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Kampf um die Einheit

34 Jahre währt die Besetzung Nordzyperns durch die Türkei. Bewohner in beiden Teilen sind für die Wiedervereinigung. Doch die wird durch ausländische Interessen verhindert

Von Karin Leukefeld *

Am frühen Morgen liegt die Ledrastraße im Herzen Nikosias noch verlassen da. Tauben streiten sich um Brotkrumen, alte Männer sitzen, auf ihre Stöcke gestützt, im Schatten großer Platanen auf einer Holzbank. Der morgendliche Verkehr ist so spärlich, daß man sogar Vogelgezwitscher aus den oberen Zweigen der Platanen hört. Die Altstadt von Nikosia ist umgeben von einer alten venezianischen Stadtmauer, die gleichermaßen trutzig wie elegant seit ihrer Errichtung im 16. Jahrhundert Kriege und Kämpfe überstanden hat. Die Altstadt von Nikosia ist das Herz der Kapitale. Hier lebten Armenier und Juden, Araber, griechische und türkische Zyprioten einst Tür an Tür. »Die Ledrastraße war früher unsere Hauptstraße in Nikosia«, erzählt die griechische Zypriotin Eleni Zeniou, während sie in ihrem Kiosk Ordnung schafft. »Nikosia hieß früher sogar einmal Ledra, das ist aber schon lange her«.

Der Überlieferung nach entstand Ledra zwischen dem 9. und 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, vermutlich als Stadtstaat der Phönizier. Auch wenn Ledra nicht die Bedeutung der früheren Hafenstädte Salamis, Paphos oder Limassol hatte, entwickelte sich hier doch auch politisches Leben. Nach den Phöniziern kamen die Assyrer, die Ägypter, die Perser nach Zypern, die die Insel als willkommenen Stützpunkt bei ihren jeweiligen Eroberungszügen schätzten. Mit Alexander dem Großen folgten die Makedonier und schließlich die Römer. Während die Hafenstädte der Insel bekannt wurden, blieb das kleine Dorf Ledra lange Zeit ohne Bedeutung. Die Anhänger des Apostels Barnabas sollen dann im Jahre 50 nach unserer Zeitrechnung im Dorf Ledra Zuflucht gefunden haben, wie in seinen Briefen zu lesen ist. Im 4. Jahrhundert wird die Stadt immerhin schon als Bischofssitz des heiligen Trifyllios genannt. Ledra selbst ist der Name einer zypriotischen Göttin. Aus ihrem ursprünglichen Namen »Weiße Göttin« (Lefki Thea) wurde schließlich der Name Lefkosia, wie Nikosia bis heute auch genannt wird.

Folgen des Krieges

Für die Zeitschriftenhändlerin Eleni Zeniou war die Ledrastraße das Schmuckstück der Stadt. Ihre Mutter habe ihr und den Geschwistern nicht oft erlaubt, zur Ledrastraße zu gehen, nur zu besonderen Gelegenheiten. An Fest- oder Feiertagen kam man hierher und spazierte vorbei an den kleinen Restaurants, wo den Männern der starke Kaffee mit zuckersüß eingelegten Kastanien, Datteln oder anderen Früchten serviert wurde. »Früher war das hier ganz anders. Nikosia war klein, die Leute kamen hierher, um sich zu vergnügen«, erinnert sie sich. Es war nicht wie heute, mit diesem Nescafé frappé und Caféketten, die in aller Welt das gleiche verkaufen.« Zeniou packt ihre Zeitungen aus, die Zeitschriften und Postkarten, ordnet die Süßigkeiten und Getränke an dem kleinen Kiosk. »Den Laden hier gibt es seit 40 Jahren«, sagt sie. Sie selbst arbeite hier seit 16 Jahren, jeden Tag, von acht Uhr morgens bis zum Abend. Der Krieg 1974 habe alles radikal verändert, erinnert Eleni Zeniou sich: »Die Häuser, die Geschäfte waren zerstört, auch in uns wurde etwas zerstört, wir mußten fliehen, hatten nichts zu essen. Aber wir haben neu angefangen, wir geben nicht auf.« Für sie gebe es nur einen Unterschied, fügt sie fast flüsternd hinzu, als wolle sie nicht daran erinnert werden: »Ich kann nicht vergessen, ich kann den Krieg nicht vergessen. Darum gehe ich auch nicht da hinüber.«

»Da hinüber«, das ist nur wenige hundert Meter weiter in Richtung Norden, wo seit April 2008 die alten, rostigen Tonnen und einst eilig aufgebauten Steinwände abgeräumt und ein Grenzübergang in den zypriotischen Norden Nikosias geöffnet wurde. Auf der griechischen Seite erinnert eine kleine Gedenkstätte an die Verschwundenen von 1974, als türkische Truppen Nordzypern besetzten und die Insel ebenso wie Nikosia von Ost nach West abriegelten.

