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Volle Kontrolle

In Venezuela werden die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl überprüft. Überraschungen sind nicht zu erwarten

Von André Scheer *

In Venezuela werden nun doch hundert Prozent aller bei der Präsidentschaftswahl am vergangenen Sonntag abgegebenen Stimmen überprüft. Das kündigte die Präsidentin des Nationalen Wahlrates (CNE), Tibisay Lucena, am Donnerstag (Ortszeit) in Caracas an, nachdem Oppositionsführer Henrique Capriles dies offiziell beantragt hatte. Zuvor hatte Lucena mehrfach darauf hingewiesen, daß kein solcher Antrag vorgelegen habe und die Behörde deshalb keinen Anlaß zu einer solchen Audition gesehen habe.

Bei der Überprüfung geht es darum, die Übereinstimmung zwischen den elektronisch übermittelten Ergebnissen der Wahlmaschinen und den ausgedruckten und von den Wählern in die Urne geworfenen Kontrollzetteln zu überprüfen. Entsprechend des venezolanischen Wahlgesetzes war dies ohnehin bereits bei 54 Prozent aller Urnen geschehen, dabei wurden keine Unregelmäßigkeiten festgestellt. Nun gibt es auch eine Revision der übrigen 46 Prozent. Capriles begrüßte diese Entscheidung.

In einer über alle Rundfunk- und Fernsehsender des Landes übertragenen Ansprache erklärte Lucena, diese vollständige Kontrolle diene dazu, die »gewaltbereiten Sektoren, die Venezuelas Demokratie verletzen wollen, zu isolieren«. Sie äußerte ihre Bestürzung darüber, daß die Weigerung der Opposition, die Ergebnisse vom vergangenen Sonntag anzuerkennen, zum Tod von acht Menschen und mehr als 70 Verletzten geführt habe. Zugleich betonte sie, daß die Audition keine »Neuauszählung« der Stimmen sei. Eine solche müsse von interessierter Seite beim Obersten Gerichtshof Venezuelas beantragt werden, was bislang nicht geschehen ist.

Die Kontrollen werden im Beisein der von den Wahlkampfstäben der beiden wichtigsten Kandidaten benannten Techniker durchgeführt. Insgesamt werde die Überprüfung einen Monat dauern, nach jeweils zehn Tagen sollen Berichte zum Zwischenstand veröffentlicht werden.

Ungeachtet der nun angesetzten Kontrolle sollte am Freitag die Vereidigung des gewählten Präsidenten Nicolás Maduro durch die Nationalversammlung stattfinden. Einen Antrag, die Zeremonie abzusagen, schmetterte der Oberste Gerichtshof am Donnerstag abend ab. Nachdem der CNE Maduro zum Wahlsieger erklärt habe, sei die Vereidigung und nicht die Überprüfung der Ergebnisse die Aufgabe der Nationalversammlung. Deshalb könne die Judikative nicht in die Handlungsfreiheit der Legislative eingreifen, eine Verletzung der Verfassung liege nicht vor.

»An diesem Tag des Heimatlandes schwöre ich vor unserem Volk, daß ich den Ideen von Bolívar und Chávez treu sein werde«, kündigte der Staatschef über Twitter an. Geplant war, den offiziellen Amtseid mit einer Massenkundgebung im Zentrum von Caracas zu feiern. Am Abend sollte dann eine Militärparade auf dem Paseo de los Próceres folgen.

Am Vorabend hatten die Staats- und Regierungschefs der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) bei einem eilig einberufenen Gipfeltreffen in Lima dazu aufgerufen, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in Venezuela zu respektieren. Alle Teile der Gesellschaft müßten die vom CNE verkündeten Resultate respektieren, heißt es in dem Kommuniqué der Versammlung, an dem neben Nicolás Maduro die Staatschefs aus Argentinien, Brasilien, Bolivien, Uruguay, Chile und Kolumbien sowie als Gastgeber Perus Präsident Ollanta Humala teilgenommen hatten. Eine Kommission der UNASUR soll zudem die gewaltsamen Ausschreitungen vom 15. und 16. April untersuchen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 20. April 2013


"Maduro wird so oder so Präsident"

Nach Wahl in Venezuela wird nicht neu ausgezählt, sondern "verifiziert". Ein Gespräch mit Charbel Albert Fakhri Kayrouz **

Der Jurist Charbel Albert Fakhri Kayrouz (32) arbeitet in der Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten der Nationalen Wahlbehörde Venezuelas (CNE).

