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Amnesty will Antworten von Rabat

Fragen nach Todesschüssen in der Westsahara

Von Abida Semouri, Algier *

Nach den tödlichen Schüssen marokkanischer Gendarmen auf einen 14 Jahre alten Sahraoui in der besetzten Westsahara hat Amnesty International (AI) von den Behörden des Königreichs eine bedingungslose Offenlegung der Umstände gefordert.

»Marokko muss zeigen, dass es nicht die UNO-Vorgaben zum Einsatz von Schusswaffen verletzt hat«, heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten AI-Erklärung. Nach Angaben der Familie des Opfers war Najem El-Qarhi gemeinsam mit sechs anderen Insassen eines Geländewagens beschossen worden, als sie Lebensmittel und Wasser in das Zeltlager Gdeim Izik 15 Kilometer östlich von Al-Ayoun bringen wollten. Dort haben sich seit Monatsbeginn mehrere tausend sahraouische Bewohner der größten Stadt des besetzten Gebietes niedergelassen, um gegen die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Okkupation zu protestieren. Beim Zwischenfall wurden zudem weitere sieben Sahraouis zum Teil schwer verletzt.

Laut Amnesty wurde der Leichnam des Jungen von marokkanischen Behörden ohne Beisein der Familie an einem unbekannten Ort beerdigt. Selbst der Mutter sei verweigert worden, sich von ihrem Sohn zu verabschieden. Die Verletzten seien in ein Krankenhaus in Al-Ayoun gebracht worden. Deren Familien hätten ihre Angehörigen mit Handschellen ans Krankenbett gekettet vorgefunden. Augenzeugen des Vorfalls bestreiten die Darstellung des marokkanischen Innenministeriums, wonach das Fahrzeug einen Kontrollposten durchbrochen hatte, der vorher beschossen worden sein soll.

Die sahraouische Befreiungsfront Polisario wirft Marokko unterdessen eine »schwere und flagrante Verletzung« des seit 1991 geltenden Waffenstillstands vor. In einem Schreiben fordert sie UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon zu raschem Eingreifen zum Schutz der sahraouischen Zivilbevölkerung in dem unter dem Mandat der Vereinten Nationen stehenden Territorium auf.

Die Westsahara ist die letzte Kolonie auf dem afrikanischen Kontinent. Seit dem Abzug der Kolonialmacht Spanien 1975 hält Marokko etwa zwei Drittel des Gebietes besetzt. Zehntausende Familien waren damals gewaltsam vertrieben worden und leben seitdem in Flüchtlingslagern nahe der südwestalgerischen Stadt Tindouf. Der kleinere Teil der Westsahara steht unter Polisario-Kontrolle. Beide Territorien trennt ein von Marokko errichteter Militärwall. Seit fast 20 Jahren ruhen allerdings die Waffen in dem inzwischen ältesten bewaffneten Konflikt Afrikas.

Ebenso lange steckt jedoch auch der von der UNO initiierte Friedensplan in der Sackgasse. Das darin vorgesehene Referendum über Selbstbestimmung oder Anschluss an Marokko scheiterte bisher daran, dass Rabat lediglich eine begrenzte Autonomie zugestehen will. Abstimmung und Waffenstillstand sollen von der Friedenstruppe MINURSO überwacht werden, die mit ihren etwa 250 Mann zunächst noch bis Juni kommenden Jahres auf beiden Seiten des Walls stationiert ist. Die Polisario fordert seit langem vergeblich, das Mandat auch auf die Überwachung der Menschenrechte in den besetzten Gebieten auszudehnen. Auch die jüngsten Gespräche des UN-Sonderbeauftragten Christopher Ross in der Region brachten keine konkreten Ergebnisse. Zumindest signalisierten beide Seiten in der vergangenen Woche ihre Bereitschaft, die 2007 begonnenen direkten Verhandlungen noch vor Jahresende fortzusetzen.

Marokko wird in seiner kompromisslosen Haltung vor allem durch die Regierungen Frankreichs und Spaniens unterstützt. Hintergrund sind die engen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur marokkanischen Monarchenfamilie sowie der Zugang zu den reichen Bodenschätzen, vor allem Phosphat, Erdgas und Erdöl. Auch deutsche Firmen sind in der Region aktiv. Unter anderem kann Marokko bislang vom Fischereiabkommen mit der EU profitieren. Nachdem Juristen in Brüssel allerdings festgestellt haben, dass die Einbeziehung der Fischgründe der Westsahara gegen das Völkerrecht verstößt, ist die im März kommenden Jahres anstehende Verlängerung des Abkommens zumindest fraglich geworden.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Oktober 2010

