januar 2007.
Harald Neuber
Wir dokumentieren im Folgenden die Dokumentation aus der "jungen Welt".


Erster Motor

Das Befähigungsgesetz – Für den direkten Weg zum Sozialismus

Dieses Gesetz autorisiert die den Präsidenten der Republik, im Ministerrat und nach den Vorgaben der Verfassung Gesetzesdekrete zu erlassen.

Die Nationalversammlung wird diese Dekrete prüfen. Im Fall von Gesetzen, die Funktionen der Staatsorgane betreffen, wird das Gesetzesdekret zur Prüfung an die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofes übersandt. Wir haben dieses Befähigungsgesetz schon in den vergangenen anderthalb Jahren für verschiedene Bereiche anvisiert: für politische und wirtschaftliche Belange und für Entscheidungen, die für die öffentliche Verwaltung von Bedeutung sind.

Es wurde ein spezielles Kabinett für dieses Befähigungsgesetz benannt – Vizepräsident Jorge Rodríguez steht ihm vor –, um mit der Arbeit sofort beginnen zu können. Nun sind die Ministerinnen und Minister am Zug, ebenso wie die übrigen Funktionsträger, vor allem aber die Regierungsmitglieder.

Wir haben eine Liste von Regelungen zusammengestellt. Zunächst betrifft das die alten Gesetze, die es zu reformieren gilt, dann neuere Gesetze, die überarbeitet werden müssen. Und drittens diejenigen, die ersetzt werden müssen. Schließlich wird es neue Direktiven geben, die – immer im geltenden Rechtsrahmen – die Anforderungen der Verfassung umzusetzen helfen.

Ein Beispiel ist das venezolanische Handelsrecht, ein Symbol des Kapitalismus, das 1904, vor mehr als hundert Jahren, in Kraft getreten ist. Dieses Gesetzbuch wurde zwar mehrfach reformiert, aber immer im alten Geist. Die letzte Überarbeitung fand 1955 statt, als Venezuela von General Marcos Pérez Jiménez [1] beherrscht wurde. Wie soll unser Sozialismus aussehen, wenn wir einem solchen Handelsrecht folgten? Ein anderes Beispiel ist der so wichtige wie strategische Bereich der Energiewirtschaft. All das, was in der Vergangenheit privatisiert wurde, sollte wieder nationalisiert werden. Stellen wir die strategischen Produktionsmittel wieder unter die soziale Kontrolle! Die nationale Telefongesellschaft CANTV sollte vergesellschaftet werden![2] Die Nation muß ihre Eigentumsrechte über die strategischen Instrumente der Souveränität, der Sicherheit und der Verteidigung wiedererlangen.

Im Orinoco-Delta hat noch immer eine Regelung der sogenannten Öffnung des Ölsektors Bestand. Auch sie gilt es zu beseitigen: Ich beziehe mich auf die internationalen Konzerne, die Vorkommen des schweren Erdöls aus dieser Region uneingeschränkt ausbeuten können. Diese Ressourcen müssen in Eigentum des venezolanischen Staates übergehen.[3]

Das Befähigungsgesetz sollte in diesem Jahr im Zentrum stehen. Auch wenn die reformierten Gesetze im Jahr 2001 bereits den wirtschaftlichen und sozialen Rahmen betroffen haben, so müssen diese neuen Gesetze noch viel stärker auf die aktuelle wirtschaftliche Situation Einfluß nehmen.

Das ist der erste Motor: das Befähigungsgesetz. Wir hoffen darauf, daß die Abgeordneten uns diese verfassungsmäßigen Rechte verleihen, um auf einen Schlag ein Paket wirtschaftlicher, sozialer, vor allem aber sicherheits- und verteidigungspolitischer Gesetze zu verabschieden.

Zweiter Motor

Verfassungsreform – Für einen sozialistischen Rechtsstaat

Wir sind auf dem Weg zur sozialistischen Republik Venezuela, und auf diesem Weg wird eine tiefgreifende Umgestaltung der Konstitution notwendig. Die gültige Verfassung ist ein erster Schritt hin zur Errichtung des Sozialismus. Um aber weiter fortzuschreiten, ist ein Reformpaket notwendig.

