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Turbulente Sitzung

Venezuela: Parlament behandelt Verfassungsänderung. 4,7 Millionen Unterschriften für Chávez. Opposition in Aufruhr

Von André Scheer *

Mit deutlicher Mehrheit hat am späten Donnerstag abend die Nationalversammlung Venezuelas in erster Lesung eine Änderung der Verfassung beschlossen. Mit dieser soll dem amtierenden Präsidenten Hugo Chávez eine erneute Kandidatur bei der nächsten Wahl 2012 ermöglicht werden. Nur die Abgeordneten der rechten Oppositionspartei Podemos stimmten gegen den von 146 der 167 Abgeordneten eingebrachten Antrag. Trotz Kritik stimmte auch die PPT (Heimatland für alle) für den Antrag. Ihr Vertreter Simón Calzadilla erklärte vor dem Plenum allerdings, daß die angestrebte Verfassungsänderung zunächst nur die Wiederwahl des Präsidenten ermögliche. Seine Partei fordere jedoch, auch die Amtszeitbegrenzung für alle anderen durch Wahlen vergebenen Ämter aufzuheben, ansonsten werde „die beste Verfassung der Welt« geschwächt.

128 Kartons

Die Debatte nahm zeitweilig turbulente Züge an, weil die Oppositionsvertreter meinten, ihre »Nein«-Stimme zähle nicht. Zuvor hatte Parlamentspräsidentin Cilia Flores, die aus ihrer Unterstützung für die Verfassungsänderung keinen Hehl machte, das Projekt zur Abstimmung gestellt und angesichts der vielen dafür erhobenen Hände festgestellt, daß das Projekt mit deutlicher Mehrheit angenommen sei. Das wurde von den Abgeordneten der linken Fraktionen mit Jubel und Sprechchören gefeiert, während Podemos-Chef Ismael García zum Tisch der Parlamentspräsidentin stürzte, um das »Nein« aktenkundig zu machen. Das Negativ-Votum seiner Fraktion wurde dann auch in das Protokoll aufgenommen.

Vor Beginn der Debatte hatten Jugendliche eine mehrere hundert Meter lange Menschenkette vom Geburtshaus des Nationalhelden Simón Bolívar – heute ein Museum – bis zum Parlamentsgebäude gebildet. Dann wurden 128 Kartons von einem Teilnehmer zum anderen weitergereicht. Die Kisten enthielten mehr als 4,7 Millionen Unterschriften, die die Unterstützer von Präsident Chávez innerhalb einer Woche zugunsten der Verfassungsänderung gesammelt hatten. Die Kartons mit den Listen wurden im Plenarsaal aufgestapelt, um den Abgeordneten die massive Unterstützung durch die Bevölkerung vor Augen zu führen.

Der neugewählte Bürgermeister des Innenstadtbezirks Libertador von Caracas, Jorge Rodríguez, der auch Vizepräsident der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) ist, sagte gegenüber den Medien, daß diese Unterschriften die größte Unterstützung darstellen, die je eine Volksinitiative in Venezuela erreicht habe. Sie stelle auch die 2004 von der Opposition gesammelten 2,4 Millionen Unterschriften in den Schatten, mit denen diese damals ein Amtsenthebungsreferendum gegen Präsident Chávez durchgesetzt hatten.

Knappe Fristen

Ursprünglich, so die Diskussion, sollte die Initiative zur Verfassungsänderung von so einer Unterschriftensammlung ausgehen. Die dafür notwendigen 2,5 Millionen Signaturen hätten durch eine Kampagne des Nationalen Wahlrat (CNE) organisiert werden müssen, was durch Fristen, Verwaltungsaufwand und Kontrolle der Unterschriften auf ihre Gültigkeit sehr viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Deshalb entschied sich die PSUV für eine Parlamentsinitiative, rief aber zugleich zu der symbolischen Unterschriftensammlung auf, um die Unterstützung der Bevölkerung zu demonstrieren.

Die zweite und letzte Lesung der Verfassungsänderung im Parlament ist für den 5. Januar vorgesehen. Den gesetzlichen Bestimmungen zufolge muß der CNE dann innerhalb von 30 Tagen eine Volksabstimmung über das Projekt durchführen. Führende Vertreter des Wahlrats wiesen jedoch darauf hin, daß die Zeit zur Organisation des Referendums sehr knapp sei. Im Zusammenhang mit den Regionalwahlen vom 23. November liefen noch einige Fristen, in denen die damals benutzten Wahlmaschinen nicht angetastet und somit auch nicht für eine neue Abstimmung vorbereitet werden können.

* Aus: junge Welt, 20. Dezember 2008


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