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Vietnam - 35 Jahre nach der Befreiung des Südens

Trotz großer Fortschritte ist das Kriegserbe nicht gänzlich getilgt

Von Stefan Kühner *

Vietnam feiert in diesen Tagen. Zwei Ereignisse treffen zusammen: der 35. Jahrestag der Befreiung Südvietnams am 30. April und der 120. Geburtstag Ho Chi Minhs am 19. Mai.

Mit der Befreiung Saigons am 30. April 1975 ging für die Vietnamesen ein langer Krieg zu Ende. Seiner Opfer wird gedacht, gleichzeitig feiert das Land die Erfolge des Wiederaufbaus - insbesondere die stürmische Entwicklung der vergangenen 15 Jahre.

Für weit über die Hälfte der Bevölkerung ist der Blick zurück reine Geschichte. Sie hat den Krieg glücklicherweise nicht selbst erlebt. Vietnams Bevölkerung ist jung. Das Durchschnittsalter liegt bei 27,5 Jahren. 30 Prozent der Vietnamesinnen und Vietnamesen sind jünger als 15 Jahre. Etwa ebenso viele Menschen sind zwischen 15 und 30 Jahre alt. Und wie überall auf der Welt wollen junge Leute das Leben genießen. Vor allem in den großen Städten wie Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt zeigen sich Jugendliche selbstbewusst in schicker Mode und mit ihren neuen Mopeds, auf denen sie vor allem am Abend ihre Runden drehen - und das eh schon gewaltige Verkehrschaos noch verstärken. Sie können es sich offensichtlich leisten.

Vietnams Wirtschaft wächst seit mehreren Jahren mit Zuwachsraten von 8 Prozent und mehr. Selbst im Krisenjahr 2009 lag das Wachstum noch deutlich über 5 Prozent. Wohin man in Vietnam blickt: Überall wird gebaut und modernisiert - Straßen, Brücken, Ladengeschäfte, Bürogebäude und Fabriken. Die wachsende Wirtschaft hat vielen geholfen, der Armut zu entkommen. Auch auf dem Land gibt es heute Strom und in der Regel fließendes Wasser. Die einfachen strohbedeckten Hütten sind weitgehend verschwunden. Feste Steinhäuser nehmen ihren Platz ein, auch wenn der Raum, den eine Person für sich beanspruchen kann, klein ist.

Nach der fast völligen Zerstörung des Landes durch den Krieg und einer mehr als zehnjährigen Phase des Boykotts durch die USA und die mit ihr verbündeten Staaten verläuft die wirtschaftliche Entwicklung für viele Vietnamesen rundum positiv. Aber sie vollzieht sich nicht uneingeschränkt gleich oder gar gerecht. Es gibt wieder eine Schere zwischen Arm und Reich. Das Stadt-Land-Gefälle ist unübersehbar, die Arbeitsbedingungen in den Fabriken sind häufig hart und ausbeuterisch. Unter oftmals unmenschlichen Bedingungen werden in Vietnam Schuhe, Kleider, Lebensmittel und sogar Schiffe für den Weltmarkt produziert. Arbeitsschutzbestimmungen sind kaum vorhanden. Wo sie existieren, bleiben sie weitgehend unkontrolliert. Private heimische und ausländische Investoren lassen Fabriken aus dem Boden schießen, Wohnungen oder gar Kindergärten und andere soziale Einrichtungen fehlen dagegen. Die Sozialversicherungssysteme sind noch unterentwickelt.

Aber die Vietnamesen beginnen, unterstützt durch ihre Regierung, Verbraucherschutzvereinigungen, Arbeitsschutzsysteme und Krankenversicherungen aufzubauen. Vieles ist freilich noch nicht entschieden, so auch die Frage, ob sich Renten- und Krankenversicherungen in öffentlichen oder staatlichen Systemen etablieren oder ausschließlich in die Hände internationaler Versicherungskonzerne fallen.

Trotz aller Erfolge sind längst nicht alle Hinterlassenschaften des Krieges überwunden. Zu den schlimmsten zählen die Spätfolgen von Agent Orange, jenes hochgiftige, mit Dioxin belastete Pflanzenvertilgungsmittel, das die USA zwischen 1961 und 1969 über weite Gebiete Südvietnams versprühten, um der Befreiungsbewegung die Deckung des Dschungels zu nehmen und die Bevölkerung durch Zerstörung der Reisfelder in den Hunger zu treiben. Bis heute leiden schätzungsweise drei Millionen Menschen an den Wirkungen dieser chemischen Kampfstoffe. Ein Ende der Tragödie ist nicht absehbar, da die durch Dioxin verursachten genetischen Fehlbildungen über mehrere Generationen weitergegeben werden.

* Der Autor ist stellvertretender Vorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Vietnam.

Aus: Neues Deutschland, 30. April 2010



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