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Inszenierter Zwischenfall

Geschichte. Vor 50 Jahren: Ein angeblicher Beschuß zweier US-Kriegsschiffe durch nordvietnamesische Schnellboote im Golf von Tongking Anfang August 1964 diente den USA zur Rechtfertigung ihres Krieges gegen Vietnam

Von Knut Mellenthin *

Die Genfer Indochinakonferenz vom Juli 1954 setzte der französischen Kolonialherrschaft über Laos, Kambodscha und Vietnam ein Ende, Paris zog seine Truppen ab. Die 1945 gegründete Demokratische Republik Vietnam (DRV) unter Präsident Ho Chi Minh, die den Franzosen zuvor, im Mai 1954, bei der Schlacht von Dien Bien Phu eine schwere Niederlage zugefügt hatte, mußte allerdings als ein Verhandlungsergebnis hinnehmen, daß südlich des 17. Breitengrades eine militärische Demarkationslinie gezogen wurde, hinter die sich beide kriegführenden Parteien zurückzuziehen hatten. Eine dauerhafte Teilung Vietnams war damit nicht vorgesehen. An die Stelle Frankreichs traten mehr und mehr die USA, die mit Ngo Dinh Diem eine ihnen botmäßige Marionette installierten, die zum antikommunistischen Gegenspieler Ho Chi Minhs im Süden des Landes (Südvietnam) aufgebaut wurde. Gegen die von den USA protegierte dortige Regierung kämpfte seit 1955 die Nationale Front für die Befreiung Südvietnams, die von der DRV unterstützt wurde. (jW)

Am 2. August 1964 meldete die US-Regierung, daß es im Golf von Tongking, vor der Küste im Norden Vietnams, einen »unprovozierten Angriff« nordvietnamesischer Torpedoboote auf ein amerikanisches Kriegsschiff gegeben habe. Das war der Beginn des sogenannten Tongking-Zwischenfalls (englisch: Tonkin Incident), der von Präsident Lyndon B. Johnson als Einstieg zu einer ungeheuren Ausweitung der Militärintervention in Indochina benutzt wurde. Als er am 22. November 1963 nach der Ermordung von John F. Kennedy als dessen Nachfolger – zuvor war er Vizepräsident – vereidigt wurde, gab es in Südvietnam 16000 bis 17000 amerikanische Soldaten. Ihre offizielle Beschreibung als »Berater« verbarg deren unterschiedliche Aufgaben. Direkte Kampfeinsätze gehörten jedoch tatsächlich nicht dazu. Als im November 1968 die Pariser Friedensgespräche begannen, die sich über mehrere Jahre hinzogen, waren in Südvietnam jedoch mehr als eine halbe Million US-Soldaten stationiert, die einen unerklärten Krieg führten.

Am späten 4. August 1964, gegen Mitternacht, wandte sich Präsident Johnson mit einer Fernsehansprache an die Bürger der Vereinigten Staaten. »Erneute feindliche Aktionen« gegen US-Schiffe im Golf von Tongking hätten ihn veranlaßt, eine militärische »Antwort« anzuordnen, die zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen habe. Luftangriffe gegen »Kanonenboote und gewisse unterstützende Einrichtungen in Nordvietnam, die für die feindlichen Operationen benutzt wurden«, seien im Gang. Die Vorfälle zeigten »die Bedeutung des Kampfes für Frieden und Sicherheit in Südostasien«. »Aber unsere Antwort wird begrenzt und genau angemessen sein. Wir Amerikaner kennen, auch wenn andere es zu vergessen scheinen, die Risiken der Konfliktausweitung. Wir streben nach wie vor keinen großen Krieg an.«

Die von Johnson befohlenen Luftangriffe gegen Nordvietnam waren die ersten seit Beginn der US-Militärintervention in Indochina in den 1950er Jahren. Beteiligt waren 64 Bomber eines im Golf operierenden Flugzeugträgers. Zwei von ihnen wurden von der nordvietnamesischen Luftverteidigung abgeschossen. Erstmals geriet ein amerikanischer Pilot in Kriegsgefangenschaft. Es gab zunächst keine Fortsetzung der Angriffe, was vermutlich damit zusammenhing, daß am 3. August die drei Monate lange Schlußphase des Präsidentenwahlkampfs begonnen hatte. Obwohl Meinungsumfragen zeigten, daß 85 Prozent der Befragten die Entscheidung zum »Vergeltungsschlag« unterstützten, war Johnson gleichzeitig bemüht, die Gegner einer militärischen Eskalation unter den Anhängern der Demokraten nicht zu beunruhigen. Auf Wahlkampfveranstaltungen versprach er: »Wir haben nicht vor, amerikanische Jungs neun- oder zehntausend Meilen weit von zu Haus wegzuschicken, damit sie tun, was asiatische Jungs für sich selbst tun müssen.«

