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Triumph oder nur ein Phyrrus-Sieg für Chávez?

Kuriose Parlamentswahlen in Venezuela sorgen für satte Mehrheit für die Partei des Präsidenten

Eine kuriose Wahl war das in Venezuela: Die Opposition schmollte und wollte sich erst gar nicht an der Wahl beteiligen, und die Wählerinnen und Wähler blieben den Urnen weitgehend fern. Hugo Cávez' Partei heimste erwartungsgemäß die meisten Sitze ein, die anderen Mandate gingen an verbündete Parteien. Ein Sieg für Chávez? Eine Niederlage für die Demokratie? Katzenjammer bei der Opposition?
Wir haben im Folgenden ein par Informationen aus der Tagespresse zusammengestellt.



Versöhnliche Töne nach Boykott

Venezuelas Parlament besteht nur noch aus Anhängern von Chávez

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre*


Nach dem Wahlboykott der rechten Opposition besteht die künftige Nationalversammlung Venezuelas ausschließlich aus Anhängern des Staatspräsidenten Hugo Chávez.

»Die alten Parteien sind schon tot«, sagte Präsident Chávez. »Vielleicht akzeptieren sie es ja im Innersten ihrer Seele, im Unterbewusstsein, und haben deshalb so gehandelt. Sie haben ihren Tod beschleunigt, um in die Annalen der politischen Geschichte einzugehen und neuen Leuten, neuen Ideen Platz zu machen.« Das klang wie ein Abgesang vor allem auf jene beiden Traditionsparteien, die jahrzehntelang die Geschicke Venezuelas bestimmt hatten, bevor sie 1998 von der chavistischen Welle überrollt wurden: die Sozialdemokraten der »Demokratischen Aktion« (AD) und die christdemokratische Copei.

Die Chávez-Partei »Bewegung Fünfte Republik« erhält bei der Wahl am Sonntag 114 von 167 Mandaten. Damit verfügt sie über die für Verfassungsänderungen und Besetzungen von Schlüsselpositionen nötige Zwei-Drittel-Mehrheit. Die übrigen Sitze gehen voraussichlich an kleinere verbündete Parteien. Ein amtliches Endergebnis lag zunächst nicht vor. Unklar war auch das genaue Ausmaß der Wahlenthaltung. Nach Auszählung von vier Fünfteln der Wahllokale lag die Beteiligung bei 25 Prozent. Selbst diese Zahl hält der Journalist und Ex-Minister Teodoro Petkoff noch für zu hoch gegriffen, denn sie berücksichtige nicht die ungültigen Stimmen von Anhängern der konservativen Opposition.

Zudem seien selbst manche Chávez-Anhänger durch dessen abrupten Regierungsstil verunsichert, vermutet Petkoff, ein Parteigründer der ebenfalls oppositionellen »Bewegung zum Sozialismus« (MAS), der mit einer Präsidentschaftskandidatur im kommenden Jahr liebäugelt. Auch Chávez möchte im Dezember 2006 nicht ohne Gegner bleiben. Ausdrücklich lobte er drei prominente Politiker der kritischen Linken, die sich an der Wahl beteiligten: »Hoffentlich haben Sie die Kraft, die Intelligenz und Fähigkeit, die Kräfte der Opposition neu zu bündeln.«

Vizepräsident José Vicente Rangel, der die Wahlboykotteure in der letzten Woche attackiert hatte, zeigte sich ebenfalls versöhnlicher. Er forderte »alle Sektoren« auf, sich bald an einen Tisch mit der Regierung zu setzen, um »über die großen nationalen Themen zu diskutieren«. Die Wahlboykotteure setzten hingegen weiter auf Konfrontation. Am Wahlsonntag habe auf den Straßen des Landes »Friedhofsruhe« geherrscht, sagte AD-Generalsekretär Henry Ramos Allup. Die neue Nationalversammlung habe keinerlei Legitimation.

Für María Corina Machado von der bürgerlichen Wahlüberwachungsinitiative »Súmate« zeigt die niedrige Wahlbeteiligung, dass die Venezolaner dem von Chavistas kontrollierten nationalen Wahlrat nicht vertraut hätten. Für einen von der Opposition heraufbeschworenen »Wahlbetrug« gab es allerdings keinerlei Anzeichen. Von den gut 200 von der Europäischen Union und der Organisation Amerikanischer Staaten entsandten Wahlbeobachtern lag zunächst keine offizielle Stellungnahme vor.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Dezember 2005


Chávez-Lager vorn

Venezuela: Regierungspartei MVR errang 114 Mandate bei Parlamentswahlen. Oppositionsgruppen beklagen nach Boykott »geringe Teilnahme« an Wahlen