Die aktuelle Charta ist inmitten des Sturms entstanden, und trotz aller Anstrengungen ist sie voll von Überbleibseln des alten Regimes und weiteren Elementen, die nicht gründlich durchdacht wurden. Berufen wir also den Verfassungsrat (Poder constiticional, eigentlich »Verfassungsmacht«) ein und verpflichten wir ihn, der Forderung des Volkes, das für ein Projekt gestimmt hat, nachzukommen. Wir sind auf dem Weg zum Sozialismus. Das Volk hat diesen Weg zum Sozialismus gewählt. Es will den Sozialismus ebenso wie das Vaterland ihn braucht.

Artikel 342 der Verfassung sieht drei Formen vor, um sie zu verändern. Zunächst gibt es die »Verfassungsänderung«, die vor allem einer punktuellen Überarbeitung dient. Zweitens wird die »Reform« genannt und drittens die »verfassungsgebende Versammlung«.

Die Reform ist das adäquate Mittel – und nicht eine verfassungsgebende Versammlung. Laut Artikel 342 hat die »Reform zum Ziel, die Verfassung in Teilen zu überarbeiten«. Diese Definition hat mich von der Notwendigkeit der Reform überzeugt. Wenn eine verfassungsgebende Versammlung einberufen wird, geht es um den Entwurf einer neuen Konstitution. Wir brauchen aber keine neue Verfassung.

Die Charta selbst setzt der Reform Grenzen. Gleichwohl erlaubt sie die Veränderung einer oder mehrerer Bestimmungen, ohne daß aber die fundamentalen Prinzipien berührt werden. Diese Grundlagen finden sich in den ersten neun Artikeln.

Als Simón Bolívar [4] die erste Konstitution von Bolivien vorgestellt hatte, sagte er: »Meiner Meinung nach sollte sich diese Verfassung regelmäßig reformieren, in dem Maße, wie es die Veränderung der moralischen Maßstäbe verlangt.« Und das ist normal, vor allem dann, wenn die moralischen, politischen und sozialen Maßstäbe im Wandel begriffen sind. Deswegen muß auch unsere Verfassung überarbeitet werden, deswegen muß sie reformiert werden.

Zum Beispiel der Artikel 302. Darin wird dem Staat Verfügungsrecht über die Erdölreserven zugesprochen, nicht aber über die Gasvorkommen. Was dort stehen müßte, ist das »Bestimmungsrecht über die festen, flüssigen und gasförmigen Energieressourcen«.

In der Vergangenheit wurden in Venezuela Förderlizenzen für Zeiträume von bis zu 50 Jahren vergeben. Sie haben uns das Öl aus dem Boden geholt und weggeschafft. Deswegen hat diese Revolution einen ersten wichtigen Schritt getan: die nationale Befreiung. Compañeros, ich sage das offenen Herzens: Venezuela ist befreit! Wir sind niemandes Kolonie. Das ist der Ausgangspunkt für so wichtige Reformen, wie wir sie umsetzen.

Ein anderes Beispiel ist der Artikel 303, nach dem der Staat »aus Gründen wirtschaftlicher und politischer Souveränität und aus nationalen strategischen Gründen (...) die Kontrolle der Aktien (der Erdölgesellschaft – H. N.) Petróleos de Venezuela oder derjenigen Institution behält, die zur Koordination der Ölindustrie geschaffen wurde, aber« – und das ist ein bedeutendes Aber – »ausgenommen sind die Filialen, strategischen Bündnisse, Unternehmen und sonstigen Vorhaben, die als Folge der Geschäftsvereinbarungen von Petróleos de Venezuela entstanden sind oder entstehen«. Das bedeutet Privatisierung! Und auch das muß verändert werden, denn hier wird nichts weiter privatisiert! Diese Dinge müssen durch Gesetzesregelungen in der Verfassung gestoppt werden.

Dritter Motor

Moral und Klarheit – Für eine Bildung mit sozialistischen Werten

Bildung besteht nicht nur im Studium eines bestimmten Lernstoffes oder im Erlangen eines Abschlusses. Sie geht weit darüber hinaus: Sie vermittelt Werte, Kultur und Solidarität – sie ist eine ethische Revolution. Deswegen greife ich diesen großartigen Satz auf, den Simón Bolívar in Angostura formuliert hat: »Moral und Klarheit sind die Pole einer Republik.«

Während des gesamten Jahres 2007 werden wir eine nationale Kampagne für Moral und Klarheit organisieren. Die Bildung wird alle Bereiche erfassen: moralische, wirtschaftliche, politische und soziale Schulung. Es geht aber zugleich um eine Bildung, die weit über die der Schule hinausreicht, eine Bildung, die in Fabriken, Werkstätten, auf dem Land und in den Entwicklungszentren der Kooperativen vermittelt wird. Eine reinigende Bildung. Ich lade dazu ein, daß wir uns dieser Initiative mit voller Kraft widmen, nicht nur aus der Regierung heraus. Wir alle sollten uns dieser Kampagne zuwenden.

