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Der Wall der Schande

Der Konflikt um die Westsahara dauert seit Jahrzehnten an, wird jedoch weitgehend ignoriert

Von Florian Wilde *

Der Westsahara-Konflikt spielt sich weitgehend abseits der Weltöffentlichkeit ab, seit Marokko die ehemalige spanische Kolonie 1975 besetzt hat und seitdem hält – allen UN-Resolutionen zum Trotz. Eine Delegation der Europäischen Linkspartei besuchte unlängst die Westsahara, um die Beziehungen zur Befreiungsbewegung POLISARIO zu intensivieren.

Kurz nach Sonnenaufgang durchqueren wir das Grenzgebiet zwischen Algerien, Mauretanien und der Westsahara. Die Grenzen sind als solche nicht erkennbar: Überall nur roter und brauner Sand, Geröll, selten mal ein Strauch oder ein halbverdorrter Baum. Orientierung geben wohl allein die tief in den Boden eingegrabenen Reifenspuren von Fahrzeugen, die das Gebiet früher passiert haben. Die einzigen Lebewesen in dieser lebensfeindlichen Wüste scheinen Dromedare zu sein, an deren nach Nahrung suchenden Herden wir gelegentlich vorbeifahren. Unser Ziel ist der »Wall der Schande«, ein 2700 Kilometer langes System aus Mauern, Gräben, Stacheldraht und Minenfeldern. Er wurde in den 80er Jahren zur Verteidigung der von Marokko besetzten Gebiete der Westsahara gegen die Guerilleros der sahrauischen Befreiungsfront POLISARIO errichtet und wird – trotz eines seit 21 Jahren haltenden Waffenstillstandes – bis heute von rund 150 000 Soldaten bewacht.

Gereckte Fäuste und feixende Soldaten

Schließlich stoppt unser Konvoi in Sichtweite des Walls. Die Mitglieder der Delegation der Europäischen Linkspartei (EL) verlassen die Landrover, schwenken Fahnen und recken die Fäuste in die sich allmählich erhitzende Luft. In einiger Entfernung, durch Minenfelder von uns getrennt, stehen marokkanische Soldaten durch das Fernglas gut erkennbar feixend auf den Wällen. Ein Gefühl der Ohnmacht macht sich unter uns breit.

Die Westsahara ist die letzte Kolonie in Afrika. Nach dem Abzug der spanischen Kolonisatoren 1975 wurde das Land augenblicklich von Marokko und Mauretanien besetzt. Zehntausende Sahrauis flohen vor der Gewalt der Besatzer ins benachbarte Algerien. Die in den frühen 70ern gegründete POLISARIO, die bereits gegen die spanischen Kolonialherren gekämpft hatte, setzte den Befreiungskampf gegen die neuen Besatzer fort und konnte Mauretanien zum Abzug zwingen. Doch gegen das von den USA und europäischen Staaten hochgerüstete Marokko konnte sie – auch wegen der Errichtung des Walls – nicht gewinnen. Dieser trennt bis heute 87 Prozent des Landes fast hermetisch von dem durch die POLISARIO befreiten, unwirtlichen Rest.

1991 wurde ein bis heute gültiger Waffenstillstand vereinbart. Dessen Grundlage bildete das Versprechen Marokkos, das Ergebnis eines unter Aufsicht der Vereinten Nationen durchzuführenden Referendums über die Zukunft der Westsahara zu akzeptieren. Bis heute aber wird diese Volksabstimmung von Marokko sabotiert. Mindestens eine halbe Million Sahrauis leben in dem von Marokko besetzten Gebiet, in dem schwere Menschenrechtsverletzungen durch die Besatzer an der Tagesordnung sind. Rund 160 000 weitere Sahrauis leben seit nunmehr 37 Jahren in Flüchtlingslagern nahe dem algerischen Tindouf inmitten der Wüste. Hier ist auch die Exilregierung der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) ansässig, die von über 80 Staaten – meist ehemaligen Kolonien – anerkannt wird.

Die Bedeutung, die die POLISARIO unserer Delegation beimisst, wird daran deutlich, dass wir wie Staatsgäste behandelt werden: Wir haben eine Unterkunft mit fließend Wasser, bekommen eine militärische Eskorte und unser Programm erinnert an das eines Staatsbesuchs. Es umfasst Treffen mit Vertretern des Sahrauischen Gewerkschaftsbundes, der Frauenunion, der Jugendorganisation, einen Besuch des Parlaments und einen Empfang durch den Präsidenten der DARS und Generalsekretär der POLISARIO, Mohamed Abdelaziz.

Beeindruckend sind die Offenheit und das Interesse an uns, aber auch die Begeisterung, mit der wir überall empfangen werden. Es ist immer wieder der gleiche Wunsch, der an uns herangetragen wird: das Schweigen zu brechen, die Situation der Sahrauis bekannt zu machen und Druck auf Marokko auszuüben, die Menschenrechte in den besetzten Gebieten zu respektieren und endlich das zugesagte Referendum durchzuführen.