Am 7. August 1964 stimmten beide Häuser des Kongresses einer von Johnson vorgelegten Resolution zu, die den Präsidenten ermächtigte, zeitlich und räumlich unbegrenzt Krieg in Indochina zu führen, ohne eine formelle Kriegserklärung abgeben zu müssen. Wörtlich hieß es dort, der Kongreß billige und unterstütze die »Entschlossenheit« des Präsidenten, »alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um jeden bewaffneten Angriff gegen die Streitkräfte der Vereinigten Staaten zurückzuschlagen und künftige Aktionen zu verhindern«. Die Resolution bekundete darüber hinaus die »Bereitschaft« der USA, »alle notwendigen Schritte zu unternehmen, einschließlich des Einsatzes bewaffneter Kräfte, um jedem Mitglied oder Protokollstaat des Südostasiatischen Verteidigungspakts beizustehen, der um Hilfe bei der Verteidigung seiner Freiheit ersucht.«

Mitglieder der 1954 gegründeten SEATO waren zu dieser Zeit die USA, Großbritannien, Frankreich, Australien, Neuseeland, Pakistan, Thailand und die Philippinen. Die sogenannten Protokollstaaten waren Südvietnam, Laos und Kambodscha, die dem Pakt aufgrund des Genfer Indochina-Abkommens vom Juli 1954 nicht offiziell beitreten duften.

Erst durch die von Daniel Ellsberg 1971 veröffentlichten, bis dahin geheimen »Pentagon-Papiere« wurde bekannt, daß Johnsons politischer und militärischer Stab den Entwurf der Resolution schon mehrere Wochen vor dem Tongking-Zwischenfall ausgearbeitet hatte, nämlich im Juni 1964. Als der Kongreß der Blankovollmacht zustimmte, war bereits aus militärischen Kreisen durchgesickert, daß es am 4. August vielleicht gar keinen Zusammenstoß mit nordvietnamesischen Patrouillenbooten gegeben hatte oder daß die Geschehnisse zumindest völlig unübersichtlich waren. Darauf hatte der demokratische Senator Wayne Morse einen Tag vor der Abstimmung während einer geheimen Anhörung aufmerksam gemacht und gefordert, vor einer Entscheidung zunächst die Untersuchung des Sachverhalts abzuwarten. Vergeblich: Der Kongreß war nicht an Fakten, sondern nur an militärischen Kraftakten zur Demonstration der »Glaubwürdigkeit« der USA interessiert. Im Abgeordnetenhaus gab es nicht eine einzige Gegenstimme. Im Senat waren Morse und Ernest Gruening, gleichfalls Demokrat, die einzigen, die die Resolution ablehnten. Beide wurden 1968 nicht wiedergewählt.

Die »Freiheit der Meere«

Das angeblich am 2. und 4. August 1964 angegriffene Schiff, der Zerstörer »Maddox«, befand sich auf einer aggressiven militärischen Mission. Er kreuzte nicht, wie die US-Regierung verbreitete, »auf hoher See«, sondern wenige Kilometer von der Küste und mehreren nordvietnamesischen Inseln entfernt – in Gewässern, die bekanntermaßen von der Demokratischen Republik Vietnam (DRV) als Teil ihres Territoriums beansprucht wurden.

Die Fahrt der »Maddox« im Sommer 1964 war eine »Desoto-Patrouille«, wie es im militärischen Sprachgebrauch hieß. Genau gesagt war es bereits die 18. dieser Art. Der Codename Desoto stand angeblich als Abkürzung für »De Haven Special Operations off Tsingtao«. Der Zerstörer »De Haven« war das erste US-Kriegsschiff, das im April 1962 – also noch zur Zeit der Präsidentschaft von John F. Kennedy – auf eine solche Mission geschickt worden war. Tsingtao, chinesisch Qingdao, ist eine Hafenstadt in Nordostchina, in deren Umgebung die »De Haven« acht Tage lang operiert hatte.

