In ihren Gesichtern steht ein Lächeln
Nach den Orientierungskursen wissen die Frauen in der vietnamesischen Provinz Nghe An um ihre verbrieften Rechte
Von Ilona Schleicher *
In Orientierungskursen lernen Frauen in der Provinz Nghe An, dass sie
verbriefte Rechte haben. Eine der ersten dieser
Aufklärungsveranstaltungen organisierte die vietnamesische Frauenunion
im Kreis Thanh Chuong unweit der Provinzhauptstadt Vinh.
Es gibt keine Veranstaltung der Frauenunion, die nicht mit einem
gemeinsamen Lied beginnt. Voller Hingabe stimmt eine junge Frau das Lied
vom »Land der blauen Wasser und der grünen Berge« an. Es erzählt von der
Heimatprovinz Nghe An, der schönen. Ihre kargen Böden, der heiße Wind im
Sommer und Taifune während der Regenzeit verlangen den Bauern alles ab.
Aber die Menschen lieben dieses Land. Sie sind stolz darauf, dass seine
Bewohner ihre Heimat seit Jahrhunderten immer wieder zum Schauplatz
wichtiger Ereignisse der Geschichte Vietnams gemacht haben.
Wiederaufbauhilfe aus der DDR
Hier wurde auch Ho Chi Minh geboren und geformt. Hier leisteten die
Menschen Unglaubliches bei der Abwehr des Bombenterrors während des
»amerikanischen Krieges«. Es waren Frauen, die unter Lebensgefahr die
zerbombten Straßen immer wieder flickten, damit der Nachschub vom Hafen
südöstlich von Vinh zum Ho-Chi-Minh-Pfad in den Bergen nicht abriss. Von
hier gelangte er zu den Kämpfern im Süden. Bis kurz vor der
Unterzeichnung des Pariser Abkommens über die Beendigung des Krieges im
Januar 1973 klinkten US-amerikanische Bomber ihre tödliche Last über
Nghe An aus. Sie verwandelten die Provinzhauptstadt Vinh in ein Trümmerfeld.
»Für ausländische Besucher ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen,
dass das alles nicht vergessen ist«, erklärt mein Begleiter Phuong,
geboren im Jahre 1971. Er könnte mein Sohn sein. Phuongs Mutter war
Mitglied einer der Frauen-Reparaturbrigaden. Sie arbeitete an der Straße
von der Küste in die Berge, mit dem Baby auf dem Rücken. Phuong war erst
wenige Monate alt, als er mit seiner Mutter bei einem Bombenangriff
verschüttet wurde. Die Mutter starb einige Zeit später an den Folgen.
»Wir haben auch nicht vergessen, dass Spezialisten aus der DDR geholfen
haben, Vinh wieder aufzubauen«, schaltet sich Nguyen Thi Ha ein,
Projektkoordinatorin und Leiterin des beruflichen Trainingszentrums der
Frauenunion (VTC) in Vinh. Es bewegt sie, dass einfache Leute damals wie
heute ihrer Heimatstadt Vinh, einst Patenstadt der DDR, und den Menschen
in der Provinz Nghe An solidarisch verbunden sind. »Wir wissen, dass
einfache Leute, sogar Rentner und Arbeitslose, für unser gemeinsames
Projekt mit SODI Geld geben. Sie alle und das deutsche
Entwicklungsministerium können sicher sein, dass Spenden und
Fördermittel sorgsam und mit hohem Nutzen eingesetzt werden.« Dies sagt
sie auch den Teilnehmerinnen des Orientierungskurses. Die Frauen stimmen
ihr mit einem weiteren Lied zu. In ihren Gesichtern steht ein Lächeln.
Die meisten Kursteilnehmerinnen haben bereits ein berufliches Training
am VTC absolviert, zum Teil bereits vor Beginn des SODI-Projekts. Über
hundert Multiplikatorinnen, die zuvor von der Frauenunion geschult
worden waren, haben in Gemeinden des Kreises Thanh Chuong Frauen
motiviert, sich beruflich zu qualifizieren und zu lernen, die eigenen
Interessen zu vertreten. Frauen von hier haben sich sowohl für
Computerkurse als auch für eine Ausbildung in Gastronomie und Kosmetik
angemeldet.
Die 21-jährige Tran Thi Dien hat die berufliche Grundausbildung für
künftige Friseurinnen und Kosmetikerinnen bereits mit Bravour beendet
und will in dem Orientierungskurs mehr über die Lage auf dem
Arbeitsmarkt in ihrem Kreis erfahren. Sie ist auf der Suche nach Arbeit
und optimistisch, dass ihr das Zertifikat über die Ausbildung am VTC
Türen öffnen wird. Die zwanzig Jahre ältere Nguyen Thi Thanh, Mutter
dreier Kinder, will nach der dreimonatigen Qualifizierung in Kochen und
Gastronomie mit Hilfe eines Kleinkredits ein Restaurant einrichten. Zwei
Frauen will sie gleich zu Beginn einstellen. Für beide ist - wenn auch
aus einer unterschiedlichen Perspektive - die Kenntnis des
Arbeitsgesetzes und der Rechte der Frauen wichtig.
