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Neue Majestät

Michael Zeuskes wichtiges Buch über die Geschichte Venezuelas

Von Helge Buttkereit *

Venezuela ist zu Recht in aller Munde.« Mit diesen Worten beendet der Kölner Lateinamerika-Historiker Michael Zeuske sein Buch über die Geschichte dieses Landes. Zeuske will Mythen abbauen, die seiner Ansicht nach sowohl in weiten Teilen der bürgerlichen Medien als auch in der Linken gepflegt werden. Deswegen stünden die Menschen und die Geschehnisse im Zentrum seines Buches und keine »Theorien« oder »Konstruktionen«. Zeuske will dabei dem Land gleichsam ein Gesicht geben, setzt immer wieder auf Kartenmaterial und vor allem auf Fakten, viele Fakten.

Materialreichtum

Zeuskes Darstellung der Geschichte des südamerikanischen Staates setzt trotz des Titels »Von Bolívar zu Chávez« vor dem »Libertador« Simón Bolívar (1783-1830) ein. Er beginnt mit der Historie der »Indígenas« und tut gut daran. Schließlich gab es den historischen Raum des heutigen Venezuela schon vor der Conquista durch das spanische Weltreich. Allerdings merkt man der knappen Skizze der Indiozeit an, daß der Schwerpunkt von Zeuskes Arbeit nicht in der »Vorgeschichte« Lateinamerikas, der Geschichte vor Kolumbus liegt. Ein wenig mehr Systematik wäre gerade im ersten Kapitel angebracht gewesen. Aber es ist schwer, einem sehr langen Zeitraum auf wenige Seiten gerecht zu werden. Die Darstellung beginnt zwar im Grunde mit dem Jahr 1500, Zeuske muß aber immer wieder in der Geschichte der ursprünglichen Bewohner der »Pariaküste« weiter zurückgreifen.

Der renommierte Forscher, der sich in seinen jüngsten Veröffentlichungen vor allem mit Kuba und Venezuela beschäftigte, verfolgt in dieser Arbeit einen recht traditionellen Ansatz. Zwar widmet er sich immer auch den Verlieren oder Außenseitern - wie den Bewohnern des Llanos, der weiten Ebene des venezolanischen Hinterlands, aus dem auch Chávez stammt -, aber er hangelt sich doch an der Chronologie der »großen« Ereignisse entlang. Bei dem Materialreichtum, den er selbst bei einem Land zu bewältigen hatte, das »immer Peripherie« gewesen ist, war das bei einer ersten umfassenden (deutschen) Gesamtdarstellung wahrscheinlich nicht anders möglich. Allerdings greift Zeuske auch immer wieder an passenden Stellen vor. Schließlich verlangt ja gerade das Venezuela von heute eine historische Erklärung. Diese Aufgabe erfüllt Zeuske. Er wird dabei besser, je mehr er sich der Gegenwart nähert.

Zwar läßt sich über die Charakterisierung des »bolivarischen Prozesses« als (nach Raul Zelik) »Reformrevolution« trefflich streiten, da das diesem Begriff zugrunde liegende jakobinische Revolutionsmodell einer grundlegenden Kritik bedarf. Aber die Beschreibung der vergangenen zehn Jahre Venezuelas unter Chávez, die zusammen mit einem knappen und sehr fundierten Porträt des Präsidenten mehr als 100 Seiten füllt, ist vor allem durch ihre Verankerung in der Gesamtgeschichte des Landes mit zum Besten geworden, was auf Deutsch bisher über Chávez und seine Politik geschrieben wurde.

Mehr Realismus

Es ist gut, daß sich Zeuske hier nicht dem dem Mainstream sowohl der Politik als auch der Wissenschaft unterwirft, sondern sich zum einen gegen die allgemeinen Verleumdungen verwahrt und zum anderen offen Partei ergreift - für die Venezolaner (und damit auch, wenngleich kritisch distanziert, für Chávez). Er hat ihnen - so kann man vielleicht sagen - für die deutschsprachigen Leser tatsächlich ein Gesicht gegeben. Das Buch ist ein Beitrag zu mehr Realismus, dem der Autor aber am Ende durchaus ein wenig Utopie beimischt: Er schaut bis über das Jahr 2020 hinaus und untermauert dies mit treffenden Worten Bolívars. Zeuske hält eine neue partizipative Gesellschaft im Verbund mit anderen lateinamerikanischen Ländern, ein Wirtschaftsmodell auf Basis erneuerbarer Energien und sozialer Rechte für möglich, die dann, in den Worten Bolívars, »der alten Welt die neue Majestät zeigt.«

Michael Zeuske: Von Bolivar zu Chávez - Die Geschichte Venezuelas. Rotpunktverlag, Zürich 2008, 619 Seiten, 32 Euro

* Aus: junge Welt, 25. Mai 2009


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