Sprechen wir über Arbeit und Studium. Che Guevara hat stets auf beiden bestanden. Er sagte: »Wir verteidigen das Land, indem wir es durch unsere Arbeit aufbauen und indem wir die neuen technischen Einheiten (Unidadas téchnicas – Arbeitsbrigaden) aufbauen, um die Entwicklung in den kommenden Jahren zu beschleunigen. Das Studium auf allen Ebenen ist schon heute eine Aufgabe der Jugend – das Studium gemeinsam mit der Arbeit.«

Che hat damals auch zur Debatte aufgerufen, dazu, all das zur Diskussion zu stellen, was unklar ist. Er rief auf, zu debattieren und Erklärungen über das zu verlangen, was unklar geblieben ist. Er rief auch dazu auf, jedem Formalismus den Kampf zu erklären. Wir müssen neuen Einsichten gegenüber offen sein, um Teil dieser Erfahrung der Menschheit zu werden, die sich auf dem Weg zum Sozialismus gemacht hat. Wir müssen ständig überlegen, wie die Realität verändert und wie sie verbessert werden kann.

Wir müssen Zeit finden, um zu lesen und zu schreiben, zu überdenken und zu lernen. Ein Kämpfer, ein Revolutionär muß jeden Tag und jede Nacht seines Lebens lernen, in Theorie und Praxis. Er muß sich die Dialektik zu eigen machen.

Es geht darum, sich zu übertreffen, um zu siegen. Darum, zu kämpfen, um der Erste unter den Ersten zu sein, um zur Avantgarde zu gehören. Es geht darum, ein Beispiel für die älteren Frauen und Männer zu sein, die den Elan der Jugend nicht mehr haben, die aber auf das Beispiel des Kämpfers reagieren werden. Kurzum: Es geht darum sich einzubringen.

Seid die Ersten bei der Arbeit und im Studium! Und ich wiederhole: Es geht nicht nur um das Studium in der Schulklasse, im Vorlesungssaal oder der staatlichen Bildungsmission. Wir sprechen hier von dem alltäglichen Studium, von der Suche nach dem Wissen über das Ackerland, über das Viertel, die Straße und das Buch. Es geht um die Diskussion, um die permanente Debatte der Ideen. Che sagte, daß man wirkliche und konkrete Aufgaben in Angriff nehmen soll. Die alltägliche Arbeit darf deswegen nicht vernachlässigt werden.

Es geht also um die Bildung der Bevölkerung zu jeder Zeit und an jedem Ort. Bildung, Bildung und nochmals Bildung. Wir haben dabei schon viele Fortschritte gemacht, aber es steht noch mindestens ebensoviel bevor. In der Bildung wie in der Kultur, der Wissenschaft, der Technologie, im Bewußtsein – der Ideologie und den Werten, den neuen Werten. Wir müssen die alten Werte bekämpfen, die des Individualismus, des Kapitalismus und des Egoismus. Wir müssen neue Werte schaffen. Und das ist nur über die Bildung möglich. Und das ist der dritte Motor der Revolution.

Vierter Motor

Die neue Geometrie der Macht – Für die Neuordnung der Geopolitik der Nation

Der vierte Motor des revolutionären sozialistischen Projektes hat mit der, wie ich es nenne, neuen Geometrie der Macht zu tun. Wir müssen die Situation in unserem Land analysieren: Wie ist die politische, die soziale, die wirtschaftliche Macht verteilt? Und wie sollte sie verteilt sein? Das ist ein Thema, dem meiner Meinung nach besondere Aufmerksamkeit zukommen sollte.

Es wird eine neue Aufteilung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Macht in allen Bereichen notwendig werden. Überdenken wir also die politisch-territorialen Strukturen des Landes und suchen wir Lösungen, die stärker als heute unserer Realität und unserem Bestreben entsprechen. Das heißt: Sollte Venezuela auch weiterhin politisch und geographisch unterteilt sein wie derzeit? Geht es nicht anders? Natürlich können wir eine politische und geographische Neuordnung des Landes durchsetzen!

