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Vietnam stürzt ab

Aus der Traum vom "Tigerstaat" – globale Finanzkrise, Inflation und Abschwung in den USA bringen Wirtschaft des Landes aus dem Tritt

Von Waldemar Bolze *

Was unter Investoren und Analysten bis vor kurzem noch als »attraktivstes Investitionsziel unter den Schwellenländern« (Beratungsgesellschaft Price­waterhouseCooper) gefeiert wurde, gilt nun als besonderer Schwachpunkt, der »das Gespenst einer Asienkrise nährt«, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 4. Juni. Die Rede ist von Vietnam. Das südostasiatische Land, bislang einer jener neuen »Tigerstaaten« mit exorbitantem Wachstum, erlebt derzeit einen Einbruch nach dem anderen. So verlor der vietnamesische Aktienindex seit Jahresbeginn 56 Prozent seines Wertes, nachdem er sich von Ende 2005 bis März 2007 verdreifacht und damit weltweit an der Spitze gelegen hatte. Inzwischen ist der VN-Index jedoch auf das Niveau vom Sommer 2006 gesunken. Zugleich erwarten Experten für die vietnamesische Währung Dong in diesem Jahr eine Abwertung von mindestens 26 Prozent gegenüber dem US-Dollar, obwohl die US-Währung selbst stark schwächelt. Nach Einschätzung der Investmentbank Morgan Stanley ist gar mit einer akuten Währungskrise zu rechnen. Die Kreditbewertungsagentur Fitch Ratings stufte Vietnams Entwicklungsperspektive von »stabil« auf »negativ« (Rating BB-) herab.

25 Prozent Teuerung

Die Inflation erreicht derzeit neue Höchststände. Hatte sie im vergangenen Jahr noch bei 7,9 Prozent gelegen, so stieg sie im April 2008 auf 21,4 Prozent und im Mai auf 25,2 Prozent. Die Nahrungsmittelpreise lagen sogar um 42 Prozent über dem Vorjahreswert. Diese Rahmenbedingungen bleiben nicht ohne Folgen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. So verdreifachte sich in den vergangenen vier Monaten das ohnehin schon hohe Handelsbilanzdefizit. Die Regierung in Hanoi sah sich gezwungen, das prognostizierte Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 8,5 Prozent auf sieben Prozent zu senken.

Ursache für den Absturz sind in erster Linie die internationale Finanzkrise und der Nachfragerückgang in den USA, die Hauptabnehmer der vietnamesischen Exportprodukte waren. Aber auch hausgemachte Probleme im Rahmen der seit 1986 betriebenen »Doi Moi«-Politik der wirtschaftlichen Öffnung, Liberalisierung und Privatisierung zeigten Wirkung. Anfang des Jahres hatte Jonathan Pincus vom UN-Entwicklungsprogramm noch wie einsamer Mahner gewirkt, als er sagte: »Derzeit werden Unternehmen sogar dazu ermutigt, mit Immobilien und Aktien zu spekulieren, mit denen sie schnelle Gewinne realisieren können. Das hilft der vietnamesischen Volkswirtschaft wenig.« Die daraus entstandene Spekulationsblase ist nun geplatzt. Ein sicheres Indiz dafür, wie scharf die Marktbereinigung ist, stellt nicht nur die ungebremste Baisse auf dem Börsenparkett, sondern vor allem die »Verkaufslaune« der Vietnamesen selbst dar, auf die die FAZ Anfang Juni hinwies: »Sie betreiben seit Jahren einen schwunghaften Grau- und Schwarzhandel mit Aktien von Internetcafés und Kneipen aus und haben ihr Ohr in der Regel wesentlich dichter am Markt als Fondshändler in London oder Frankfurt.«

Natürlich mangelt es seitens der westlichen Investoren nicht an Vorschlägen, wie der Krise zu begegnen sei. Der Deutschen Bank zufolge braucht Vietnam »ein Sanierungsprogramm, wie es der Internationale Währungsfonds in Not geratenen Ländern vorschreibt«. Notwendig sei eine Straffung der Geldpolitik, eine kräftige Abwertung des Dong, die Verstaatlichung zahlungsunfähiger Banken sowie die Übernahme fauler Kredite durch die öffentliche Hand.

Immer mehr Streiks

Angesichts der ebenfalls zunehmenden Welle wilder Streiks für höhere und pünktlich ausgezahlte Löhne, mehr Rechte und bessere Arbeitsbedingungen, ist fraglich, ob die Regierung unter dem ehemaligen Zentralbankgouverneur und heutigen Ministerpräsidenten Nguyen Tan Dung eine solche Roßkur wagt. Der Mindestlohn beträgt gegenwärtig eine Million Dong (etwa 40 Euro) in ausländischen Firmen – ein Betrag, der schon bislang kaum zum Leben reichte und nun durch die hohe Inflation weiter an Wert verliert. Als Reaktion darauf stieg die Zahl der Streiks in den ersten vier Monaten diesen Jahres auf 295. 2007 waren insgesamt 541 und im Vorjahr 387 Ausstände gezählt worden. Laut einer Ende Mai vom offiziellen Gewerkschaftsbund Viet Nam General Confederation of Labour (VNGCL) zu diesem Thema organisierten Konferenz verletzten alle diese Streiks das rigide Arbeitsrecht. Die meisten wurden nicht von Gewerkschaften organisiert, wie es das Gesetz vorschreibt. Verschiedenen Tagungsteilnehmern zufolge liegt das in erster Linie daran, daß Mitglieder der offiziellen Gewerkschaften »unwillig« sind, Streiks zu leiten, da »viele von ihnen von den bestreikten Unternehmern bezahlt werden und viele von denen, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen, schnell ohne einen Job dastehen«.

Nach Ansicht von Nguyen Van Binh, einem führenden Funktionär des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes, ist es unter den gegenwärtigen Bedingungen für Basisgliederungen der Gewerkschaften unmöglich, den Beschäftigten bei der Organisierung von Streiks zu helfen. »Es ist notwendig, das Arbeitsrecht, das Gewerkschaftsgesetz und die gewerkschaftlichen Regularien zu ändern«, sagte er. Luu Van Sung, Wissenschaftler vom Ho Chi Minh National Politics Institute trat für die Schaffung einer Stiftung ein, um den Gewerkschaften bei Arbeitsniederlegungen zu helfen. Der Vertreter des Arbeits- und Sozialministeriums, Nguyen Le Binh, war indes mehr um die Eindämmung und Kontrolle solcher Kampfaktionen bemüht. Sie müßten rechtzeitig vorher angekündigt werden, und ehe sie durchgeführt würden, habe ein »Versöhnungsprozeß« mit den Arbeitgebern stattzufinden.

* Aus: junge Welt, 19. Juni 2008


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