Auf dem Papier gibt es klare Regelungen
Die junge Tran Thi Dien möchte bald heiraten. Natürlich will sie auch
Kinder haben. Aber was passiert dann mit ihrem Job? Im Kurs erfährt sie,
dass es dafür im Arbeitsgesetzbuch Vietnams klare Regelungen gibt. Das
Gesetzeswerk wurde 1994 verabschiedet und 2002 wesentlich überarbeitet
und ergänzt. Derzeit wird es weiterentwickelt. Das Arbeitsgesetz
enthält, so erfahren Tran Thi Dien und die anderen Frauen, ein ganzes
Kapitel, das ausschließlich Arbeitnehmerinnen gewidmet ist. Es verbietet
jegliche Diskriminierung und sichert Frauen die volle Gleichberechtigung
mit Männern sowie vertretbare Arbeitsbedingungen und eine besondere
Förderung zu. Ja, auch ein Mutterschaftsurlaub von wenigstens vier bis
sechs Monaten und die Fortzahlung des vollen Lohnes stehen Frauen zu,
wenn sie ihren Beitrag zur Sozialversicherung geleistet haben.
Gegenwärtig haben Arbeitgeber generell 15 Prozent des Arbeitslohns ihrer
Angestellten in den Fonds der Sozialversicherung einzuzahlen,
Arbeitnehmer sechs Prozent. Hinzu kommen zwei bzw. ein Prozent für die
Krankenversicherung. Den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung sollen
sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit je einem Prozent des Lohnes
teilen. Nguyen Thi Thanh wiegt skeptisch den Kopf, sie weiß aus eigener
Erfahrung, dass die Wirklichkeit vom Gesetzestext weit entfernt ist.
Wenn sie erst ihr Restaurant führt, wird sie ganz bestimmt eine faire
Arbeitgeberin sein. Sie will nicht vergessen, woher sie kommt.
Unausgesprochen steht die Frage im Raum, wie Frauen sich wehren können,
wenn Unternehmer ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkommen,
wenn der Lohn hinter den Lebenshaltungskosten über die Schmerzgrenze
hinaus zurückbleibt, wenn die Arbeitsbedingungen unerträglich werden.
Das Arbeitsgesetz spricht auch vom Recht zu streiken, wenn Bemühungen um
eine einvernehmliche Konfliktlösung scheitern. Die Wahrnehmung des
Streikrechts ist jedoch an wenig durchschaubare Bedingungen geknüpft.
Kein Wunder, dass die Zahl als »wild« eingestufter Streiks in Vietnam in
den letzten Jahren stark zugenommen hat.
Arbeitskämpfe im Billiglohnland
Wie auch sollen sich die Näherinnen etwa beim Sportartikelhersteller
Nike in Ho-Chi-Minh-Stadt oder Arbeiterinnen eines Textilunternehmens
aus Taiwan in Haiphong wehren, die im Billiglohnland Vietnam mit
Unternehmenspraktiken des Manchesterkapitalismus Profit schaufeln? Wie
sollen sich die Arbeitsbeziehungen unter marktwirtschaftlichen
Bedingungen entwickeln? Welche Rolle müssen Gewerkschaften heute und in
Zukunft in der Gesellschaft spielen? Dies sind in Vietnam heftig
umstrittene Fragen. Sowohl der Vietnamesische Gewerkschaftsbund als auch
das zuständige Ministerium für Arbeit, Invaliden und Soziales machen
sich auf der Suche nach Lösungen auch mit internationalen Erfahrungen
vertraut, zum Beispiel mit denen der IG Metall in Deutschland.
Es ist gut zu wissen, dass die Vietnamesische Frauenunion in Nghe An
ihren Teil zur Lösung der Probleme, mit denen die Frauen heute in
Vietnam konfrontiert sind, beiträgt. Sie hilft damit Frauen wie Tran Thi
Dien und Nguyen Thi Thanh ganz konkret. Von solchen Orientierungskursen
wie in Thanh Chuong könnte sicher auch mancher Gewerkschaftsfunktionär
lernen. Die Aufklärung über ihre Rechte ist schließlich der erste
Schritt für Frauen - und nicht nur für sie -, diese Rechte auch
durchzusetzen.
* Aus: Neues Deutschland, 30. Dezember 2009
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