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Westsahara: Noch immer verschwinden Menschen

Interview mit Abdeslam Omar Lahsen von der sahrauischen Menschenrechtsorganisation Afapredesa *


Abdeslam Omar Lahsen ist Präsident der sahrauischen Menschenrechtsorganisation Afapredesa. Sie beschäftigt sich seit ihrer Gründung 1989 mit der Aufklärung der Fälle von Verschwindenlassen sahraouischer Zivilpersonen durch die marokkanische Staatsgewalt.


AMNESTY: Wie lautet Ihre eigene Geschichte?

Abdeslam Omar Lahsen: Als Kind lebte ich mit meiner Familie in L’ayoun, der Hauptstadt der Westsahara. Dort besuchte ich die Schule. Während der marokkanischen Invasion 1975 zogen wir weiter in den Norden und ich konnte schliesslich Ende der 1980-er Jahre in Marrakesch studieren. Seit der marokkanischen Besatzung der Westsahara verschwanden immer wieder Sahraouis in unserem Umfeld. Marokko wollte sicher gehen: Entweder war man als «Vertrauensperson» der Besetzungsmacht vermerkt oder, wenn nicht, wurde man als Mitglied der Volksbefreiungsfront Frente Polisario abgestempelt. So ist auch mir geschehen. Die marokkanische Polizei wartete in meinembereits durchsuchten Zimmer ab und nahm mich ohne Haftbefehl mit. Unter Folter wollten sie mir eine vermeintliche Verbindung zur Polisario entlocken. Ich hatte damals jedoch nur mein Studium im Kopf und so wurde ich dann, schockiert und zutiefst erschüttert, nach fünfzehn Tagen entlassen.Aufgrund meiner eigenen Erfahrung und weiteren Fällen von so genanntem 'Verschwindenlassen' in meiner Familie kam ich in Kontakt mit der 1989 in den Flüchtlingslagern gegründeten Organisation Afapredesa. Ich war jedoch immer noch auf der von Marokko besetzten Seite der Mauer.

Was konnten Sie damals konkret tun?

In dieser Zeit wurden hunderte von Fällen des Verschwindenlassens bekannt. Wir informierten die internationale Gemeinschaft, und Amnesty International begleitete uns bei einer ersten Kampagne 1990. Nachdem 1991 auf internationalen Druck 300 Sahraouis freigelassen wurden, war ich zutiefst schockiert über deren physischen und psychischen Zustand. Ich entschied mich, naiv wie ich war, die internationale Presse in Marokkos Hauptstadt Rabat aufzusuchen. Ich traf auf den Schweizer Didier Schmutz. Er berichtete über unsere Situation. Der marokkanische Geheimdienst kam uns jedoch noch während des Aufenthaltes von Didier Schmutz auf die Spur und verhaftete unsere Kontaktperson. Dieser sendete, in einer Zeit ohne Internet, die Artikel von Schmutz mit einem Faxgerät in einer Bank nach aussen. Unter schlimmster Folter nannte er seine Kontakte. Meine Situation war äusserst prekär. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Schweizer Botschaft flüchtete ich unter Mithilfe von marokkanischen Militanten in die Flüchtlingslager nach Algerien und nahm noch im selben Jahr die Arbeit bei der Afapredesaauf.

Der Name Afapredesa kündigt es bereits an, wir sprechen von gefangenen und verschwundenen Sahraouis. Gibt es Zahlen dazu?

Es ist schwierig, eine genaue Zahl der verschwundenen Sahraouis zu nennen. Eine gewisse Anzahl Familien hat ihr vermisstes Familienmitglied aus Angst vor Repressalien nie gemeldet. Wenn wir von Verschwindenlassen sprechen, handelt es sich um Sahraouis, die durch Personen entführt wurden, welche im Auftrag der marokkanischen Staatsgewalt oder mit deren Einverständnis handeln. Es muss deshalb eine bestimmte Beweislage vorliegen, damit wir eine vermisste Person als verschwunden erklären können. Von 4500 Verschwundenen seit der Invasion sind aktuell über 550 als Fall von Verschwindenlassen bestätigt. Bis heute arbeiten wir an der Liste der unbestätigten Fälle.

Hat Marokko je auf die Liste reagiert?

Vor dem Einsetzen der Uno-Mission im Jahre 1991 blieben mit zwei Ausnahmen alle Fälle von Verschwindenlassen ohne Information oder Gerichtsurteil. Entweder wurde die Person nach Tagen, Wochen oder Jahren freigelassen, sie bleibt bis heute verschwunden oder ist gestorben. 1999 konnte James Baeker, der damalige Gesandte von Kofi Annan, Marokko zu einer Antwort auf die Liste der Verschwundenen verpflichten. Die Antwort beinhaltete jedoch nur einen Teil der Wahrheit. Sie gestand einzig den Tod von 43 Verschwundenen im Zentrum Kalaat Magouna und Agdez in der touristischen Region Ouarzazat ein. Von den Hunderten, die noch übrig blieben, behauptete Marokko, sie befänden sich entweder im Flüchtlingslager bei Tindouf, in Mauretanien oder Spanien. Diese Antwort war absolut untragbar. Wenn jemand gewaltsam entführt wird, reicht es nicht zu behaupten, er oder sie sei wahrscheinlich in Spanien.

Gibt es Verbesserungen?