Heute sitzen am Ende eines etwa 100 Meter langen Korridors Zollbeamte der »Türkischen Republik Nordzypern« und stempeln jedem Besucher ein Visum in den Paß oder Ausweis. Eleni Zeniou hat den Checkpoint nie passiert. »Das ist mein Land und da soll ich denen meinen Ausweis zeigen«, sagt sie empört. »Ich habe einen britischen Paß, weil ich viele Jahre in England gelebt habe. Egal, wohin ich gehe, ich kann einfach einreisen. Sogar in die Vereinigten Staaten haben sie mich einreisen lassen. Und dann soll ich hier, in meinem eigenen Land, meinen Paß zeigen? Niemals!«

Eleni Zeniou ist nicht allein mit ihrer Meinung. Was von den politischen Führern des griechischen und türkischen Zyperns als »Wendepunkt« gepriesen wurde, die Öffnung der Ledrastraße im Herzen der Stadt, ist für viele griechische Zyprioten ein Hohn. Zumindest für die älteren von ihnen, die wie Phivos Aloupas seit Generationen auf der Ledrastraße Handel treiben. Aloupas übernahm 1955 das Juweliergeschäft seines Vaters, das dieser 1932 eröffnet hatte. Sein Vater habe noch Uhren repariert, erzählt Aloupas, doch das lohne sich schon lange nicht mehr. Er nutze den neu geöffneten Grenzübergang nicht, sagt er, obwohl auf der anderen Seite noch Freunde aus alter Zeit leben. Weder er noch seine Familie seien bereit, ihren Paß vorzuzeigen, wenn sie innerhalb ihr eigenen Landes unterwegs seien. Für die junge Generation dagegen sei der Norden ein anderes Land. »Sie denken anders«, sagt er. Obwohl ihre Eltern vielleicht aus Kyrenia oder Famagusta im Norden kämen, seien sie im Süden des Landes geboren, sie wüßten nichts über die Heimat ihrer Eltern. »Sie kennen niemanden dort, und die Menschen dort sind ihnen fremd, sie sprechen unterschiedliche Sprachen und haben einen unterschiedlichen Glauben. Wir Alten, die griechischen und türkischen Zyprioten, wir könnten gut zusammen leben.« Trotzdem seien ihm die Türken im Norden des Landes egal, sagt Aloupas. »Das hier ist nicht ihr Land. Sie sind einfach gekommen, leben in unseren Häusern, bauen auf unserem Land und verkaufen es auch noch an Ausländer. Das ist nicht ihr Land!«

Für die türkischen Zyprioten bieten die neuen Grenzübergänge an der Ledrastraße und am früheren Luxushotel Ledra Palast, wo heute die Blauhelmtruppe der UN für Zypern Wache hält, eine willkommene Gelegenheit, Arbeit zu finden. Zehntausende von ihnen passieren täglich die Grenzposten, um im Süden in der Gastronomie oder auf dem Bau zu arbeiten, wo die Tageslöhne um ein Vielfaches über dem liegen, was ein Arbeiter in Nordzypern verdient. Blaue Transparente mit farbigen Figuren verdecken die Fassaden, die seit 34 Jahren diesseits und jenseits der Trennungslinie verlassen sind und langsam in sich zusammenfallen. Die Transparente werben für einen Wiederaufbauplan, mit dem die Altstadt von Nikosia, finanziert von der Europäischen Union, dem Hilfsfonds des US-Außenministeriums, USAID, und anderen Institutionen, rekonstruiert werden soll. Hinter dem nördlichen Grenzposten mit seinem kleinen Informationsbüro und der Geldwechselstube, ändert die Ledrastraße nicht nur ihr Aussehen, sondern auch ihren Namen. Sie heißt nun Siret-Bahcesi-Straße und teilt sich nach wenigen Metern in ein wahres Labyrinth von Gassen und Sträßchen, wo in kleinen Geschäften immer Gleiches angeboten wird: T-Shirts, Sonnenbrillen und -hüte, Andenken aus dem nordzypriotischen Teil der Mittelmeerinsel. Man spricht türkisch, bezahlt wird mit türkischer Lira, die Zeitungen in den Kiosken sind in türkischer Sprache bis auf eine – kostenlose – Zeitung, die von der UN herausgegeben wird und in Englisch, Griechisch und Türkisch zu lesen ist. Die früheren Straßen- und Ortsnamen des nördlichen Zyperns und Nikosias wurden ausnahmslos umbenannt, die dort lebenden griechischen und türkischen Zyprioten aus der Innenstadt verdrängt. Während die griechischen Zyprioten in den Süden des Landes flüchteten, wurden die türkischen Zyprioten in andere Orte im Norden umgesiedelt, wo sie häufig von griechischen Zyprioten verlassene Häuser bezogen. Nach und nach wurden Türken oder Kurden vom Festland in Nordzypern angesiedelt.

