Protest der Sahraouis in besetzter Westsahara
Mindestens ein Toter und 70 Verletzte bei der Niederschlagung der Aktionen
Von Abida Semouri, Algier *
Bei der Niederschlagung von Protesten der sahraouischen Bevölkerung in
der von Marokko besetzten Westsahara ist mindestens ein Mensch
gestorben. Es gab 70 Verletzte.
Ein 14 Jahre alter Junge wurde in der Nacht zu Montag von marokkanischen
Soldaten getötet, als diese ein Fahrzeug nahe einem Protestlager bei der
Stadt El Aioun unter Beschuss nahmen. Nach Angaben eines Sprechers der
Befreiungsfront Polisario in Algier wurden dabei zudem zehn Menschen
verletzt. Er berief sich auf unabhängige westliche Beobachter vor Ort.
Spanische Medien sprechen von zwei erschossenen Sahraouis und einem
getöteten marokkanischen Soldaten. Mit dem Geländewagen sollten
Lebensmittel, Wasser und Medikamente in das Zeltlager gebracht werden,
in dem seit zwei Wochen 20 000 Bewohner El Aiouns aus Protest gegen die
Okkupation campieren. »Die sahraouischen Familien wollen damit die
internationale Öffentlichkeit auf die verheerenden sozialen und
humanitären Zustände in den besetzten Gebieten und die Ausplünderung der
Bodenschätze durch Marokko und Europa aufmerksam machen«, sagte der
Polisario-Sprecher. In Smara und Boujdour gäbe es ähnliche Aktionen.
Die marokkanischen Behörden hätten 2000 Soldaten um das durch Sandwälle
und Stacheldraht von der Außenwelt abgeriegelte Lager in El Aioun
zusammengezogen und kontrollierten das Geschehen von Hubschraubern aus.
Damit soll verhindert werden, dass sich noch mehr Menschen in dem Camp
niederlassen. Insgesamt seien bei den Protesten bisher etwa 70 Personen
verletzt worden.
Die Westsahara ist seit dem Abzug der Kolonialmacht Spanien vor 35
Jahren zum größten Teil von Marokko besetzt. Der kleinere Teil des
Gebietes steht unter Kontrolle der Polisario, die für einen unabhängigen
Staat kämpft. Beide Territorien trennt ein von Marokko errichteter und
militärisch gesicherter Wall. 165 000 Sahraouis leben in
Flüchtlingslagern nahe dem südwestalgerischen Tindouf. Die dort
ansässige sahraouische Exilregierung hat am Wochenende einen dringenden
Appell an die internationale Öffentlichkeit gerichtet und die UNO
aufgefordert, der sahraouischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten so
schnell wie möglich zu Hilfe zu kommen.
Seit knapp zehn Jahren ist in dem Konflikt ein Waffenstillstand in
Kraft. Er wird von der UN-Friedensmission Minurso überwacht, deren
Mandat noch bis Juni 2011 läuft. Dies sind die bisher einzigen
Ergebnisse eines UN-Friedensplanes. Das vorgesehene Referendum über
Selbstbestimmung oder Anschluss an Marokko scheiterte bisher an der
Haltung Rabats, das lediglich eine begrenzte Autonomie zugestehen will.
* Aus: Neues Deutschland, 26. Oktober 2010
Marokko schießt scharf
Von Gerd Schumann **
Der marokkanische König Mohammed VI. läßt scharf schießen. Wie am Montag
bekannt wurde, trafen am Abend des Vortags Polizeikugeln den 14jährigen
Jugendlichen Nayem Al-Garhi, der auf dem Weg in ein Protestcamp war,
tödlich. Sieben seiner Begleiter wurden verletzt. Das geschah in der
Nähe von Al-Aaiún, Hauptstadt der von Marokko seit 1975 besetzten
Westsahara. Dort wehren sich seit Wochen Tausende Menschen mit einer der
größten Protestaktionen seit Jahrzehnten gegen die miserablen
Bedingungen, unter denen sie ihr Leben unter der Besatzungsmacht Marokko
fristen müssen. Derzeit, so Jamal Zakari zu junge Welt, »spitzt sich die
Lage dramatisch zu«. Der Vertreter der westsaharauischen
Befreiungsbewegung Polisario in Deutschland beklagte sowohl die
Untätigkeit der EU als auch der UNO angesichts der Bedrohung, der die
Demonstrierenden in der »letzten Kolonie Afrikas« ausgesetzt ist.
Über 14000 Menschen haben sich in den besetzten Gebieten der
Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) in Zeltlagern 15
Kilometer außerhalb von Al-Aaiún zum Protest vereint. Ihr Ziel ist es,
so Frente Polisario, »auf die unerträgliche Lebenssituation« aufmerksam
zu machen und sich »gegen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der
Westsahara« durch Marokko zu wehren. Zudem sei die Aktion »der
verzweifelte Versuch«, Bewegung in die seit langem von der
marokkanischen Seite verzögerten und behinderten Verhandlungen um die
Zukunft des Gebiets zu bringen.
Der UN-Sonderbeauftragte für die Westsahara, Christopher Ross, hatte am
Wochenende eine mehrtägige Rundreise beendet, die ihn nach Mauretanien,
Algerien und Marokko führte. In den saharauischen Flüchtlingscamps bei
Tindouf (Südwestalgerien), wo etwa 150000 Menschen seit ihrer
Vertreibung durch marokkanische Armee 1976 leben, traf er mit dem
DARS-Exilpräsidenten Mohamed Abdelaziz zusammen. Im Zentrum der
Gespräche stand die Frage, wann und unter welchen Bedingungen die seit
Frühjahr unterbrochenen Verhandlungen zwischen dem Königreich und der
Polisario fortgesetzt werden können. Darin geht es um ein Referendum in
den besetzten Gebieten über die Unabhängigkeit der Westsahara. Die von
der UN vorgesehene Volksabstimmung wird seit 1991 von Marokko hintertrieben.
Nunmehr verkündete Ross, daß die nächste Gesprächsrunde unter Moderation
der UNO vom 3. bis 5. November stattfinden solle. Die Polisario äußerte
Skepsis. Jamal Zakari fragt: »Wie soll unter diesen Bedingungen
verhandelt werden?« Marokkanische Polizei und Armee haben die Zeltstadt
inzwischen vollständig abgeriegelt. Tausende schwerbewaffnete
Uniformierte umzingelten das Gebiet, Kontrollpunkte wurden errichtet.
Die Menschen sind von der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser
abgeschnitten. Mit allen Mitteln soll zudem verhindert werden, daß sich
weitere Saharauis den Protesten in den Camps anschließen.
Erste Opfer wurden am Sonntag Nayem Al-Garhi und seine Begleiter.
Berichten zufolge saß er mit sieben weiteren Personen in einem
Geländewagen, der am Sonntag abend Al-Aaiún verließ, um Essen, Wasser
und Medikamente in die Protestlager zu bringen. Das Fahrzeug wurde von
»Sicherheitskräften« verfolgt und gejagt. Etwa einen Kilometer von den
Camps entfernt geriet es auf offenem Feld unter Maschinengewehrfeuer.
Dabei wurde der Jugendliche tödlich getroffen. Sein Bruder Daoudi
Al-Garhi, ein ehemaliger politischer Gefangener, wurde mit sechs
weiteren Verletzten ins Krankenhaus gebracht. Über ihren Zustand wurde
am Montag nichts bekannt.
** Aus: junge Welt, 26. Oktober 2010
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