Opfer in der dritten Generation
nd-Spendenaktion: Noch immer leiden viele Vietnamesen unter den Folgen des von der US-Armee einst versprühten Agent Orange
Von Dörte Lüneberg, SODI *
Rund eine Milliarde Menschen weltweit leben mit einer Behinderung, knapp 80 Prozent davon unter ärmlichen Bedingungen in Entwicklungsländern. Der entwicklungspolitische Verein SODI unterstützt in Vietnam u.a. ein Projekt für Frauen mit Behinderung, um ihnen eine berufliche Zukunft zu geben.
Dinh Thi Thuan ist eine junge, zierliche Frau. Die 31-Jährige stammt aus einer Bauernfamilie im vietnamesischen Dorf Nam Thanh im Distrikt Nam Dan. Ihre Familie lebt überwiegend von der Landwirtschaft. Da die Erträge ihres Feldes nicht zum Überleben reichen, betreibt die Familie einen kleinen Krämerladen in ihrem Haus. Dinh Thi Thuan - ebenso wie ihre jüngeren Geschwister von Geburt an kleinwüchsig - ist Opfer von Agent Orange, mittlerweile in der dritten Generation. Ihr Großvater kam während des Vietnamkriegs in Kontakt mit dem Entlaubungsgift und vererbte die davon veränderten genetischen Anlagen seinem Sohn. Noch heute leidet die Familie an den Spätfolgen dieses Giftes.
Spendenaktion "Chancen geben"
Für Menschen in Mosambik, Vietnam und Südafrika:
»nd« SODI, INKOTA und der Weltfriedensdienst danken Ihnen für über 25.000 € an die Solidaritätsaktion »Chancen geben«.
Kto.: (SODI) 10 20 101, Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 100 205 00 Betreff: Soliaktion
Agent Orange ist ein dioxinhaltiges Pflanzenvernichtungsmittel, das massenhaft während des Vietnamkriegs von der US-Armee eingesetzt wurde, um den Dschungel zu entlauben und die Ernte zu vernichten. Laut der Vietnamesischen Vereinigung für die Opfer von Agent Orange (VAVA) kamen fünf Millionen Vietnamesen mit dem Gift in Berührung. Drei Millionen von ihnen wurden durch das Gift unmittelbar geschädigt. Missbildungen, Unfruchtbarkeit und Erkrankungen wie Krebs, Herz- und Gefäßerkrankungen sind Spät- und Langzeitfolgen von Agent Orange. Noch heute werden Kinder mit schwersten Behinderungen geboren. Auch die Familie von Dinh Thi Thuan ereilte dieses Schicksal.
Nach Schätzungen des vietnamesischen Statistikamts leben in Vietnam etwa 12,75 Millionen Menschen mit Behinderung. Die vietnamesische Regierung hat in der Vergangenheit bereits Maßnahmen beschlossen, um Menschen mit Behinderung und ihren Familien den Zugang zu sozialen Sicherungssystemen zu erleichtern und sie in Projekte zur Armutsbekämpfung einzubeziehen. Dennoch ist das Leben dieser Menschen hart. Viele von ihnen haben keine fundierte schulische oder berufliche Ausbildung oder die Möglichkeit, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Nach Angaben der UNESCO gehen in Entwicklungsländern 90 Prozent der Kinder mit Behinderung nicht zur Schule. Aufgrund von Barrieren sind sie meist vom Schulbesuch ausgeschlossen. Mädchen mit einer Behinderung besuchen noch seltener regelmäßig eine Schule als behinderte Jungen.
Armut und Behinderung bedingen sich also häufig gegenseitig. Menschen mit Behinderung haben nicht nur einen erschwerten Zugang zum Bildungs- und Arbeitsmarkt, sondern sie und ihre Familie haben auch höhere Lebenshaltungskosten. Kosten für medizinische Behandlungen sowie für Transport und Pflege verschlechtern ihre finanzielle Situation zusätzlich.
Ausbildungsprogramme, wie sie von SODIs vietnamesischer Partnerorganisation, der Frauenunion, durchgeführt werden, helfen, Barrieren für den Zugang von Menschen mit Behinderung zu beruflicher Qualifizierung und zum Arbeitsmarkt zu beseitigen und ihnen damit einen Einkommenserwerb zu ermöglichen.
