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Der Schatten des Tigers

Vietnam boomt – doch nicht alle profitieren davon: Eine Tour mit dem Rikschafahrer Lee durch die aufstrebende Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt

Von Thomas Berger *

Mit einem Ruck schwingt sich Lee auf den Sattel und tritt in die Pedale. Seit mehr als 20 Jahren steuert er sein Cyclo, die vietnamesische Variante der im etlichen Ländern ­Asiens verbreiteten Fahrradrikscha, durch das Zentrum von Ho-Chi-Minh-Stadt. Damit gehört er einer langsam aussterbenden Spezies an, denn die Kommunalpolitiker wollen diese Gefährte nach und nach gänzlich aus dem Stadtbild der südlichen Wirtschaftsmetropole der Sozialistischen Republik Vietnam verbannen. Mehrere Straßen sind für sie bereits gesperrt, was dazu führt, daß Lee und seine Kollegen auf manchen Touren eigentlich unnötige Umwege fahren oder andernfalls Ärger mit der Polizei riskieren müssen.

Der Mittvierziger, beim Lächeln zwei Reihen schlechter Zähne entblößend, kann sich jedoch nichts anderes vorstellen, als auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch wenn das immer schwieriger wird. Denn abseits der behördlichen Restriktionen und des stetig zunehmenden Verkehrs fällt die Verdienstspanne immer geringer aus. Umgerechnet drei Dollar die Stunde hat er seinen überwiegend ausländischen Fahrgästen, die als Touristen in der Stadt sind, noch 2003 berechnet. Inzwischen kommt er selbst mit fünf Dollar kaum auf einen grünen Zweig. Grund sind die deutlich gestiegenen Lebenshaltungskosten.

Lee kennt HCMC, wie das frühere Saigon schriftlich meist nur abgekürzt wird, wie seine Westentasche. Selbstmörderisch mag es Außenstehenden erscheinen, wie er sich in das Getümmel an den großen Kreuzungen stürzt. Doch das ist alles eine Sache der Übung. Was wie Chaos anmutet, folgt seinen eigenen Regeln, und irgendwie schaffen es all die unterschiedlichen Fahrzeuge, auch während des Abbiegens beim zugleich geradeaus rollenden Verkehr meist ohne Zusammenstöße einander auszuweichen. Nur wenige Zentimeter, mitunter kaum ein Fingerbreit, können dabei entscheidend sein und einen drohenden Crash noch einmal knapp verhindern.

Vietnam boomt, HCMC ganz besonders, und das ist nicht nur an, sondern auch auf den Straßen spürbar. Immer mehr Menschen gibt es, die zumindest ein motorisiertes Zweirad neueren Modells ihr eigen nennen. Hinzu kommen all die Autos, die es früher auch längst nicht in dieser Zahl gegeben hat – darunter viele Mittelklassewagen und nicht wenige Luxusschlitten. Deren Verkaufszahlen, hat erst unlängst eine Tageszeitung vermeldet, steigen bei den meisten Herstellern im zweistelligen Prozentbereich. Angesichts all des Motorenlärms und chromblitzender Karossen muten Lee und die anderen Rikschafahrer mit ihren Cyclos in der Tat ein wenig mittelalterlich an, und es ist nicht leicht, sich täglich gegen diese wachsende Blechlawine zu behaupten.

Der Aufschwung

Es gab Zeiten, da war Cho Lon ein Viertel ganz eigener Art. Inzwischen ist auch dieser Stadtteil, wo sich seit über einem Jahrhundert die chinesische Minderheit konzentriert, sozusagen im 21. Jahrhundert angekommen, vom Aufschwung Marke Vietnam mitgerissen worden. Baulücken werden nicht mehr auf traditionelle Weise mit Drei- bis Fünfgeschossern geschlossen. An verschiedenen Stellen wachsen riesige Betonklötze in die Höhe, die ihre Umgebung um ein Vielfaches überragen. Das ist überall in der Stadt zu beobachten, besonders gefragt sind die Eckgrundstücke an großen Kreuzungen. Und auch im Herzen von Cho Lon, auf einem etwa ein Hektar großen Areal, eingerahmt von vier Straßen, wird bald ein solcher Koloß stehen. Noch ist das Gelände eine riesige Baustelle, auf der überall Material herumliegt, Kräne und Bagger ihre Arbeit begonnen haben. Nicht mehr lange, und ein mindestens 25 Stockwerke hohes Wohn- und Geschäftsgebäude wird sogar das bereits imposante Nobelhotel eine Ecke weiter deutlich übertrumpfen.