Mitarbeiter von Venezuelas Nationaler Wahlbehörde (CNE) als auch von ihm eingeladene internationale Wahlbeobachter berichteten am Tag nach der Präsidentschaftswahl vom sehr aggressiven Verhalten enttäuschter Caprileswähler ihnen gegenüber. Sie vermieden es, ihre Arbeitskleidung zu tragen, um Provokationen zu vermeiden. Selbst die US-amerikanische Anwältin und Journalistin Eva Golinger mit ihrem einjährigen Baby ist am Flughafen von Caracas von Anhängern des gescheiterten Oppositionskandidaten verfolgt und verbal angegriffen worden. Woher kommen diese Aggressionen?

Leider ist in Venezuela der soziale Konflikt so verschärft und unsere Gesellschaft stark polarisiert. Es gibt einen politischen Interessenkonflikt zwischen den Schichten, der zu Hass, Vertrauensmangel und zur gesellschaftlichen Trennung geführt hat. Unsere Realität ähnelt der in anderen Ländern Lateinamerikas. Dennoch hat die Figur „Chávez“ den Armen und denjenigen, die in den Barrios wohnen, Stärke gegeben. Sie wollen nicht mehr zu der Zeit vor Chávez zurückkehren, obwohl sie aus der Armut noch nicht herausgekommen sind. Aber sie haben große Angst vor der Rückkehr einer Rechtsregierung. Chávez hat sie viele Male davor gewarnt und sie haben natürlich recht.

Was genau sind die Aufgaben des CNE?

Der CNE ist der venezolanische Wahlrat. Er ist mehr als ein temporärer Wahlausschuß, sondern der CNE ist ein permanentes Organ, das die venezolanische Wahlgewalt darstellt. Der venezolanische Staat ist seit 1999, nach Inkrafttreten der neuen Verfassung, in fünf Gewalten geteilt. Außer der traditionellen Gewaltenteilung nach Montesquieu in Exekutive, Legislative und Judikative, gibt es auch noch die Moral- und die Wahlgewalt. Der CNE ist im Jahr 1999 mit der neuen Verfassung als ein von der Exekutive unabhängiges Organ entstanden. Es besteht aus fünf Hauptkommissaren, sogenannten Rektoren, von denen einer der Wahlgewaltpräsident ist. Die Hauptaufgaben des CNE sind es, die Wahlen zu organisieren, zu überwachen und die Wahlergebnisse zu verkünden. Außerdem den Wahlkampf oder die Wahlkampagnen zu regulieren und zu beobachten sowie die Wahlkandidaten einzuschreiben.

Seit wann sind Sie beim CNE tätig?

Ich bin beim CNE seit ungefähr einem Jahr und habe schon drei Wahlereignisse mitorganisiert: Die Präsidentschaftswahl vom 7. Oktober 2012, die Regionalwahlen vom 16. Dezember 2012 und jetzt die Präsidentschaftswahl vom 14. April 2013. Ich bin der Übersetzungskoordinator in der CNE-Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten.

Empfanden Sie die Stimmung im Vorfeld dieser Präsidentschaftswahl vom 14. April angespannter als im Oktober 2012?

Ja, ohne jeden Zweifel angespannter. Aber trotzdem war auch die Atmosphäre bei den Wahlen vom 7. Oktober extrem gespannt, besonders vor und während der Abstimmung. Weil jedoch der Oppositionskandidat Capriles die Ergebnisse des CNE schnell akzeptiert hatte, blieb die Opposition nach den Wahlen still. Im Oktober versuchte die Opposition das Symbol „Chávez“ politisch zu löschen, aber sie hatten schnell begriffen, daß der Comandante unter dem Volk noch sehr stark war. Jetzt versucht die Opposition zu demonstrieren, daß der Chavismus mit dem Tod von Chávez vorbei sei und Maduro die Führungsqualität von ihm nicht besitze. Capriles, der nur eine Wahl verloren hat, - und diese Wahl war seine Kandidatur gegen Chávez im Oktober -, will nicht schwach vor Maduro aussehen. Er hat für diese Wahl so viel Energie gegeben. Aber jetzt muß er erkennen, daß es auch noch Chavismus ohne Chávez gibt.

