Westsahara: Sahraouis allein gelassen und frustriert
Proteste gegen marokkanische Besatzer nehmen zu - Forderungen nach Unabhängigkeit werden wieder lauter
Im Folgenden dokumentieren wir einen Bericht über die jüngsten antimarokkanischen Proteste in Westsahara. Wir haben sie dem "Neuen Deutschland" entnommen. Im Kasten zusätzliche Informationen aus einem Artikel von Martin Dahms, der am selben Tag in der "Frankfurter Rundschau" erschien.
Sahraouis tief enttäuscht
Antimarokkanische Proteste wurden blutig niedergeschlagen
Von Abida Semouri
Seit einer Woche ist die von Marokko
besetzte Westsahara Schauplatz blutiger
Unruhen. Nach Angaben der Befreiungsfront
Polisario wurden mehr
als 100 Demonstranten verletzt und
Dutzende Sahraouis von der marokkanischen
Polizei festgenommen.
Auslöser der Demonstrationen war
die Verlegung eines sahraouischen
Häftlings vom Gefängnis in Al-Ayoun,
der größten Stadt der Westsahara,
nach Agadir in Marokko. Den
Protesten seiner Familie hatten sich
zahlreiche Bewohner Al-Ayouns
angeschlossen. Sie verbrannten
marokkanische Fahnen und forderten
die Unabhängigkeit des seit
1975 besetzten Territoriums. Sicherheitskräfte
umstellten daraufhin
die vorwiegend von Sahraouis
bewohnten Stadtviertel und durchsuchten
sie nach Sympathisanten
der Polisario. Die Polizei wurde dabei
von einer neuen Spezialtruppe
»zum Schutz der städtischen Sicherheit« unterstützt.
Ganze Familien wurden verschleppt,
ihr Hab und Gut wurde
zerstört. Einige der Verschleppten
wurden Tage später am Stadtrand
auf einer Müllkippe ausgesetzt, berichteten
Augenzeugen. Die Ausschreitungen
sollen auch auf andere
Städte übergegriffen haben. Marokkos
Armee hat ihr Aufgebot im
besetzten Gebiet verstärkt.
Kurz nach Bekanntwerden der
Proteste kam es auch in Marokkos
Hauptstadt Rabat zu Demonstrationen.
Nach Augenzeugenberichten
ging die Polizei am Freitag auf dem
Campus der Universität Rabat mit
Knüppeln gegen sahraouische Studenten
vor, die die Unabhängigkeit
ihrer Heimat gefordert hatten. Dutzende
Personen wurden verletzt,
rund 30 wurden festgenommen.
Die Polisario spricht von den heftigsten
antimarokkanischen Protesten
seit sechs Jahren. Wenige Tage
zuvor hatte ihr Chef Mohamed Abdelaziz
mit der Wiederaufnahme
der vor 14 Jahren im Zuge eines
UNO-Friedensplanes eingestellten
Kampfhandlungen gedroht. »Solange
das Problem keine gerechte Lösung
gefunden hat, die auf dem
Recht des sahraouischen Volkes auf
Selbstbestimmung basiert, bleibt
die Option des Krieges bestehen«,
sagte er bei einer Militärparade in
der befreiten Westsahara-Region
Tifariti anlässlich des 32. Jahrestages
der Polisario-Gründung. Die
Drohung war Ausdruck der Enttäuschung
der Sahraouis – sowohl jener
in den besetzten Gebieten als
auch der etwa 160 000 Flüchtlinge
in den Exillagern rund um die algerische
Wüstenstadt Tindouf – angesichts
der Halbherzigkeit der
UNO-Versuche, das älteste afrikanische
Kolonisationsproblem friedlich
zu lösen.
Eine ursprünglich geplante Volksabstimmung
über Selbstbestimmung
oder Anschluss an Marokko
scheiterte am Widerstand Rabats.
Immer wieder lehnte Marokko die
Liste der Wahlberechtigten ab, bis
die Polisario zähneknirschend der
Zulassung von 160 000 Marokkanern
angeblich sahraouischer Abstammung
– zusätzlich zu den abstimmungsberechtigten
74.000 Sahraouis – zustimmte. Sie waren
von Rabat in der besetzten Westsahara
angesiedelt worden, um die
»Marokkanität« des Territoriums
zu garantieren.
Selbst nach diesem Zugeständnis
sah sich die UNO nicht im Stande,
die Abstimmung zu organisieren,
und beschränkte sich auf die Verlängerung
des Mandats der Friedenstruppe
Minurso, die schon
über 200 Millionen Dollar verschlungen
hat. Zu groß war der Widerstand
vor allem Frankreichs,
des engsten Verbündeten Marokkos
in der Westsahara-Frage.
