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Soldaten für den Frieden

Der Widerstand der GIs gegen die US-Aggression in Vietnam

Von Gerhard Feldbauer *

Vor 45 Jahren, Ende August 1967, verweigerten über 100 schwarze Infanteristen (GIs) der 1. Panzerdivision der US-Army den Einsatz gegen eine Antikriegsdemonstration in Chicago. Der Kommandeur der Division ließ 43 der Soldaten wegen »Befehlsverweigerung« festnehmen. Jonatan Neale schrieb in seinem 2004 erschienen Buch »Der amerikanische Krieg. Vietnam 1960–1975«, daß im Pentagon damals Befürchtungen wuchsen, es könnte zu Ereignissen wie in Russland 1917 und in Deutschland 1918 kommen. Anlaß war u.a. eine Demonstration von Veteranen des Zweiten Bataillons der Marines in Philadelphia, die unter der Losung stattfand: »Alle Macht dem Volke«.

Die Aktionen folgten der »Frühjahrsmobilisierung« der amerikanischen Friedensbewegung, die am 15. April 1967 in New York und San Francisco mit 500000 Teilnehmern die bis dahin größte Antikriegsdemonstration auf die Beine brachte. Die Bewegung schloß Proteste der Studenten und Intellektuellen, Aktivitäten der Gewerkschafter, Anhänger Martin Luther Kings, der Black Power, die Socialist Workers Party und die Kommunisten ein. »Die Antikriegsbewegung war überall, auf fast jedem nennenswerten Stützpunkt«, schrieb Neale.

Desertionen und Sabotage

Es gab etwa 300 Gruppen oder Komitees wie »GIs für den Frieden« und »GIs gegen den Krieg« oder »Vereinigte GIs gegen den Krieg«. Ihre zahlreichen Zeitschriften erreichten monatlich Hunderttausende Leser. Von Vietnam GI, die in Chicago mit einer Auflage von 15000 erschien, wurden 3000 Exemplare an Soldaten in Südvietnam verschickt. Aufsehen erregten die Demonstrationen der Vietnamveteranen, die in ihren alten Uniformen und Kampfanzügen aufmarschierten. Sie schilderten, zu welchen Verbrechen an der Zivilbevölkerung sie gezwungen worden waren. Viele von ihnen gaben ihre Kriegsauszeichnungen zurück.

Hauptfeldwebel Donald Duncan erklärte im Dezember 1966 im Weekend Magazin, die US-Truppen befänden sich gegen den Willen der Bevölkerung in Südvietnam: »Die Vietnamesen lehnen uns ab.« Der »Vietcong« bringe in fast jeder Provinz Truppen in Divisionsstärke in den Kampf. »Solches Wachstum ist nicht nur unmöglich ohne Unterstützung des Volkes, dazu bedarf es geradezu überwältigender Zustimmung.« Duncan war 18 Monate in Südvietnam, hatte 32 Absprünge im »feindlichen Gebiet« absolviert, mehrere Auszeichnungen erhalten, war für den »American Silver Star«, eine der höchsten US-Kriegsauszeichnungen, vorgeschlagen und sollte zum Hauptmann befördert werden.

In Südvietnam, wo die Masse der Soldaten sich aus Arbeitern, darunter viele schwarze, rekrutierte, war inzwischen eine regelrechte »Revolte der GIs« gegen den Krieg im Gange. Sie erfaßte zahlreiche Truppenteile, und die Kriegsgerichtsbarkeit wurde zunehmend der Lage nicht mehr Herr. Es kam zu Befehlsverweigerungen, zum Angriff anzutreten. In manchen Einheiten entstanden so etwas ähnliches wie Soldatenräte, auch wenn sie sich nicht so nannten. Viele Kompaniechefs mußten immer öfter mit ihren Soldaten über die Bedingungen des Vorgehens verhandeln.

Gegenüber verhaßten Offizieren und Feldwebeln wurde das »Fragging« (Zersplittern durch eine Handgranate) praktiziert. Wenn Offiziere oder Feldwebel nicht bereit waren, mit den Soldaten zu kooperieren, wurden sie auf diese Weise umgebracht oder im Gefecht einfach erschossen. Über 1000 Offiziere und Unteroffiziere sind schätzungsweise durch ihre eigenen Leute umgelegt worden. Von 1970 bis 1972 kam es zu 363 Kriegsgerichtsverfahren wegen »Fraggings«. In vielen Fällen gab es jedoch keine strafrechtlichen Verfolgungen. »Ein kluger Kommandeur ließ es durchgehen. Und tat er es nicht, wie sollte er herausfinden, wer der Täter war.« Neale gab Berichte von Armeeanwälten der 173. Luftlandedivision wieder, in denen es hieß, 1970 und 1971 seien »gewalttätige Angriffe auf Offiziere fast tägliche Vorkommnisse gewesen«. Eine Antipersonenmine sei direkt auf das Strategieplanungszentrum geworfen worden. »Mit der Mine sollte der Führungsstab getötet werden.«

Nachdem die südvietnamesische Befreiungsfront FNL bei den 1970 eröffneten Friedensverhandlungen in Paris öffentlich erklärte hatte, sie werde nicht auf Einheiten schießen, die gegen sie nicht das Feuer eröffnen, trugen viele amerikanische Soldaten rote Armbinden als Zeichen für den »Vietcong«, daß sie nicht kämpfen wollten. Danach häuften sich Befehlsverweigerungen, innerhalb der Armee und bei den Marines gab es während des Krieges Tausende. Dem amerikanischen Justizministerium wurden 206000 Kriegsdienstverweigerer gemeldet. Zwischen 1966 und 1972 kam es zu 423422 Desertionen und unerlaubten Entfernungen von der Truppe. Die Zahl der Deserteure war dreimal höher als zu irgendeinem Zeitpunkt des Koreakrieges. 250000 Armeeangehörige schrieben Beschwerdebriefe an Kongreßabgeordnete.