Die vor der Öffentlichkeit geheimgehaltenen Desoto-Patrouillen sollten, internen Beschreibungen zufolge, zunächst vor allem drei Zielen dienen: Erstens sollten sie die »Präsenz« der Siebenten US-Flotte in den internationalen Gewässern vor der chinesischen Küste herstellen und aufrecht erhalten. Das stand in Zusammenhang mit der von den USA nicht anerkannten Definition seiner Seegrenze durch China. Zweitens sollten sie vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ein »Irritant« für die Chinesen darstellen. Das Wort kann man mit »Irritation«, »Ärgernis«, »Reizerreger«, »Nervensäge«, aber auch mit »Provokation« übersetzen. Drittens sollten bei diesen Patrouillenfahrten so viele Informationen wie möglich über die chinesische Küstenverteidigung und deren Funktionsweise gesammelt werden. Zu diesem Zweck waren die beteiligten Kriegsschiffe mit elektronischen Anlagen ausgerüstet und hatten Expertenteams für deren Bedienung an Bord. Eine Absicht bestand darin, die Chinesen zum Hochfahren ihres Alarmsystems zu veranlassen, um Erkenntnisse über dessen Standorte und die chinesischen Einsatzregeln zu gewinnen. Das klappte beim ersten Mal im April 1962 sehr gut, aber danach wurde die chinesische Seite vorsichtiger.

Im Laufe dieses Jahres gab es noch acht weitere Desoto-Fahrten, sieben davon im Osten und Norden Chinas und vor der nordkoreanischen Küste. Im Dezember 1962 war erstmals Südchina mit der großen Insel Hainan und dem westlich davon liegenden Tongking-Golf das Ziel. Im April 1963 fuhr der Zerstörer »Edwards« zunächst den gleichen Kurs, setzte die Fahrt aber dann in südlicher Richtung an der Küste der DRV fort. Die Mission der »Maddox«, bei der es zum »Tonkin Incident« kam, war die vierte Patrouillenfahrt in dieser Region.

Das Desoto-Programm war in der Zwischenzeit, soweit es Nordvietnam anging, mit dem geheimen »Operational Plan 34A«, meist abgekürzt als OPLAN 34Alpha, verschmolzen. Entwickelt hatte diesen im Jahre 1961 der Auslandsgeheimdienst CIA. Anfang 1964 war die Verantwortung an das Militär und damit an das Pentagon übergegangen. Es ging dabei um aggressive Kommandoaktionen gegen Radarstationen, Öllager und kleine Stützpunkte der Küstenverteidigung in Nordvietnam, die nach dem Hit-and-Run-Prinzip durchgeführt wurden: überraschendes Auftauchen, kurze Aktion und rasche Flucht über See. Das Personal der eingesetzten Schnellboote bestand hauptsächlich aus Südvietnamesen, die durch Söldner aus Südkorea, Taiwan und einigen europäischen Ländern verstärkt wurden. Geplant, gelenkt und finanziert wurden die Angriffe durch US-amerikanische Dienststellen. Sie waren aber immer so organisiert, daß die sogenannte »Deniability«, wörtlich: Abstreitbarkeit, gewahrt blieb. Den USA sollte keine Beteiligung nachgewiesen werden können, so daß Regierungspolitiker jederzeit beteuern konnten, damit absolut nichts zu tun zu haben.

Entsprechend diesem Grundsatz bestand zwischen den Undercover-Angriffen gegen Nordvietnam und den Desoto-Patrouillen eine strikte Trennung. Die für Desoto eingesetzten Kriegsschiffe operierten normalerweise nicht in einem Seegebiet, in dem zur selben Zeit Kommandoaktionen stattfanden, und sie hatten keinen direkten Kontakt zu diesen. Allerdings hatten sie nun den expliziten Auftrag, möglichst viele Informationen über potentielle Angriffsziele zu sammeln. Damit war Desoto von einem reinen Ausspähprogramm zum Lieferanten von Daten für aggressive Kriegshandlungen geworden.

Dieser Zusammenhang wurde der amerikanischen Bevölkerung verschwiegen. Bei der schon erwähnten nichtöffentlichen Kongreßanhörung am 6. August 1964 fragte Senator Morse den anwesenden Verteidigungsminister Robert McNamara, ob die Nordvietnamesen vielleicht Grund zu der Annahme gehabt hätten, daß die »Maddox« an OPLAN-34Alpha-Aktionen beteiligt gewesen sei. McNamara antwortete: »Unsere Marine spielte absolut keine Rolle, hatte keine Verbindung, wußte nichts von irgendwelchen südvietnamesischen Aktionen, falls es solche gegeben hat.«

Zerstörer auf Kriegsfahrt

Danach hatte Morse aber gar nicht gefragt, und an der tatsächlichen Frage des Senators redete der Pentagonchef elegant vorbei. Die Antwort hätte nämlich lauten müssen: Ja, die Nordvietnamesen hatten Grund für einen solchen Verdacht. In der Nacht vom 30. zum 31. Juli 1964 hatten im Auftrag des US-Militärs fahrende südvietnamesische Schnellboote mehrere Anlagen auf zwei der Küste vorgelagerten Inseln beschossen und waren von der DRV-Marine bis in internationale Gewässer verfolgt worden. Es handelte sich genau um das Seegebiet, in dem am 2. August die »Maddox« operierte, als sie angeblich von nordvietnamesischen Torpedobooten beschossen wurde.