Den vorläufig letzten Versuch einer
Regelung unternahm der ehemalige
USA-Außenminister James
Baker. Aber auch der zog sich im
Juni vergangenen Jahres desillusioniert
aus dem Konflikt zurück. Geblieben
ist ein neuer Plan der Konfliktregelung,
der Bakers Namen
trägt. Er sieht für die besetzten Gebiete
eine Autonomie unter marokkanischer
Herrschaft und einer von
der Bevölkerung zu wählenden
Übergangsverwaltung vor. Nach
fünf Jahren soll eine Abstimmung
über die Zukunft des Territoriums
abgehalten werden.
Aber auch diesem Vorhaben verweigerte
Marokko seine Zustimmung.
Umso größere Anstrengungen
unternimmt Rabat, um vollendete
Tatsachen zu schaffen. Das besetzte
Gebiet ist reich an Bodenschätzen,
vor allem Erdöl, Phosphat
und Diamanten, und hat ergiebige
Fischgründe. Vor einer Woche erst
forderte die Polisario die EU auf, die
Gewässer vor der Küste der Westsahara
aus dem Fischereiabkommen
mit Marokko auszuklammern. Bereits
2001 vergab Marokko Förderlizenzen
für Erdöl in dem okkupierten
Gebiet an eine USA-Firma.
Die Polisario schrieb kurz danach
ihrerseits Förderlizenzen für das
von ihr kontrollierte Gebiet aus und
erteilte die Zuschläge an Firmen
aus Australien, Großbritannien und
Südafrika.
Polisario-Chef Abdelaziz erhielt
dieser Tage moralische Unterstützung
von Algeriens Präsident Abdelaziz
Bouteflika. Dieser hatte in einem
Grußschreiben erklärt, sein
Land unterstütze das legitime Streben
aller Völker nach Selbstbestimmung.
»Unsere feste Unterstützung
galt stets jenen Völkern, die unter
Kolonisation und Fremdherrschaft
leiden, damit sie in aller Freiheit
über ihr eigenes Schicksal selbst
entscheiden können.« Obwohl Bouteflika
zugleich erklärte, dass »Algerien
nicht direkt am Konflikt beteiligt
ist und unter allen Umständen
auf UNO und Völkerrecht
baut«, ließ die Reaktion Marokkos
nicht auf sich warten. König Mohamd
VI. ließ ein geplantes Gipfeltreffen
der Union des Arabischen
Maghreb in Libyen platzen.
Aus: Neues Deutschland, 31. Mai 2005
Das vergessene Volk in der Westsahara erhebt sich
"Dies ist der Kampf von Tausenden von Saharauis, die trotz der Repression in immer größerer Zahl und immer häufiger auf die Straße gehen, um ihre Unzufriedenheit zu zeigen. Die Saharauis verlieren ihre Angst." Die Worte Ali Salem Tameks, des bekanntesten Aktivisten für das Ende der marokkanischen Besatzung der Westsahara, haben sich dieser Tage bestätigt.
(...)
In El Aaiún, der saharauischen Hauptstadt, weitete sich der Protest einer Familie gegen die Verlegung eines verhafteten Angehörigen in ein Gefängnis im marokkanischen Agadir Anfang vergangener Woche zu teils gewalttätigen Demonstrationen für die Unabhängigkeit aus. Steine flogen, eine marokkanische Flagge brannte. Die marokkanische Polizei reagierte mit Tränengas und Schlagstöcken und nahm mehrere Dutzend Demonstranten fest. Die Staatsanwaltschaft klagte 33 von ihnen am Samstag der "Konspiration" an.
Während in Al Aaiún wieder Ruhe einkehrte, wagten am Freitag 200 saharauische Studenten in der marokkanischen Hauptstadt Rabat, für eine unabhängige Westsahara zu demonstrieren. Auch hier ging die Polizei mit gewohnter Härte gegen die Protestierer vor. (...)
Die Unruhen der vergangenen Tage sind die heftigsten seit 1999, und Sprecher der Befreiungsfront Polisario nennen sie in Anlehnung an den Palästinenseraufstand schon den Beginn einer "Intifada" gegen die marokkanische Besatzung. Einer der Gründe für den gewachsenen Mut der Saharauis dürfte in einer gewissen Öffnung des autoritären Regimes in Rabat unter König Mohammed VI. zu finden sein. (...)
Aus: Frankfurter Rundschau, 31. Mai 2005 (Autor: Martin Dahms, Madrid)
Zurück zur Westsahara-Seite
Zur Marokko-Seite
Zurück zur Homepage