Nachdem 1972 der Luftkrieg gegen Nordvietnam ausgeweitet wurde, kam es auf allen beteiligten Flugzeugträgern zu Unruhen. Von der »Oriskany« desertierten 25 Matrosen. Auf der »Kitty Hawk« protestierten in der Subic Bay auf den Philippinen hundert schwarze Matrosen gegen einen neuen Vietnameinsatz. Zur Abwehr der gegen sie vorgehenden Marines setzten die Verweigerer sich mit Ketten, Schraubenschlüsseln und Rohren stundenlang zur Wehr. Als der Zerstörer »Coral See« nach Vietnam auslaufen sollte, protestierte ein Viertel der Mannschaft, 35 Matrosen blieben in Kalifornien zurück. 1971 gab es laut einer Kongreßuntersuchung auf Kriegsschiffen 488 Beschädigungen oder Versuche dazu, 191 Sabotageakte und 135 Brandstiftungen. Der Flugzeugträger »Ranger« war durch zwei ins Getriebe einer Maschine geworfene Schrauben über drei Monate nicht einsatzfähig. Nach einer Brandlegung fiel der Flugzeugträger »Forrestal« zwei Monate aus. Während der mörderischen Bombardements auf Hanoi im Dezember 1972 verweigerte der »Phantom«-Pilot Captain Dwight Evans den Einsatz. Captain Michael Heck lehnte es ab, mit seiner »B-52« zu starten. Er hatte bis dahin 200 Kampfeinsätze geflogen.

Die Juni-Ausgabe 1971 des Armed Forces Journal schrieb: »Moral, Disziplin und Kampfbereitschaft der US-Streitkräfte befinden sich mit einigen wenigen herausragenden Ausnahmen auf einem Tiefpunkt und in einem schlimmeren Zustand als jemals zuvor in diesem Jahrhundert, vielleicht sogar in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Nach jedem nur denkbaren Maßstab steht unsere Armee, die sich jetzt noch in Vietnam aufhält, vor dem Zusammenbruch. Ganze Einheiten weichen dem Einsatz aus oder verweigern ihn, sie ermorden ihre Offiziere und Unteroffiziere, sind drogensüchtig und mutlos oder stehen kurz vor der Meuterei.«

Immer noch lebendig

Am 20. Mai 2012 zogen 15000 Menschen durch Chicago, um gegen die von den USA beherrschte, weltweit kriegführende NATO, die gerade ihr Gipfeltreffen in der Stadt abhielt, zu protestieren. Organisatoren der Antikriegsdemonstration waren die Coalition against NATO und die G8 War and Poverty Agenda. Sie wurden von 150 US-amerikanischen Organisationen unterstützt, hinter denen Hunderttausende stehen. Der Geist der Antikriegsbewegung von einst ist lebendig. Die Kriegstreiber im Pentagon, in Brüssel und in Berlin sollten das nicht vergessen.

Widerstand in der Bundesrepublik

Gegner des Vietnamkrieges agierten auch in der Bundesrepublik, von wo aus Truppentransporte nach Südvietnam gingen. In Nürnberg mobilisierte der Black Panther George Pumphrey 1969 GIs im US-Stützpunkt Merrell-Baracks, sich auf die Seite des vietnamesischen Volkes zu stellen und Kriegsbefehle zu verweigern. Nach offiziellen Angaben des Kommandos der 7. US-Army brachten die »schwarzen Dissidenten« ungefähr 1500 Anhänger auf die Beine. In Nürnberg lernte George seine spätere Frau Doris kennen, die im SDS aktiv war. Sie verteilten in Kneipen Flugblätter an amerikanische Soldaten und diskutierten mit ihnen über den Krieg in Vietnam und die Verfolgung der Black Panther, die vom FBI zum »Staatsfeind N. 1« erklärt worden waren. Sie halfen Deserteuren zur Flucht ins Ausland. Denn die Bonner Regierung als Hauptverbündeter der US-Aggression in Vietnam verweigerte – auch unter SPD-Kanzlern – Deserteuren Asyl.

Georg Pumphrey wurde 1970 in die USA zurückgeführt und aus der Armee entlassen. Er und seine Frau Doris (sie hatten in den USA 1971 geheiratet) mußten wegen politischer Verfolgung auf Grund ihrer Arbeit bei den Black Panthers 1972 die USA verlassen. Über Kanada flohen sie nach Frankreich und leben seit 1987 in der Bundesrepublik, wo sie sich bis heute weiter aktiv am antiimperialistischen Kampf beteiligen.

Quelle: Irene u. Gerhard Feldbauer: Sieg in Saigon. Erinnerungen an Vietnam, Pahl Rugenstein, Köln, 2. Aufl. 2006

* Aus: junge Welt, Samstag, 25. August 2012


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