Von Harald Neuber**


Als Jorge Rodríguez, der Vorsitzende des Nationalen Wahlrates (CNF), am Sonntag abend gegen neun Uhr (Ortszeit) vor die Presse trat, waren knapp 80 Prozent der Stimmen ausgezählt. Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, daß die regierende Bewegung Fünfte Republik (MVR) bei den Parlamentswahlen in Venezuela einen Erdrutschsieg errungen hat. Wie die staatliche Nachrichtenagentur ABN berichtete, entfallen 114 der 167 Sitze auf die Partei von Präsident Chávez. Das Parteienbündnis »Block für den Wechsel«, dem neben der MVR die Parteien Vaterland für Alle (PPT), Podemos (Wir können), die Venezolanische Volkseinheit (UPV) und die Kommunistische Partei (PCV) angehören, errang 162 Sitze. Das Ergebnis wurde erwartungsgemäß sehr unterschiedlich gedeutet. Während Regierungsvertreter den Sieg als Bestätigung für die Umverteilungspolitik der bolivarischen Revolution werteten, forderten Vertreter der rechten Opposition eine Überprüfung.

Nach Meinung des Generalsekretärs der sozialdemokratischen Gruppe Acción Democrática (AD) etwa ist Präsident Chávez »sehr schlecht« aus den Wahlen hervorgegangen. Die Vorsitzende der US-finanzierten Oppositionsgruppe Súmate, María Corina Machado, wies auf die Wahlbeteiligung von nur 25 Prozent hin. Die hohe Enthaltung müsse nun untersucht werden, so Machado Zugleich bot sie ihre Analyse an: Die venezolanische Bevölkerung habe den Glauben an die demokratischen Institutionen verloren, allen voran den Nationalen Wahlrat. Der reagierte auf die Kritik gelassen. In Venezuela würde allen Menschen durch Artikel 63 der Verfassung das Wahlrecht garantiert. Es sei niemandem möglich, Zwang zur Enthaltung oder Teilnahme bei den Wahlen auszuüben.

Die Teilnahmeprognosen waren im Vorfeld stark unterschiedlich ausgefallen. Letztlich lag die Beteiligung am Sonntag niedriger als bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2000. Damals hatten sich nach Angaben des CNE 43,95 Prozent der Wahlberechtigten ihrer Stimme enthalten. Bei den Lokalwahlen im Dezember 2000 lag die Enthaltung sogar bei 76,20 Prozent. Auf Kritik der Opposition war keines dieser Ergebnisse gestoßen, weil auch sie an beiden Urnengängen teilgenommen hatte. Wenige Tage vor den diesjährigen Wahlen aber hatten sechs Oppositionsgruppen ihren Boykott erklärt: die sozialdemokratische AD, die christdemokratische Copei, Primero Justicia, Proyecto Venezuela und Renacer. Von Vertretern dieser Gruppen wurde das jüngste Ergebnis nun negativ gewertet.

Internationale Beobachter bestätigten jedoch den fairen und demokratischen Verlauf der Wahlen. Insgesamt 400 Wahlbeobachter waren von der Organisation Amerikanischer Staaten, der EU und anderen Organisationen entsandt worden. Joan Rigol, Abgeordneter der katalanischen Regionalpartei CiU, äußerte Kritik an der Opposition. Als Beobachter habe man mehrfach um Gespräche mit denjenigen Gruppen gebeten, die sich dem Boykott angeschlossen hatten. Bis auf eine Ausnahme seien diese Gesuche ohne Antwort geblieben.

** Aus: junge Welt, 6. Dezember 2005


Aus einem Artikel in der Frankfurter Rundschau:

(...) Innenminister Jesse Chacón hatte die Messlatte für die Legitimität des Ergebnisses bereits vorher bei nur 17 Prozent Beteiligung angelegt - eben unter Hinweis auf eine frühere Wahl, die trotz riesiger Enthaltung allgemein akzeptiert worden war. Parlamentswahlen auf nationaler oder gar kommunaler Ebene stoßen in Venezuela meist auf deutlich geringeres Interesse als die Frage, wer denn Staatspräsident werden soll. Dieses Thema stand am Sonntag allerdings nicht an.

Dennoch gilt das Ergebnis als Pyrrhus-Sieg des Regierungslagers, das beträchtliche Anstrengungen unternommen hatte, die Venezolaner zu mobilisieren. Die Wahl war nach Ansicht von Beobachtern zu einer Art Neuauflage des Referendums vom vergangenen Jahr stilisiert worden, als das politische Schicksal von Präsident Chávez zur Abstimmung stand und sich lange Schlangen vor den Wahllokalen bildeten. Diesmal jedoch blieben selbst in den Hochburgen des Chavismus die Stimmlokale weitgehend leer.

Aus: FR, 6. Dezember 2005 (Venezuelas Präsident feiert "Todesstunde der Opposition"; Autor: Wolfgang Kunath


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