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Schleichender Putsch in Venezuela

Schriftsteller Humberto Mata über die Strategien der Opposition im aktuellen Protest *


Die Gewalt auf Venezuelas Straßen hat nach den Karnevalstagen wieder zugenommen. Die Zahl der Toten sei auf 28 angestiegen – darunter drei Polizisten –, so Luisa Ortega Díaz, Generalstaatsanwältin der Bolivarischen Republik Venezuela, am Donnerstag vor dem UN-Menschenrechtsrat. Der Schriftsteller Humberto Mata (Jg. 1949) verfolgt die angespannte Lage in Venezuela. Mit ihm sprach für »nd« Ute Evers.


Was ist für Sie der Grund für die Gewaltexplosion auf den Straßen Venezuelas? Welche Rolle spielen darin die Oppositionsführer Henrique Capriles und Leopoldo López?

Der Grund, so absurd es auch sein mag, ist ein aufrührerischer. Diese Gruppen kommen nicht auf den Gedanken von Neuwahlen, denn sie wissen, dass sie sie verlieren würden. Nach den Präsidentschaftswahlen im April 2013, die Capriles gegen Nicolás Maduro verloren und diese Niederlage bestritten hatte, gab es bereits ein ähnliches Szenario mit dem Ergebnis von mehr als einem Dutzend Toten. Dann sagte er, dass die Kommunalwahlen im Dezember 2013 zum Volksentscheid über die Regierung würden, die nach ihrer Niederlage zurücktreten müsse.

Der Erfolg der Sozialistischen Partei (PSUV) von Maduro war eindeutig. Dennoch gibt Capriles seine Ambitionen auf das Präsidentenamt nicht auf. Noch immer präsentiert er sich als ewiger Kandidat der Rechten. Venezuela kämpft zurzeit gegen eine faschistische Rechte, die die Verfassung nicht respektiert. Denn es gibt in Venezuela absolute Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Glaubensfreiheit, ethnische Gleichheit in allen Sektoren, Verteilung von Reichtum auf möglichst gerechte Weise.

Es gibt aber auch gravierende Probleme: die Unsicherheit etwa, auf die die bolivarianische Revolution noch keine Antwort hat. Indes, ist es nicht seltsam? Sobald der Präsident das Sicherheitsproblem eingesteht und alle dazu aufruft, dagegen anzugehen, antwortet die faschistische Rechte damit, dass sie die öffentliche Ordnung stört und die Friedenspläne sabotiert. Das Einzige, was sie anstrebt, ist Aufruhr, um an die Macht zu gelangen. Entweder werden sie putschen oder sie kommen nie an die Macht, weil sie die Minderheit stellen.

Zählen Sie Capriles zur faschistischen Rechten? Er hat nach langem Zögern Maduro im Januar 2014 anerkannt und pflegt inzwischen eine eher rechtssozialdemokratische Rhetorik.

Capriles ist ein Wolf im Schafspelz. Dafür nutzt ihm diese Rhetorik. Im Kern geht es ihm wie López darum, mit allen Mitteln an die Macht zu gelangen. Beide waren schon im Putschversuch gegen Chávez 2002 involviert.

Wie unterscheiden Sie die »verfassungsmäßige Rechte« von der »faschistischen Rechten«?

Überall gibt es die Rechte, ohne dass dies implizieren würde, dass sie Faschisten wären. In Deutschland gibt es sie, in Frankreich, in Italien, in Chile, in Argentinien und auch in Venezuela. Natürlich hat die Rechte eine Art, die Politik und das Leben zu verstehen, die wir nicht teilen. Aber es ist Teil der Demokratie, die Unterschiede auszuhalten. Schön wär’s, wenn das alle verstünden. Die Faschisten verstehen das jedenfalls nicht. Sie neigen zum eindimensionalen Denken, zu gewalttätigen Auswegen. Die Welt ist bunter, vielfältiger, als es sich das faschistische Denken vorstellen kann.

Nach kaum einem Jahr des Regierens wird behauptet, Nicolás Maduro sei in seiner Politik gescheitert. Wie denken Sie darüber?

Diese Presse ist so weit manipuliert, dass sie früher oder später ihre eigenen Lügen auch noch glauben wird. Ein deutscher Faschist sagte einmal: »Eine bis zum Umfallen wiederholte Lüge wird zur Wahrheit.« Genau das passiert in der nicht unabhängigen Presse weltweit: Alle wiederholen die gleiche Lüge. Kann man nach zehn Monaten schon absehen, ob eine Regierung gescheitert ist? Heute haben wir, dank dieser Regierung, mehr Universitäten und Studenten in Venezuela als je zuvor. Heute gibt es mehr Menschen mit Rentenanspruch als jemals zuvor, mehr Zentren kostenloser medizinischer Grundversorgung, mehr Wohnraum, mehr Möglichkeiten für Lebensmittel ... Wenn das eine Niederlage ist, sei sie herzlich willkommen.

Welche Zukunft geben Sie dem bolivarianischen Prozess?

Die Jahre des Erfolgs der Bolivarianischen Revolution enden nicht mit dem Tod ihres unumstrittenen Leaders. Es war ein harter Schlag. Das ja. Doch glaube ich, dass dabei einige Menschen auf erschütternde Weise reif geworden sind. Wobei das wiederum zu einer fürchterlichen Frustration bei all jenen führte, die annahmen, dass der Tod von Chávez den Tod des revolutionären Prozesses bedeuten würde. Nichts dergleichen.

Dieser für Lateinamerika und andere Regionen der Welt so schmerzhafte Tod von Chávez führte zum Bewusstsein, dass die Revolution nicht das Werk einer einzigen Person ist. Chávez selbst sagte immer wieder: Ich bin nicht die Revolution, ich bin höchstens eines ihrer Instrumente. Die Zukunft wird »Unser Amerika« sein, wie es der kubanische Dichter José Martí 1891 in seinem gleichnamigen Essay nannte. Und sie wird der bolivarianische Sozialismus sein; eine Demokratie, aber nicht nur eine Demokratie für die Wahlen, sondern eine partizipative Demokratie, eine für jeden Tag, für jede Stunde, Minute und Sekunde.

Vor Kurzem konnte man in der linksliberalen »Frankfurter Rundschau« von »Sozialistischen Repressionen« lesen. Was sagen Sie dazu?

Im venezolanischen Sozialismus gibt es keine Repression. Die gab es während des Kapitalismus der Vierten Republik. Dort wurden jene, die gegen das »demokratische« Regime opponierten, verhaftet, gefoltert, getötet. Venezuela hat das traurige Privileg, mit dem Verschwindenlassen von politischen Gefangenen begonnen zu haben. Man warf sie mit Gewichten am Körper versehen ins Meer. So gingen sie auf jeden Fall unter. Später wurden solche Methoden auch in den Diktaturen des Cono Sur angewandt – Chile, Uruguay und Argentinien –, wo sogar Gefangene aus Flugzeugen und Hubschraubern in den Río de la Plata oder ins offene Meer geworfen wurden. »Sozialistische Repressionen in Venezuela«, das ist typischer Unsinn der repressiven Presse weltweit.

Welche Botschaft würden Sie gerne Europa bezüglich der aktuellen Situation in ihrem Land vermitteln?

Dass Venezuela Objekt eines schleichenden Putsches ist, der sich zum Ziel macht, den Willen der venezolanischen Bevölkerung, den es in freien Wahlen geäußert hat, nicht anzuerkennen. Dies zugunsten von nationalen wie auch von ausländischen Interessen, die versuchen, an die unglaublichen Reichtümer des Landes Hand anzulegen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 17. März 2014


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