Auf Kurs »Doi Moi«

Unter anderem für solche Bauvorhaben waren vor zwei Jahrzehnten die zentralen Weichenstellungen erfolgt. 1986 begann in Vietnam der ökonomische Liberalisierungskurs, Doi Moi genannt – der Schwenk in Richtung Marktwirtschaft, der sich seit den frühen neunziger Jahren noch verstärkt hat. Ähnlich dem chinesischen Vorbild gilt es seither nicht mehr als anstößig, reich werden zu wollen; so hat sich eine wohlhabende Oberschicht im Land herausgebildet, die früher unvorstellbar gewesen wäre. Eine Managerkaste, die neu angehäuften Reichtum auch entsprechend zur Schau stellt. Dazu die mittleren und höheren Angestellten, die dem wenigstens eine Stufe tiefer nachzueifern suchen.

Wenn Lee seine Runden durch die City dreht, dann kommt er auch an solchen Straßen entlang, wo sich die dementsprechende Infrastruktur herausgebildet hat. Die etliche Kilometer lange Nguyen Trai zum Beispiel, in der sich eine Nobelboutique an die andere reiht. Wenn auf den Laufstegen in Paris, Rom oder New York neue Moden vorgestellt werden, sind sie wenig später auch hier erhältlich. Über Lautsprecher nach draußen schallende westliche Musikhits sollen die Kaufanimation für die zugehörigen Bekleidungs­angebote verstärken. Einige Schaufensterpuppen sind auf dem Bürgersteig bis fast an den Straßenrand vorgerückt. Der Rikschafahrer und seinesgleichen können sich solche Gegenden für Einkäufe nicht leisten. Doch es gibt einige, denen es noch schlechter geht, die vom Boom noch weniger etwas haben.

Die Benachteiligten

Noch immer in Cho Lon, führt Lees Weg vorbei an einigen chinesischen Apotheken mit getrockneten Pilzen, eingelegten Schlangen, Raubtierkrallen und anderen seltsam anmutenden Heilmitteln, zum Binh-Tay-Markt. Ein tempelähnliches Gebäude mit dunkelgelber Fassade, das einen großen Innenhof umspannt und auf zwei Etagen das Einkaufszentrum des kleinen Mannes ist. Billigbekleidung, Hüte, Motorradhelme und Haushaltswaren unterschiedlichster Art werden an den Ständen angeboten, ein buntes Sammelsurium von Waren, die von den Händlern teils lautstark angepriesen werden. Vor der Markthalle lungern einige zerlumpte Gestalten herum – Straßenkinder, die offenkundig zu den Verlierern der neuen Wirtschaftspolitik zählen. Eindringlich betteln sie um etwas Geld, ein etwa neunjähriger Junge trägt sein Brüderchen auf dem Arm, während ein Mädchen nebenan seine kleine Schwester schüchtern vor sich herschiebt.

Waisen, kinderreiche Familien, Alleinerziehende und Alte mit kleinen Renten – es gibt etliche, die noch mehr als bisher ins Hintertreffen geraten. Vietnam, der neue »Tigerstaat« Südostasiens, der sich wirtschaftlich rasant entwickelt, wirft einen immer breiteren Schatten, in dem all die Benachteiligten leben, die aus verschiedenen Gründen die Chancen nicht für sich nutzen können. Einer wachsenden wohlhabenden Mittelschicht steht eine ebenfalls zunehmende Zahl jener gegenüber, die sich als Verlierer jenes seinerzeit als »vietnamesische Perestroika« apostrophierten Politikwechsels sehen müssen. Waren einige schon immer bitterarm, hat sich bei anderen die persönliche Lage erst in letzter Zeit dramatisch zum Schlechteren gewendet.

Auch den Politikern sind solche Entwicklungen bewußt. Kommunistische Partei, Regierung und lokale Behörden versuchen jeweils auf ihre Weise, wenigstens extreme soziale Verwerfungen zu mildern. Gerade angesichts der rapide steigenden Lebenshaltungskosten sollen verschiedene Wohlfahrtsprogramme verstärkt werden, um besonders notleidenden Bevölkerungsgruppen zu helfen. Ein bisweilen hilflos erscheinender Versuch zu verhindern, daß die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft.