Die internationalen Wahlbeobachter bekamen die Möglichkeit, nicht nur mit dem Wahlkampfstab von Maduro zu sprechen, sondern genauso mit dem Wahlkampfstab von Capriles. Auch Kandidaten anderer Oppositionsparteien wurden vom CNE eingeladen, um ihre Einschätzungen abzugeben. Sie alle sagten, daß sie dem CNE nicht vertrauen würden, weil er der Regierung unterstehe und die Wahlen manipuliere. Capriles etwa sprach von 535 Wahllokalen, in denen die elektronischen Wahlmaschinen ganz oder teilweise defekt gewesen seien. Was halten Sie von den Manipulationsvorwürfen?

Das ist eine schwere Frage. Ich bin kein Techniker, um Ihnen zu garantieren, daß die Abstimmungsmaschinen nicht manipulierbar sind. Aber alle Phasen unseres Wahlsystems sind 16 Mal von Zeugen beider Parteien revidiert und geprüft worden (in jedem Wahllokal sind zwei Wahlzeugen, testigos, eingesetzt, einer von der Regierungspartei und einer von der Opposition, Anm. d. Red.). Deshalb sollte es keinen Zweifel an der Transparenz und Festigkeit der Wahlen in Venezuela geben. Das US-amerikanische Carter-Center, das auch immer internationale Wahlbeobachter schickt, hatte sogar vor 4 Jahren gesagt, daß wir weltweit das beste Wahlsystem hätten.

Die Opposition sagt, dass 3000 Regelverstöße während der Wahl gemeldet wurden. Von wem wurden diese Verstöße gemeldet und bei wem?

Die meiste Regelverstöße wurden von Sympathisanten von Capriles oder von Vertretern der Opposition gemeldet. Es gab kaum Verstöße, die von den Parteigängern von Maduro gemeldet wurden. Normalerweise sollen diese Fälle beim CNE gemeldet werden. Aber sie fallen in die Hände der internationalen oder nationalen Nichtregierungsorganisationen und der internationalen politischen Organisationen und Stiftungen. Die Parteien der Opposition archivieren auch die Regelverstöße.

Die deutschen Medien meldeten am frühen Freitag unerwartet, daß es nun doch zu einer Neuauszählung aller Stimmen kommen würde und der CNE der Forderung von Capriles damit nachkomme. Das Gremium hatte ein solches Vorgehen zuvor jedoch bereits abgelehnt.

Laut der Präsidentin des CNE, Tibisay Lucena, handelt es sich dabei nicht um eine Neuauszählung, sondern um eine Verifizierung der Abstimmungsbelege. Ich persönlich finde, daß es keinen großen konzeptuellen Unterschied zwischen beiden Vorgängen gibt, aber die Konsequenzen sind doch sehr verschieden: Bei der Auszählung kann das Wahlergebnis umkehrbar sein, aber bei der Verifizierung ändert sich das am letzten Sonntag angekündigte Ergebnis nicht. Deshalb darf Maduro als Präsident anerkannt und vereidigt werden.

Wie wird es nach der Vereidigung Maduros als neuer Staatspräsident der Bolivarischen Republik Venezuelas weitergehen?

Ich wünsche mir, daß die Opposition den Sieg von Maduro anerkennt, gleichzeitig Maduro die Legitimität seiner Gegner und deren Interessen berücksichtigt. Mit Blick auf die nahe Zukunft wird Maduro an der Regierung bleiben, aber dieses Mal ist der Chavimus viel schwächer als zu der Zeit, in der Chávez noch lebte. Es gibt jetzt ernste wirtschaftliche Probleme, unsere Währung ist schwach, die Lebensmittel sind extrem teuer. Es wird für Maduro gar nicht einfach sein. Ich glaube, daß die PSUV (Venezuelas Vereinte Sozialistische Partei) reorganisiert werden muß und daß die Ursachen des Popularitätsverlusts von Maduro analysiert werden sollten. Ich wünsche mir Frieden und Versöhnung zwischen den Venezolanern, daß der Hass endet und daß Venezuela sich sowohl wirtschaftlich als auch kulturell entwickelt. Ich wünsche mir, daß wir eines Tages einen echten Sozialismus aufbauen können.

Interview: Katja Klüßendorf

* Aus: junge Welt (online), Samstag, 20. April 2013


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