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Tote in Caracas

Venezuela: Rechte Opposition provoziert gewaltsame Auseinandersetzungen. Behördengebäude angegriffen. Präsident Nicolás Maduro warnt vor "nazifaschistischem Putsch"

Von André Scheer *

Bei schweren Ausschreitungen von oppositionellen Demonstranten sind am Mittwoch (Ortszeit) in Caracas drei Menschen getötet und 66 verletzt worden. Die Krawalle im Zentrum der venezolanischen Hauptstadt begannen nach einer von Regierungsgegnern organisierten Demonstration aus Anlaß des »Tages der Jugend«, mit dem Venezuela alljährlich am 12. Februar an die »Schlacht von La Victoria« erinnert. 1814 hatten Truppen des Generals José Félix Ribas im Unabhängigkeitskrieg einen Angriff der Kolonialarmee zurückgeschlagen. Ribas war dabei von Schülern und Studenten aus Caracas unterstützt worden.

In der Tradition dieser Jugendlichen sehen sich heute die Anhänger des revolutionären Prozesses in Venezuela, die am Morgen zu Tausenden ihre Unterstützung für die Regierung von Präsident Nicolás Maduro demonstriert hatten. Aber auch studentische Oppositionsgruppen präsentieren sich als Nachfolger der damaligen Freiheitsbewegung. Aus ihren Kreisen war für den Mittwoch zu einer Kundgebung gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung aufgerufen worden, an der sich schließlich mehrere tausend Menschen beteiligten. Sie sei bis zum Schluß friedlich verlaufen, erklärten Sprecher des Oppositionsbündnisses MUD am Mittwoch abend. Erst nachdem sich die meisten Teilnehmer zerstreut hätten, sei es vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft im Zentrum der Hauptstadt zu den Zusammenstößen gekommen. Diese hätten nichts mehr mit der Jugenddemonstration zu tun gehabt. Die Nachrichtenagentur AFP behauptete demgegenüber noch am Donnerstag, die Demonstration sei von Sicherheitskräften aufgelöst worden.

Tatsächlich kam es zu der Gewalt­eskalation allerdings, als rund 50 teilweise vermummte Männer – von denen einige Schußwaffen bei sich trugen – nach dem Ende der Oppositionskundgebung versuchten, das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft zu stürmen. Dabei wurden Brandsätze und Steine geschleudert. Ebenfalls angegriffen wurden das Gebäude des staatlichen Fernsehens VTV, die Telekommunikationsbehörde CONATEL, das Wohnungsbauministerium und andere Einrichtungen.

Die Behörden machen führende Vertreter der Opposition für die Gewalt verantwortlich. In Venezuela sei eine »nazifaschistische Strömung« entstanden, die versuche, die Lage für einen Staatsstreich zu bereiten, warnte Präsident Nicolás Maduro. Zugleich zeigte er sich jedoch überzeugt: »Hier wird es keinen Putsch geben!« Im ganzen Land wurden am Donnerstag Einheiten der Nationalgarde und der Polizei mobilisiert, um öffentliche Gebäude und Plätze zu schützen.

Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz informierte am Donnerstag, daß bis zu diesem Zeitpunkt 69 Personen wegen ihrer Beteiligung an den Ausschreitungen festgenommen worden seien. Haftbefehl erlassen wurde auch gegen die früheren Diplomaten Fernando Gerbasi und Iván Carratú Molina. Diese hatten sich schon Tage zuvor telefonisch über die zu erwartende Gewalt unterhalten und offenbar eine Situation wie die während des Putsches vom 11. April 2002 erhofft. Der Mitschnitt war am Dienstag abend von VTV veröffentlicht worden. Einem Bericht der rechten Tageszeitung El Universal zufolge fahndet die Polizei inzwischen auch nach Oppositionsführer Leopoldo López, dem Anstiftung zur Gewalt zur Last gelegt wird.

* Aus: junge welt, Freitag, 14. Februar 2014


Blutiger »Tag der Jugend« in Venezuela

Bei Protesten gegen die Regierung von Maduro werden drei Menschen aus beiden Lagern getötet

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires **


Mindestens drei Menschen kommen rund um Proteste gegen die sozialistische Regierung in Venezuela ums Leben. Die Zeichen stehen weiter auf Konfrontation.

Die Befürchtungen wurden wahr: Auseinandersetzungen am »Tag der Jugend«. Während Regierung und Anhänger der bolivarianischen Revolution den 200. Jahrestag der Unabhängigkeitsschlacht von La Victoria feierten, marschierten in zahlreichen Städten regierungskritische Studierende und die politische Opposition auf den Straßen. Mindestens drei Tote, zahlreiche durch Schüsse Verletzte und über 70 Festnahmen, lautet die vorläufige Bilanz. Bei den Todesopfern handele es sich um einen Anhänger der Regierung und um zwei oppositionsnahe Studenten, erklärte am Mittwoch Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Diaz. Sie seien in der Hauptstadt Caracas durch Schüsse getötet worden.

Venezuelas oppositionelle Studenten hatten für den 12. Februar einen landesweiten Protesttag angekündigt. Ausdrücklich riefen sie die politische Opposition zur Teilnahme auf. Demonstrativ trafen sich Studentenvertreter zuvor mit Henrique Capriles, dem Oppositionsführer und Gouverneur des Bundesstaates Miranda. Capriles selbst nahm jedoch an den Protesten nicht teil.