Dokumentiert: Auszug aus dem Jahresbericht 2010 von amnesty international

Unterdrückung Andersdenkender

Sahrauische Aktivisten

Die Behörden verschärften die Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung in Bezug auf den Ruf nach Selbstbestimmung der Menschen auf dem Gebiet der Westsahara. Sahrauische Menschenrechtsverteidiger, Aktivisten und andere Personen waren ständigen Schikanen ausgesetzt. Sie wurden streng überwacht, bedroht und von Sicherheitskräften angegriffen. Politisch motivierte Anklagen sollten sie davon abhalten oder sie dafür bestrafen, ihre Meinung zu äußern und Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.
  • Sieben sahrauische Aktivisten, die die von der Frente Polisario verwalteten Tindouf-Flüchtlingslager in Algerien besucht hatten, wurden bei ihrer Rückkehr nach Marokko am 8. Oktober festgenommen und vor ein Militärgericht in Rabat gestellt. Unter den Gefangenen befinden sich die Menschenrechtsverteidiger Brahim Dahane und Ali Salem Tamek sowie Frau Dakja Lashgar, ein früheres Opfer des "Verschwindenlassens". Alle wurden wegen Bedrohung der Staatssicherheit und der "territorialen Integrität" Marokkos angeklagt. Ende 2009 befanden sich alle noch in Haft und warteten auf ihr Gerichtsverfahren.
  • Am 27. August 2009 wurde Ennaâma Asfari, der in Frankreich lebende Vizepräsident des Komitees zur Achtung der Freiheiten und Menschenrechte in der Westsahara (Comité pour le respect des libertés et des droits humains au Sahara occidental), wegen "Missachtung von Staatsbeamten im Dienst" zu vier Jahren Haft und einer Geldbuße verurteilt. Sein Mitangeklagter, Ali El-Rubia, erhielt eine Haftstrafe auf Bewährung und ebenfalls eine Geldbuße. Beide Angeklagten gaben an, bei ihrer Festnahme am 14. August von der Polizei misshandelt worden zu sein.
  • Als die Menschenrechtsverteidigerin Aminatou Haidar am 13. November 2009 nach einer Auslandsreise am Flughafen von Laayoune eintraf, warf man ihr vor, bei der Einreise ihre Staatsbürgerschaft verleugnet zu haben. Sie wurde daraufhin am 14. November auf die Kanarischen Inseln ausgewiesen. Sie konnte am 17. Dezember zurückkehren, nachdem sie aus Protest gegen ihre Ausweisung einen Monat im Hungerstreik am Flughafen von Lanzarote verbracht hatte.
Die Behörden schränkten die Bewegungsfreiheit von sahrauischen Aktivisten und Menschenrechtsverteidigern ein, um sie so davon abzuhalten, Gerichtsverhandlungen zu verfolgen, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und sich mit Ausländern zu treffen. Einige der Aktivisten durften nicht mehr ins Ausland reisen. Ihre Personalausweise und Reisepässe wurden eingezogen.
  • Im Oktober 2009 hinderten die Behörden fünf sahrauische Studierende an einer Reise nach Mauretanien. Die Behördenvertreter zogen die Reiseunterlagen und Pässe der Studierenden ein, gaben aber keine Begründung für das Reiseverbot an.
Zahlreiche Sahrauis wurden wegen gewalttätigen Verhaltens in Verbindung mit Demonstrationen im Jahr 2009 und den Vorjahren strafrechtlich verfolgt. Die Prozesse entsprachen Berichten zufolge nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren. Einige Sahrauis, die sich für die Unabhängigkeit der Westsahara ausgesprochen hatten, waren Schikanen ausgesetzt und wurden von marokkanischen Sicherheitskräften verprügelt.

Mitglieder der Organisation Al-Adl wal-Ihsan

Mitglieder der nicht zugelassenen politischen Organisation Al-Adl wal-Ihsan waren weiterhin Repressionen ausgesetzt. Der Sprecherin der Organisation, Nadia Yassine, stand seit 2005 ein Gerichtsverfahren bevor. Sie war wegen Beleidigung der Monarchie angeklagt worden. Ihr Prozess wurde erneut verschoben, diesmal auf Januar 2010.
  • Im Februar 2009 griffen Sicherheitskräfte Frau Hakima Moaadab Aloui, ein Mitglied von Al-Adl wal-Ihsan, bei einer Razzia im Büro der Tanwir-Vereinigung tätlich an. Zu dieser Vereinigung gehören auch Mitglieder von Al-Adl wal-Ihsan. Im Dezember erklärte die Staatsanwaltschaft, dass nicht genügend Beweise vorlägen, um Anklage gegen einen Regierungsbeamten zu erheben, dem Hakima Moaadab Aloui vorgeworfen hatte, sie geschlagen zu haben.
Quelle: AMNESTY REPORT 2010




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