Auf Regierungsebene ist das Problem nicht so ausgeprägt, es betrifft viel mehr die Verwaltungsbezirke (Municipios). Muß Venezuela in so viele Distrikte unterteilt sein? Das bedeutet nichts als Bürokratie, das Erbe der Vierten Republik [5]: Bürokratie, Korruption und Uneffizienz. Dieses System ist nach wie vor intakt. Verändern wir es!

Es gibt Bürgermeistereien und Verwaltungsbezirke, die eine enorme territoriale Ausdehnung haben. Und es gibt andere, die nur einen Bruchteil dieser Größe erreichen, die aber unter Überbevölkerung leiden, die nicht mehr handlungsfähig sind und in denen fast das gesamte Budget von der Bürokratie verschlungen wird. Jeder Funktionsträger will dort einen Mitarbeiterstab haben, einen Chauffeur, ein teures Auto und einen Palast. Diese Anspruchshaltung stammt aus der Vierten Republik, dieses Denken müssen wir angreifen. Dabei muß mit Kleinigkeiten begonnen werden, dann mit der Abschaffung der Privilegien und schließlich mit dem Kampf gegen die schlechten Eigenschaften des bürgerlichen Staates.

In dieser Auseinandersetzung liegt die Seele der Revolution, in dem Kampf gegen die schlechten Verhaltensweisen der Vergangenheit. Wem wir das jetzt nicht in Angriff nehmen, werden wir unsere Zeit vergeuden. Denn wenn wir auch noch so viele politische und wirtschaftliche Veränderungen umsetzen: Gelingt es uns nicht, die schlechten Verhaltensweisen zu korrigieren, die verhaßten Klassenunterschiede, die obszönen Privilegien, um eine neue Kultur der Gleichheit, Solidarität und Brüderlichkeit zu schaffen, dann werden wir unsere Zeit vergeudet haben. Aber das wird nicht so sein! Wir werden dieses Ziel erreichen!

Dafür wird es jedoch notwendig sein, die Macht der Basis auf alle Bereiche auszudehnen und eine Kontrolle des Volkes zuzulassen. Wir Funktionsträger werden uns ernsthafter der Arbeit widmen müssen, ohne Einschränkungen.

All das zwingt uns auch, die Verwaltungsgesetze wie das über die Munizipalräte zu überarbeiten. Dieses Gesetz ist nach wie vor gültig, sogar mit negativeren Konsequenzen als zuvor. Es schafft Munizipalräte, die keinerlei Einfluß haben, die Teil derselben alten Strukturen der Vierten Republik sind. Oder in bezug auf die Regionen des Landes: Wie können wir eine gleichberechtigte Aufteilung des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Einflusses in allen Regionen des Landes erreichen? An diesem Punkt bestehen nach wie vor viele Zweifel. In Venezuela gibt es heute Regionen, die völlig abgeschnitten sind, vergessen, im Einfluß beschränkt, in der Entwicklung zurückgeblieben. Daran müssen wir arbeiten, denn dieses Land ist ein Ganzes.

Fünfter Motor

Erweiterung der kommunalen Macht – Für eine revolutionäre und sozialistische Demokratie

Die Macht der Basis ist die Seele, der Nerv, das Rückgrat, die Muskeln – das Kernstück der revolutionären und wahren Demokratie. Dieser Motor des sozialistischen Projekts ist der stärkste der fünf Motoren. Aber die Erweiterung und die kreative Kraft der kommunalen Macht werden bezüglich Entwicklung und Erfolg von den übrigen vier Motoren abhängen. Sie wird von dem Befähigungsgesetz ebenso abhängen wie von der Verfassungsreform, von der Kampagne für Moral und Klarheit, von der neuen Geometrie der Macht und anderen Faktoren. Auch deswegen dürfen wir bei der Umsetzung der Projekte nicht zögern.

Meine Idee ist es, ein System föderaler Städte und Gebiete zu bilden. In einigen Fällen können es bereits existierende Städte sein. Nach der Verfassung ist es möglich, solche föderalen Gebiete zu schaffen, und das gibt uns die notwendigen Mittel in die Hand. Aber ich denke auch, daß wir dieses Mittel einem neuen Zweck unterstellen müssen. Es geht nicht darum, etwa Bundesstaaten in föderale Gebiete umzuwandeln. Es geht darum, sie in ein sozialistisches System einzubinden.