Ein wichtiger Schritt in der Frage des Verschwindenlassens und in Richtung Gerechtigkeit wurde unter Francesco Bastagli, dem damaligen Chef der Uno-Mission Minurso, erreicht. Er sah den Widerstand und die Unterdrückung der Sahraouis in Laayoune, der Hauptstadt der besetzten Westsahara, und hielt dies in einem Bericht fest. Die darauf folgende Mission des UNHCR, welche die Situation der Menschenrechte in den besetzten Gebieten klären sollte, schloss ihren Bericht Ende September 2006 ab. Auf Druck Frankreichs bleibt dieser Bericht wegen seiner Brisanz leider bis heute vertraulich. Aber es zeichnen sich doch erste Erfolge ab.

Dagegen wurde die gewaltsame Auflösung der friedlichen Zeltdemonstration bei Gdeim Izic vom neuen Uno-Beauftragten der Minurso, Abdelaziz Hany aus Ägypten, lediglich mit der Aussage kommentiert, es seien keine Schüsse festzustellen.

Interner wie externer Druck, wie zum Beispiel durch die «Association Marocaine de Droit de l'Homme», drängten Marokko zum Eingeständnis einiger Fälle von Verschwindenlassen. Dies geschah jedoch diskret via Internet, ohne offizielle Präsentation, in einem lückenhaften Bericht des 'Conseil Royal Consultatif de Droit de l'Homme Marocain'. Zum ersten Mal in der Geschichte gestand Marokko schriftlich ein, dass es zu Verschwindenlassen kommt. In diesem Bericht räumt Marokko ein, dass auch Kinder, Frauen und alte Leute betroffen waren.

Aber auch wenn das Bild noch getrübt ist, zeichnen sich doch erste Erfolge ab. Ein Bericht der Afapredesa über das Verschwindenlassen wird im März 2012 in Genf präsentiert.

Welche Geschichten verstecken sich hinter den Zahlen Verschwundener?

Es handelt sich um eine Praktik, die leider ziemlich regelmässig vorkommt. Ein neuer Fall, den wir erforschen, ereignete sich im November 2011. In Smara ging eine junge Frau einkaufen, kam jedoch nicht zurück. Am Morgen des zweiten Tages wurde sie ohnmächtig in der Nähe einer Militärkaserne aufgefunden, in einem desolaten Zustand, mit Zigarettenverbrennungen; sie liegt noch immer im Koma. Auch wenn es nur zwei Tage waren, handelt es sich hierbei um einen Fall von Verschwindenlassen. Typischerweise wird diese Praktik jedoch bei Verwandten von Mitgliedern der Polisario, bei Demonstrierenden oder schlicht bei Personen, bei welchen «eine gewisse Aktivität» vermutet wird, angewendet.

Sie sprachen von Gdeim Izic. Der Globalisierungskritiker Noam Chomsky sah in dieser Zeltdemonstration vom November 2010 den Beginn des Arabischen Frühlings.

Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Informationen schneller fliessen als je zuvor. Die marginalisierten Leute aus allen Ecken der Welt, aktuell vor allem in den arabischen Ländern, warten auf etwas, das ihnen als Vorbild dienen könnte, um ihren Unmut kund zu tun. Ich denke, dass die Zeltstadt bei Gdeim Izic tatsächlich als eine Art Beispiel gedient haben könnte. Bei meinem Aufenthalt in Tunesien, nach dem Sturz Ben Alis, haben mir die Leute dort bestätigt, dass es sich dabei effektiv um eine gut bekannte Information handelt. Jeder Mensch denkt jedoch in seiner eigenen Dynamik und urteilt danach.

Welche Forderungen stellten die 20'000 Demonstrierenden bei Gdeim Izic?

Diese Leute konnten die Unterdrückung der eigenen Volksgruppe und die Ungerechtigkeiten in den besetzten Gebieten nicht länger ertragen. Also organisierten sie sich, um einen sozioökonomischen Wandel hervorzurufen und ihr Recht auf Gleichbehandlung mit der marokkanischen Bevölkerung einzufordern. Die marokkanische Behörde konnte die Legitimität der Forderungen nicht abstreiten. Der Innenminister war vor Ort und nahm mit den Repräsentanten des Gdeim Izic die Verhandlungen auf. Die erst noch verhandelnde marokkanische Behörde wurde von einem Tag auf den anderen zu Kriminellen.

Das Lager wurde gewaltvoll aufgelöst, die Zelte wurden geplündert und niedergebrannt, es gab zwölf Tote und Hunderte von Verletzten. Noch heute sitzen 23 Sahraouis im Salé-Gefängnis bei Rabat.

Dies bedeutet, dass den Forderungen bis heute nicht entgegengekommen wurde. Was ist die Konsequenz?

Es handelt sich bei den Protesten und bei unseren Forderungen um eine populäre Revolution, sie ist im Volk geboren und wird deshalb andauern, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Es ist das Anliegen eines Volkes, dass tief in seiner Seele verletzt wurde und dies geht nicht spurlos an seiner Identität vorbei. Deshalb sind wir überzeugt, dass wir weiterkämpfen müssen, um unsere Freiheit zu erlangen und unsere Lebensform erhalten zu können. Marokko und seine Verbündeten, allen voran Frankreich und Spanien, verlieren hier nur ihre Zeit...

* Quelle: Website von Amnesty International Schweiz, März 2012; http://www.amnesty.ch


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