Einen besonderen Eindruck hinterlässt das Treffen mit Vertreterinnen der sahrauischen Frauenorganisation UNMS, die in allen Lagern autonome Frauenzentren unterhält. Darin gibt es Bildungs-, Gesundheits- und Sportangebote speziell für Frauen. Denn, so versichert die UNMS-Vorsitzende Fatma Mehdi: »Auch in islamisch geprägten Gesellschaften muss der Sport nicht nur eine Sache der Männer, sondern ebenso auch der Frauen sein!« Das selbstbewusste Auftreten dieser Frauen verdeutlicht die bedeutende Rolle, die sie im sahrauischen Freiheitskampf spielen. Während die Männer in der Befreiungsarmee kämpften, organisierten die Frauen das Leben in den Lagern: das Schulwesen, das Gesundheitswesen, die Verwaltung.

Frauenpower in den Flüchtlingslagern

Dabei ist es bis heute geblieben. In ihrer politischen Arbeit reflektieren die Frauen auch die Erfahrungen anderer antikolonialer Befreiungsbewegungen: »Oft war es so, dass Frauen in Befreiungskämpfen eine wichtige Rolle spielten, nach der Unabhängigkeitserklärung aber wieder in ihre traditionellen Rollen zurückgedrängt wurden. Wir wollen dafür sorgen, dass es bei uns anders wird!«, bekräftigt Fatma Mehdi.

In den Händen der Frauen liegt auch oft die Verteilung der internationalen Hilfslieferungen, von denen das Überleben in den Flüchtlingslagern vollständig abhängig ist. Es gibt hier in der Wüste fast keine Möglichkeit, selbst Nahrungsmittel zu produzieren. Auch Arbeit und Geld gibt es kaum, nur die Hilfslieferungen. Die sind aber seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008 um 60 Prozent eingebrochen, die Situation ist extrem angespannt. So müssen also auch die Flüchtlinge tief in der Sahara die Zeche für die Zockereien der Banker und die anschließenden Bankenrettungen bezahlen.

Dass sich das Leben hier dennoch in vielen Aspekten von anderen Flüchtlingslagern in der Welt abhebt, liegt an der partizipativen und rätedemokratischen Struktur der sahrauischen Lager: Alle Entscheidungen, die das Leben der Menschen betreffen, werden gemeinsam in lokalen Versammlungen gefällt und diskutiert. Auch die sehr fortschrittliche politische Ausrichtung der POLISARIO hinterlässt ihre Spuren: Bildung, Gesundheit, Frauenrechten und demokratischen Institutionen wird große Bedeutung beigemessen.

Tiefe Dankbarkeit gegenüber Kuba

Eine wichtige Rolle spielt seit dem Beginn des Befreiungskampfes die Unterstützung aus Kuba: früher durch Waffen und Ausbilder, bis heute durch Ärzte und Stipendien für sahrauische Studierende an den kubanischen Universitäten. Dankbarkeit gegenüber der Karibikinsel ist überall zu spüren.

Während der Konflikt in der Westsahara in Deutschland kaum Beachtung findet, gibt es in südeuropäischen Ländern, vor allem im ehemaligen »Mutterland« Spanien – und dort ganz besonders im Baskenland – eine lebendige Solidaritätsbewegung. Immer wieder treffen wir auf baskische Aktivisten, die Lebensmittel- und Medikamententransporte organisieren und in Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen helfen.

Höhepunkt unseres Besuches ist ein Empfang durch den Präsidenten der DARS und Generalsekretär der Frente POLISARIO, Mohamed Abdelaziz. Er bezeichnet die Europäische Linke nicht nur als »unsere Brüder und Schwestern«, sondern auch als wichtige Alliierte. »Ihr habt uns durch viele schwere Jahre solidarisch begleitet. Dafür sind wir euch sehr dankbar! Unser größter Feind ist die Desinformation über den Konflikt. Der Besuch dieser Delegation der EL ist ein wichtiger Teil des Kampfes gegen die Ignoranz und gegen das Schweigen! « Er ruft uns auf, Druck auf die europäischen Regierungen zu organisieren, damit sie aufhören, im Bündnis mit Marokko die natürlichen Ressourcen der Westsahara – Bodenschätze und die Fischbestände vor der Küste – auszubeuten. Europa müsse Marokko zwingen, die Menschenrechte in den besetzten Gebieten zu akzeptieren und das Referendum endlich durchzuführen. Von der Europäischen Kommission ist dabei keine Schützenhilfe zu erwarten: Sie verhandelt gerade hinter dem Rücken der Sahrauis mit Marokko über ein neues Fischereiabkommen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 30. Januar 2013


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