In diesem föderalen Staat konzentrieren wir all unsere Kräfte – politische, wirtschaftliche und soziale – darauf, neue Städte zu schaffen, für deren Administration weder Verwaltungsräte notwendig sein werden, noch Bürgermeistereien, noch Räte. Sie werden von einer kommunalen Macht verwaltet werden. Diesen Gedanken müssen wir der Verfassung geben: den einer neuen Geometrie der Macht auf ganzer Linie.

In der Konsequenz müssen neue Räte die lokale Handlungsebene verlassen. Wir dürfen den Räten keine Grenzen setzen, denn sie sind die Instrumente der verfassungsmäßigen Macht der Basis. Deswegen müssen sie unterstützt und gestärkt werden. Die Räte sollen künftig eine Art Konföderation bilden, was allerdings noch gesetzlich geregelt werden muß. In einem zweiten Schritt aber sollten sie einen weitaus größeren politischen Raum besetzen. Sie sollten dann fähig sein, eine tiefgreifende Analyse der Situation in der Kommune anzustellen, auf deren Basis sie Pläne entwerfen und Budgets festlegen. Sie sollten fähig sein, größere Vorhaben zu organisieren, durch die das Leben der Menschen in jeglicher Hinsicht verbessert wird. Es geht zunächst also um die Bildung einer Konföderation kommunaler Räte auf Landesebene.

Aus der staatlichen Verwaltung müssen wir daher nach und nach politische, soziale, wirtschaftliche und administrative Rechte an die Kommunen übergeben. So werden wir zum sozialistischen Staat voranschreiten und die alten Strukturen des bürgerlich-kapitalistischen Staates hinter uns lassen, der die revolutionären Impulse noch bremst.

Es geht also um die Erweiterung der kommunalen Macht. Das wird durchaus einige Zeit in Anspruch nehmen – aber alles hat seine Zeit. Diese Ruhe ist in gewisser Weise sehr revolutionär. Schon Simón Bolívar hat gesagt: »Geduld und mehr Geduld, Arbeit und mehr Arbeit, Bewußtsein und mehr Bewußtsein, um das Vaterland zu schaffen.« Niemand soll ungeduldig werden. Es steht harte Arbeit bevor. Aber sie wird mit dieser revolutionären Geduld gemeistert werden, mit der Geduld der Weisen. Derjenigen, die wissen, daß sie auf dem richtigen Weg sind.

Fußnoten
  1. 1948 unterstützte der Militär Jiménez (1914–2001) den Putsch des Sozialdemokraten Romulo Gallegos und wurde Verteidigungsmininster. 1952 stürzte er Gallegos und machte sich selbst zum Diktator über Venezuela. Im Januar 1958 vertrieb ihn das Volk mit einem Generalstreik.
  2. Die Mehrheit der Anteile an der CANTV besitzt seit Mitte Februar 2007 der venezolanische Staat. Mit dem Ankauf von 28,51 Prozent der Anteile vom US-amerikanischen Konzern Verizon im Wert von 572 Millionen US-Dollar hält der Staat nun rund 82 Prozent des Telekommunikationsunternehmens. Auch die restlichen Anteile im privaten Streubesitz sollen erworben werden.
  3. Auch dies ist inzwischen geschehen. Ende Februar wurden die Ölvorkommen im Orinoco-Delta per Dekret der staatlichen Kontrolle unterstellt. Drei Monate später verließen die US-amerikanischen Konzerne ExxonMobil und ConocoPhillips aus Protest Venezuela.
  4. Bolivar (1783–1830) führte die Unabhängigkeitsrevolution in Südamerika (1816–1824) gegen die Kolonialmacht Spanien an.
  5. Nach dem Sturz des Diktators Jiménez im Januar 1958 bildete eine bürgerliche Elite die Vierte Republik mit zunehmend neoliberalen Zügen. In ihr waren als Schutz vor neuen Diktaturen jene politischen Organisationen – die kommunistische inbegriffen – verboten, die den Auffassungen der Staatselite nicht entsprachen.
Übersetzung: Harald Neuber

* Aus: junge Welt, 9. August 2007


Zurück zur Venezuela-Seite

Zurück zur Homepage