Der – behauptete – Angriff wäre schon an der waffentechnischen Realität gescheitert. Die Torpedos dieser Schiffe hatten ihre optimale Wirkung bei einer Distanz von weniger als tausend Metern. Oberhalb einer Distanz von sechs Kilometern waren mit ihnen praktisch keine Treffer zu erzielen. Der Kommandeur der »Maddox«, Captain John Herrick, ließ das Feuer auf die gesichteten vier oder fünf nordvietnamesischen Boote aus einer Entfernung von zehn Kilometer eröffnen, weil sie dem Kreuzer nach dem US-Reglement »zu nahe gekommen« waren. Gleichzeitig forderte Herrick Luftunterstützung von dem etwa 450 Kilometer entfernt kreuzenden Flugzeugträger »Ticonderoga« an. Die Jagdflieger trafen rechtzeitig auf dem Schauplatz ein, um die von den Bordgeschützen der »Maddox« beschädigten Schiffe der Nordvietnamesen noch einmal aus der Luft anzugreifen. Seltsam ist, daß die Nordvietnamesen bei diesem äußerst einseitigen »Gefecht« nach eigenen Angaben nur vier Tote und sechs Verletzte zu beklagen hatten.

Nach diesem Zwischenfall schickte die US-Marine einen zweiten Zerstörer, die »Turner Joy«, zur Begleitung der »Maddox«. Beide Kriegsschiffe wurden angewiesen, »unser Recht auf die Freiheit der Meere durchzusetzen«. Für die nächsten drei Tage galten neue Einsatzvorschriften: Die Zerstörer sollten sich der Küste der DRV bis auf 14,8 Kilometer und den vorgelagerten Inseln bis auf 7,4 Kilometer nähern. Außerdem wurde ein weiterer Flugzeugträger in das Seegebiet dirigiert.

Was den zweiten Zwischenfall am 4. August 1964 angeht, mit dem die »Vergeltungsangriffe« gegen die DRV und die Kongreßresolution vom 7. August begründet wurden, besteht heute allgemeine Übereinstimmung, daß er überhaupt nicht stattgefunden hat. Innerhalb kurzer Zeit sandte die »Maddox« immer neue, immer wildere Meldungen an ihre Kommandozentrale auf den Philippinen. Von mindestens zwölf vietnamesischen Schiffen war die Rede, von 26 abgeschossenen Torpedos und von mehreren versenkten Torpedobooten. Die ganz überwiegend für wahr gehaltene Erklärung ist, daß die Techniker der »Maddox« aufgrund von Nervosität und extrem schlechtem Wetter die empfangenen Signale falsch deuteten. Kommandeur Herrick schickte anschließend drei widersprüchliche Kurzmeldungen über den vermeintlichen Zwischenfall, deren eindeutiges Fazit war: Es sei völlig unklar, was passiert sei, und man möge vor einer Entscheidung über Konsequenzen zunächst einmal die Fakten klären. Möglicherweise schöpfte Senator Morse für seine kritischen Fragen bei der Anhörung und in der Kongreßdebatte unter anderem aus dieser Quelle.

Nach heute allgemein anerkannten Erkenntnissen befand sich am 4. August 1964 kein einziges Schiff der DRV-Marine in der Nähe der »Maddox«. Das wird auch von damaligen US-Militärangehörigen bestätigt, die in Jagd- oder Aufklärungsflugzeugen über dem Seegebiet kreisten, in dem der angebliche Zwischenfall stattfand.

Schrittweise Eskalation

Aus den von Ellsberg bekanntgemachten internen Pentagondokumenten geht eindeutig hervor, daß die »Maddox« mit einem aggressiven militärischen Auftrag unterwegs war. Sie belegen: Die entscheidenden Regierungspolitiker und Militärführer in Washington wußten schon vor der Verabschiedung der Kongreßresolution am 7. August, daß es am 4. August wahrscheinlich keine Begegnung mit nordvietnamesischen Kriegsschiffen gegeben hatte. Unklar ist lediglich immer noch, ob anfangs wirklich ein Irrtum der »Maddox-Techniker« vorlag oder ob von vornherein ein Vorwand für die Kriegsausweitung konstruiert wurde.