Buhlen um Investoren

Wer Geld hat, kann sich inzwischen alles kaufen. Die USA, einst Kriegsgegner, sind längst zu einem der wichtigsten Handelspartner aufgestiegen. Amerikanische Firmen konkurrieren mit europäischen und japanischen oder südkoreanischen Rivalen um die beste Ausgangsposition. Längst haben Markennamen Einzug gehalten, die in nahezu jeder anderen Metropole auf dem Erdball ebenso zu finden sind: Für die Vietnamesen, zumindest in den urbanen Zentren des Landes, gehören Carlsberg, Coca-Cola und Pepsi, Honda, Mercedes und Chevrolet, Philips und Samsung mittlerweile zum Alltag. Klimatisierte Shoppingcenter unterscheiden sich nur wenig von ihren Vorbildern in London und Paris, Chicago oder Shanghai. Auf etlichen Etagen bieten sie entsprechend hochwertige, teure Waren für die, die über das nötige Kleingeld verfügen – die anderen dürfen immerhin sehnsuchtsvoll-neidische Blicke auf die glitzernden Auslagen werfen, in denen manches Einzelstück mehr kostet als ihr gesamtes Jahreseinkommen.

Vietnam buhlt in Konkurrenz mit seinen Nachbarn in der ASEAN (Verbund Südostasiatischer Nationen) wie Thailand und Malaysia um ausländische Investoren. Daß viele davon die Sozialistische Republik vorziehen, liegt an den immer günstigeren Rahmenbedingungen, die ihnen hier geboten werden. Immer mehr Restriktionen werden aufgehoben; neuerdings sind sogar Immobilienkäufe durch Ausländer in beschränktem Rahmen erlaubt. Ein entsprechendes Gesetz soll zur Jahresmitte vom Parlament verabschiedet werden. Und gab es anfangs lediglich Joint-ventures mit einheimischen Unternehmen, sind inzwischen auch Firmen mit hundert Prozent ausländischer Eigentümerstruktur zugelassen. Lediglich als juristisch verantwortliche Person wird noch ein vietnamesischer Staatsbürger vorgeschrieben.

Haifischbecken

Seit das Land 2007 als 150. Mitglied in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen wurde, wurde der marktwirtschaftliche Kurs noch verstärkt. Häufig werden letzte Hürden abgebaut, die ungehindertes Agieren internationaler Konzerne bisher erschwerten. Zwar werden auch Staatsbetriebe umstrukturiert, um sich im neuen Umfeld behaupten zu können, sie agieren aber oft schwerfälliger als die ausländische Konkurrenz. Und auf jeden, der den vermeintlichen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär in die Realität umsetzen konnte, als Sohn oder Tochter aus einfachsten Verhältnissen nun als Generaldirektor über mehrere tausend Angestellte gebietet, kommen etliche andere, die es nicht geschafft haben und jetzt bis zum Hals in Schulden stecken. Nicht jeder findet so schnell selbst heraus, wie sich in diesem Haifischbecken überleben läßt.

Die neue ökonomische Politik der jetzigen Führungsgeneration in Partei und Regierung, sie hat Ho-Chi-Minh-Stadt mehr noch als die Hauptstadt Hanoi zum prunkvollen Aushängeschild des Landes gemacht, aber auch neue Gräben gezogen. Allein die Zahl der Mobilfunkkunden wird sich dieses Jahr gegenüber 2006 auf geschätzte 1,12 Millionen veranderthalbfachen, die Importzölle auf Autos und andere Luxuswaren sind rapide gefallen und werden teilweise noch weiter sinken. Demgegenüber gibt es etliche Familien, die Schwierigkeiten haben, ihre Kinder gut zu versorgen. An der Notre Dame, der großen Kathedrale im Stadtzentrum, verkaufen Mädchen Ansichtskarten und Bücher an Touristen – ein notwendiger Zusatzverdienst.

Feierabend

Für Lee geht ein weiterer anstrengender Arbeitstag zu Ende. Nach einem Bier in einem der billigen Straßenlokale, um all den Kampf gegen Hitze und Verkehrschaos herunterzuspülen, schwingt er sich ein letztes Mal auf sein nun leeres Gefährt, um die Heimfahrt in sein Stadtviertel anzutreten. Am nächsten Morgen wird er wieder auf Passagiere warten, stundenlang Abgase einatmen und sich durch die Massen von Mopeds, Taxis und Privatwagen drängeln.

* Aus: junge Welt, 3. Mai 2008 (Wochenendbeilage)


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