Aversion gegen Siedler

In einer abseits gelegenen Straße im besetzten Nordteil Nikosias liegt das »Café Demokrati«. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind ein paar Tische und Stühle aufgebaut, Männer sitzen, lesen Zeitung und vertreiben sich die Zeit. Die meisten Geschäfte der Altstadt würden heute von Türken geführt, erzählt der 86jährige Uhrmacher Mustapha Mehmed. Sein Laden liegt neben dem kleinen Café und nur wenige hundert Meter entfernt vom Juweliergeschäft von Phivos Aloupas im südlichen Teil der Stadt. Doch Mustapha Mehmed lebt in einer anderen Welt. Er wohne seit langem außerhalb von Nikosia, erzählt er, im »Göcmen Köy«, ein türkischer Name, der soviel heißt wie »Dorf der Flüchtlinge«. Seinen schlichten Laden durfte er behalten, viel zu tun habe er allerdings nicht. Das Geschäft liegt in unmittelbarer Nähe des »Büyük Khan«, einer alten Karawanserei aus der Zeit der ottomanischen Besatzung. Das »Büyük Khan« wurde kürzlich erst renoviert und ist heute eine Touristenattraktion mit Cafés und Restaurants im Parterre, mit Ateliers und Kunsthandwerk im oberen Teil des Gemäuers. »Die Geschäfte in der Nähe des Grenzübergangs, alle Cafés und Restaurants werden von Türken geführt«, erzählt der Uhrenmacher. »Sie erhalten Kredite vom türkischen Staat.« Sie selbst, die türkischen Zyprioten, seien eine Minderheit in ihrem eigenen Land geworden. Von den etwa 500000 Einwohnern Nordzyperns seien heute nur etwa 20 Prozent türkische Zyprioten. Der Uhrmacher ist auch deswegen froh darüber, daß die Führer vom Süden und Norden miteinander reden, doch fragt er sich auch skeptisch: »Was wird es uns bringen?« Darauf weiß auch sein Freund, Mehmed Kadiri keine Antwort. Kadiri ist mit seinen 61 Jahren Pensionär. Jeden Morgen kommt er in das kleine »Café Demokrati«, um seine Zeitung zu lesen. »Wenn es nach uns ginge, wäre morgen Frieden! Aber das Ausland läßt uns nicht zur Ruhe kommen, alle haben ihre eigenen Interessen in Zypern.« Auf die Frage, welches Ausland er denn meine, kommt die Antwort prompt: »Türkei, Griechenland, Großbritannien und USA.« Es seien immer »die Leute da oben, die uns nicht in Frieden leben lassen«, ereifert sich Kadiri und schwenkt seine Zeitung, die den bizarren Namen Afrika trägt. Die Zeitung sei von der Opposition, erklärt der Pensionär, sie berichte sehr gut und sehr kritisch über die Einmischung des Auslands in ihrer Heimat Zypern. »Früher hieß die Zeitung Europa, doch einige Artikel darin gefielen der hiesigen (türkisch-zypriotischen) Regierung nicht, und so wurde sie verboten«, erzählt Kadiri. Der Herausgeber habe der Zeitung dann einen neuen Namen gegeben. »Die Zeitung tritt für Menschenrechte ein, für die Trennung von Staat und Religion, für eine Versöhnung mit der Republik Zypern und einen Abzug der Türken«, erklärt Kadiri weiter, und der Uhrenmacher Mehmed nickt zustimmend. »Der Herausgeber meinte, wenn er seine Zeitung nicht in Europa veröffentlichen könne, werde er es halt in Afrika tun.« Bisher hat sich das kritische Blatt noch behaupten können.