Die bekanntgewordenen Tatsachen sprechen dafür, daß auf dem Zerstörer am 4. August tatsächlich große Verwirrung über das Geschehen herrschte. Außerdem: Wäre es Johnson und McNamara nur darum gegangen, einen Grund für eine seit langem geplante Eskalation zu finden, hätte dafür auch schon der bewaffnete Zwischenfall vom 2. August – jedenfalls in der offiziell verbreiteten Version, wonach die Nordvietnamesen das Feuer eröffnet hätten – ausgereicht. Und schließlich: Auf den sogenannten Tonkin-Incident und die amerikanischen »Vergeltungsangriffe« folgten in den nächsten Monaten keine bedeutenden Eskalationsschritte. Offenbar war es Johnson vor allem um die Blankovollmacht des Kongresses gegangen, um völlige Handlungsfreiheit zu gewinnen.

Bis zum Jahresende 1964 erhöhte Johnson lediglich die Zahl der in Südvietnam eingesetzten »Militärberater« auf 23000. 17000 waren es im November des Vorjahres gewesen, als er das Präsidentenamt übernommen hatte. Als Kennedy im Januar 1961 ins Weiße Haus einzog, hatte die Zahl der »Berater« erst bei 600 bis 700 gelegen.

Auch Johnsons nächste Maßnahmen im Frühjahr 1965 folgten zunächst noch der Politik einer Eskalation in kleinen Schritten. Am 8. März kamen zum ersten Mal US-amerikanische Kampftruppen in Südvietnam an. Es handelte sich um 3500 Marines zur Sicherung des Stützpunkts Da Nang gegen die in der Umgebung operierenden Kämpfer der Befreiungsfront oder, im amerikanischen und westlichen Sprachgebrauch, des »Vietcong«. Am 1. April ordnete Johnson die Entsendung zweier weiterer Bataillone der Marines – zusammen etwa 2500 Mann – an. Gleichzeitig autorisierte der Präsident die Kampftruppen in Südvietnam zum ersten Mal, offensiv gegen die Aufständischen vorzugehen. Diese Tatsache wurde vor der US-amerikanischen Öffentlichkeit zwei Monate lang geheimgehalten. Am 3. Mai 1965 landeten zum ersten Mal Kampftruppen der Army, 3500 Mann einer Luftlande-Brigade, in Vietnam. Am 28. Juli, fast ein Jahr nach dem »Tongking-Zwischenfall«, gab Johnson schließlich auf einer Pressekonferenz seine Absicht bekannt, 44 Bataillone Kampftruppen nach Vietnam zu schicken und damit die Zahl der dort eingesetzten Soldaten auf 125000 zu erhöhen.

Die Luftangriffe nach dem »Tonkin-Incident« am 2. August waren zunächst ein einmaliger Vorgang. Erst in der Nacht vom 7. auf den 8. Februar 1965 gab es eine Fortsetzung: Düsenjäger, die auf dem Flugzeugträger »Ranger« stationiert waren, griffen ein angebliches Militärlager der Nordvietnamesen in der Nähe von Dong Hoi an. Anlaß war ein Überfall der Befreiungsfront auf den US-Stützpunkt Pleiku im zentralen Hochland Südvietnams. Zur Regel wurden Luftangriffe gegen Nordvietnam erst mit der Operation »Rolling Thunder«, die am 2. März 1965 begann. Zunächst angeblich für eine Zeit von acht Wochen geplant, dauerten diese Angriffe tatsächlich bis zum 2. November 1968. Damals begannen in Paris die Friedensverhandlungen.

Die militärische Führung hatte einen solchen umfassenden Luftkrieg schon Ende August 1964 gefordert. Damals waren die Militärs bei Johnson und McNamara aber noch auf Ablehnung gestoßen. Insgesamt flog die US-Luftwaffe während des Vietnamkriegs rund drei Millionen Luftangriffe und warf annähernd acht Millionen Tonnen Bomben ab – vier mal so viel wie im Zweiten Weltkrieg. Mehr als eine Million Vietnamesen, überwiegend Zivilisten, wurden getötet. 58300 US-Soldaten wurden als »killed in Action« (KIA), im Einsatz getötet, registriert.

Johnson, der im November 1964 seinen republikanischen Konkurrenten Barry Goldwater mit 61 Prozent der Stimmen geschlagen hatte – der bis dahin größte Wahlsieg in der Geschichte der USA – unterlag vier Jahre später gegen Richard Nixon. Johnson starb am 22. Januar 1973 im Alter von 64 Jahren durch einen Herzinfarkt. Einen Tag später unterschrieben Henry Kissinger und Le Duc Tho als Sonderbeauftragte der USA und der DRV in Paris das Friedensabkommen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 31. Juli 2014


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