In einem neuen Projekt von SODI und der Vietnamesischen Frauenunion erhalten über 600 arbeitslose Frauen - darunter zahlreiche Frauen mit Behinderung - eine Ausbildung in den Bereichen Gastronomie, Schneiderei, Kosmetik und Handwerkstechnik. Die Hälfte von ihnen erhält im Anschluss einen Kleinkredit sowie eine umfassende rechtliche und betriebswirtschaftliche Beratung zur Existenzgründung, um sich nach der Ausbildung mit einem eigenen Geschäft selbstständig zu machen. Die anderen Frauen unterstützt die Vietnamesische Frauenunion bei der Suche nach einem Arbeitsplatz.
2011 nahmen auch Dinh Thi Thuan und ihre jüngere Schwester an einer beruflichen Ausbildung in dem Ausbildungszentrum der Frauenunion in Nghe An teil. Für beide war dies eine große berufliche Chance. Anfänglich waren sie verunsichert, ob sie die viermonatige Schneiderausbildung schaffen würden, aber die Mitarbeiterinnen der Frauenunion ermutigten sie und ihre Schwester - mit Erfolg.
Nguyen Thi Xuan ist die Ausbilderin der Schneiderkurse. Sie weiß, dass die Ausbildung für viele Mädchen mit Behinderung nicht einfach ist: »Die meisten der Frauen haben nur die Grundschule besucht. Wenn es dann zum Beispiel um das Design der Kleidung oder das genaue Abmessen geht, haben sie manchmal Schwierigkeiten, die Maßeinheiten zu verstehen.«
Das gemeinsame Projekt von SODI und der Vietnamesischen Frauenunion verfolgt einen inklusiven Ansatz, das heißt, Frauen mit und ohne Behinderung lernen und arbeiten gemeinsam. So soll das Verständnis füreinander wachsen, Berührungsängste sollen abgebaut werden. Das ist auch bei den Kursteilnehmerinnen zu beobachten, berichtet Frau Nguyen Thi Xuan: »Es hat eine Weile gedauert, bis sie miteinander warm wurden. Doch schließlich halfen die Frauen ohne Behinderung ihren Mitschülerinnen ganz selbstverständlich, wenn sie Schwierigkeiten beim Abmessen oder Nähen der Kleidung hatten.«
Seitdem Dinh Thi Thuan und ihre Schwester die Schneiderausbildung erfolgreich abgeschlossen und zwei Nähmaschinen erhalten haben, richteten sie in ihrem Haus eine kleine Schneiderwerkstatt ein. Täglich kommen fünf bis sechs Kundinnen zu ihnen, um Kleidung reparieren oder neue anfertigen zu lassen. Ihre kleine Schneiderwerkstatt ist die einzige im Dorf und somit haben sie einen zuverlässigen Kundinnenstamm. Die zusätzliche Einkommensmöglichkeit ist eine große Erleichterung für die Familie.
Dinh Thi Thuan hätte nie gedacht, dass sie einmal ihr eigenes Geld verdienen wird. Sie ist stolz, dass sie trotz ihrer Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen und, dank der Ausbildung, auch ihre Familie finanziell unterstützen kann.
* Die Autorin ist Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei SODI e.V.
Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Januar 2013
UN-Konvention
Die UN-Menschrechtskonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die im Jahr 2008 in Kraft trat und mittlerweile von über 150 Staaten unterzeichnet wurde, darunter auch von Vietnam, will Menschen mit Behinderung ein völkerrechtlich verbindliches Recht auf Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe gewährleisten.
In der UN-Konvention wird Behinderung nicht mehr nur als rein körperliche oder geistige Beeinträchtigung des Einzelnen verstanden, sondern berücksichtigt auch Umweltfaktoren wie unzugängliche Gebäude oder Diskriminierung, die Menschen an der Teilhabe in der Gesellschaft behindern. Mit der Behindertenrechtskonvention verpflichten sich alle Vertragsstaaten, die Belange von Menschen mit Behinderung bei allen Vorhaben zu berücksichtigen und diese Gruppe in allen gesellschaftlichen Bereichen einzubeziehen. SODI
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