Auch Ahmet Cavit, ein 58jähriger Kinderarzt, der in der DDR ausgebildet wurde, ist regelmäßiger Leser von Afrika. Sein Engagement für die zypriotische Einheit und als Vorsitzender einer privaten Ärztevereinigung hat ihm im Laufe seines Lebens viele Probleme eingebracht, die sich nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch auswirkten, nachdem in seine Praxis im örtlichen Krankenhaus keine Patienten mehr kamen. Zwar gibt es genug kleine Patienten, die aber werden von ihren türkischen Eltern allerdings zu türkischen Ärzten gebracht. Cavit fehlt heute das Kapital für eine private Praxis – und so konzentriert er sich auf die Politik. Der Dialog zwischen dem zypriotischen Präsidenten Dimitris Christofias und dem Verwalter des besetzten Nordteils, Mehmet Ali Talat, ist für ihn ein kleines Signal der Hoffnung, auch wenn er davon überzeugt ist, daß Talat ohne die Zustimmung aus der türkischen Hauptstadt Ankara nichts wird entscheiden können. Cavit glaubt nicht an den Abzug des türkischen Militärs, was für ihn eine Voraussetzung für eine Wiedervereinigung wäre. Schließlich sei auch die NATO an den türkischen Stützpunkten im Norden interessiert. Auch die ungeklärte Eigentumsfrage ist für Cavit ein Hindernis für den Friedensprozeß: »Grundstücke und Häuser, die den griechischen Zyprioten gehören, werden von den türkischen Zyprioten vereinnahmt.« Die Besatzungsverwaltung im Norden verteile dieses Eigentum. Wenn man also ein Haus oder etwas anderes darauf baut, das den ursprünglichen Wert des Grundstücks steigert, erwirbt man damit automatisch das Grundstück als Eigentum. Oder wenn man auf ein Haus ein oder zwei weitere Stockwerke aufbaut, darf man das Haus behalten. »Damit verhindert man natürlich die Rückkehr der griechischen Zyprioten.« Weil aber die türkischen Zyprioten und auch die türkischen Siedler meist arm seien, vergebe der nördliche Staat Grundstücke an ausländische Investoren, aus der Türkei, aus Deutschland, sogar aus Israel: »Große türkische Baufirmen bauen riesige Wohnsiedlungen oder Hotels.« Dabei sei die Hotelindustrie im Norden Zyperns selbst in einer guten Saison höchstens zu 30 Prozent ausgelastet, sagt Cavit: »Das sind reine Geldwaschanlagen für die türkische Mafia.«

Cavit kritisiert, daß in den 34 Jahren Besatzung die türkischen Zyprioten von ihren griechischen Landsleuten nur wenig unterstützt wurden. Es sei eher nach Trennendem gesucht worden als nach Gemeinsamkeiten. Er verweist auf den Versuch der »Neuen Gesellschaft für Zypern«, die kurz nach der Besatzung, im März 1975 gegründet wurde, um die Einheit Zyperns zu wahren und ein Auseinanderfallen des Landes zu verhindern. »Erst sollten wir Zyprioten sein und dann erst Angehörige einer griechischen oder türkischen Gemeinde«, meint Ahmet Cavit. Doch der Versuch einer Vereinigung blieb erfolglos, die Intellektuellen, die sich in der »Neuen Gesellschaft für Zypern« engagierten, wurden verfolgt, isoliert und konnten nie große Massen im Norden oder Süden des Landes organisieren. Doch für Ahmet Cavit bleibt der Ansatz weiter richtig: »Nur wenn wir politische Parteien in beiden Teilen des Landes haben, mit den gleichen politischen Zielen, in denen sich griechische und türkische Zyprioten engagieren, gibt es eine Chance für ein einiges, unabhängiges Zypern als Mitglied der Europäischen Union«, sagt er. Sonst bliebe die Insel, was sie seit langem schon ist: ein Stützpunkt für militärische Eroberungszüge.

* Aus: junge Welt, 12. Juli 2008


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