»In Táchira wurden zwei Studenten durch Revolverkugeln und über 20 durch Schrotmunition verletzt. In Nueva Esparta wurden sieben festgenommen, fünf in Táchira und drei in Merida«, so Gaby Arellano vom Studierendenrat der Universidad de Los Andes. Dort gehen die Proteste schon in die zweite Woche. Die Forderungen dabei sind ein Ende der Korruption und der Gewaltkriminalität. Die Demonstranten werden dabei immer wieder von organisierten Schlägertrupps angegriffen, die der Regierung nahestehen sollen.

Vielerorts waren die Menschen am Mittwoch auf die Straße gegangen. Wie angekündigt zogen sie vor die örtlichen Regierungs- und Justizgebäude und forderten die Freilassung der Verhafteten. In der Hauptstadt Caracas marschierten mehrere 10 000 Menschen von der Plaza Venezuela über die Avenida Libertador zum Sitz der Generalstaatsanwaltschaft. Dabei kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, aber auch mit Anhängern der Regierung.

Nach Augenzeugenberichten hatte eine bewaffnete und motorisierte Bande das Feuer auf die bereits abziehenden Demonstranten eröffnet. Ein 24-jähriger Student wurde am Kopf getroffen und starb. Ein Mitglied einer regierungsfreundlichen Organisation wurde nach Angaben seiner Anhänger »hinterhältig von Faschisten ermordet«. Später in der Nacht kam ein Demonstrant im Stadtteil Chacao von Caracas ums Leben.

»Wir sind mit der Entwicklung eines Staatsstreiches gegen die Demokratie und gegen meine Regierung konfrontiert«, so Präsident Nicolás Maduro in seiner Festrede zum Jahrestag der Schlacht von La Victoria. »Es gibt eine faschistische Gruppe, die die Demokratie ausnutzen, und sich darauf vorbereiten, die Regierung zu stürzen.« Ohne sie namentlich zu erwähnen, zielte der Nachfolger des vor einem Jahr verstorbenen Hugo Chávez damit auf Leopoldo López, Antonio Ledezma und María Corina Machado.

Leopoldo López, Leiter der kleinen, sich sozialdemokratisch gebenden Partei Voluntad Popular (Volkswille), Antonio Ledezma, ebenfalls sozialdemokratisch orientiert und Oberbürgermeister von Caracas und die unabhängige konservative Abgeordnete der Nationalversammlung María Corina Machado haben sich zu den neuen Lieblingsfeinden der Regierung entwickelt. Sie setzen auf ein Ende der chavistischen Regierung durch den Druck der Straße. Hintergrund ist, dass Henrique Capriles zwar noch immer als Nummer eins der Opposition gilt, bereits aber mehrfach bei Wahlen geschlagen wurde.

López, Ledezma und Machado hatten sich am Dienstag demonstrativ auf der Straße gezeigt. Machado äußerte sich anschließend: »Angesichts einer despotischen Regierung ist die Antwort die Straße und die Organisation der Bürger. Wir sagen denen, die uns unterdrücken, dass wir weiter auf die Straße gehen, denn wir wollen dieses Regime ändern.« Gegen López wurde als (Mit-)Verantwortlicher für die Geschehnisse vom Mittwoch inzwischen ein Haftbefehl erlassen.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 14. Februar 2014


Machtkampf auf der Straße

Martin Ling über die angespannte Lage in Venezuela ***

Nötig ist sie zweifelsohne: die Befriedungskampagne, die Venezuelas Präsident Nicolás Maduro am Freitag verkünden will. Ob sie verfangen kann, ist allerdings nach den Ereignissen am »Tag der Jugend« fraglicher denn je. Proteste für und gegen die Regierung ist Venezuela gewohnt, Proteste mit Todesopfern sind glücklicherweise die Ausnahme.

Proteste mit Todesopfern sind immer ein Alarmzeichen: Die Toten nach den Präsidentschaftswahlen im April 2013 sind dafür ebenso ein Beispiel wie die Toten vom April 2002, mit denen der vom Unternehmerverband und der CIA gegen Chávez orchestrierte Militärputsch der Weltöffentlichkeit vermittelt wurde. Er scheiterte am Aufstand der Armen, die mit ihrem Marsch von den Elendshügeln aufs Regierungsviertel in Caracas Hugo Chávez binnen 48 Stunden wieder inthronisierten.

Venezuelas Straße entschied 2002 über die Regierungsmacht. 2014 haben die führenden Oppositionsvertreter offen bekundet, den bis 2019 gewählten Präsidenten Nicolás Maduro mit dem Druck der Straße stürzen zu wollen. In der polarisierten Gesellschaft Venezuelas, in der Machtkämpfe mit harten Bandagen ausgefochten werden, verheißt das nichts Gutes: Es verheißt Gewalt.

Präsident Maduro steht seit Amtsantritt unter politischem Druck, die schwächelnde Wirtschaft verstärkt ihn. Für die Befriedung der Gesellschaft muss er die Wirtschaft wieder in Gang bringen. Alles andere ist Munition für die Opposition.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 14. Februar 2014


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