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Großer Andrang am östlichsten Fenster der EU

Interview mit dem zyprischen Innenminister Neoklis Sylikiotis über die Einwanderungsprobleme der Mittelmeerinsel

Zählt man die legalen und illegalen Einwanderer zusammen, stellen sie heute etwa 20 Prozent der Bevölkerung der Republik Zypern im Süden der Mittelmeerinsel – was die Regierung vor einige Probleme stelle, so Innenminster Neoklis Sylikiotis von der linken AKEL. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) in Nikosia Christiane Sternberg.



ND: Wie viele Ausländer leben in der Republik Zypern?

Sylikiotis: Wir haben ungefähr 70 000 Migranten aus Drittländern, die legal in Zypern arbeiten. Es gibt darüber hinaus etwa 70 000 Europäer, überwiegend Briten, die sich ihre Häuser auf der Insel gebaut haben, aber auch viele Arbeitskräfte aus osteuropäischen EU-Mitgliedsländern, aus Bulgarien, Rumänien und Polen. Hinzu kommt drittens eine große Zahl Illegaler, schätzungsweise 40 000 bis 50 000. Wenn man alle zusammenzählt, macht das mehr als 20 Prozent unserer Bevölkerung aus.

Welche Probleme hat Zypern mit diesen Immigranten?

Das größte Problem für uns ist die demografische Veränderung der Gesellschaft. Für die Republik Zypern mit ihren rund 800 000 Einwohnern sind schon 20 000 Zuwanderer eine große Menge. Natürlich brauchen wir ausländische Arbeitskräfte. Aber andererseits sind nach Zyperns Beitritt zur EU viele Illegale ins Land gekommen. Meistens über die besetzten Gebiete (den türkisch-zyprischen Norden der Insel – d.R.). Das bringt auch finanzielle Belastungen mit sich. In Zypern bekommen Asylbewerber in den ersten sechs Monaten Sozialhilfe, das kostet uns 20 Millionen Euro pro Jahr.

Wie kommt es, dass Zypern in der EU die zweithöchste Asylbewerberquote hat?

Die Zahl der Anträge stieg massenhaft an nach Zyperns Beitritt zur EU. Wir sind das östlichste Fenster zur Europäischen Union. Zum Vergleich: 2002 gab es nur 713 Anträge. Dann schnellte die Zahl nach oben. Vor drei Jahren hatten wir über 10 000 Asylanträge. Die meisten Antragsteller kommen heute aus Syrien, Pakistan, Iran und aus afrikanischen Ländern.

Das Problem ist, dass die Bearbeitung bisher sehr lange dauerte. Das nutzten viele aus. Sie haben bis zu 5000 Dollar bezahlt, um sich über die besetzen Gebiete, über die Greenline, in die Republik Zypern schmuggeln zu lassen. Hier beantragten sie Asyl, nahmen die finanzielle Unterstützung in Anspruch und arbeiteten drei bis vier Jahre illegal, bis ihr Antrag entschieden wurde. Inzwischen ist der Prozess der Bearbeitung wesentlich beschleunigt worden. Wir haben zur Zeit 303 anerkannte politische Flüchtlinge und 819 unter subsidiärem Schutz. Bis Ende des Jahres wird deren Zahl steigen, wenn mehr Asylverfahren abgeschlossen sind. Im Jahr 2008 lagen rund 4500 Asylanträge vor.

Welche Hilfe erwartet Zypern von der EU?

Wir brauchen in der Europäischen Union ein besseres Management für dieses Problem im Interesse der Länder, die so unter Druck stehen wie wir. Es geht ja nicht nur um finanzielle Unterstützung, sondern darum, die Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union besser zu verteilen. Unser Vorschlag ist, dass die europäischen Länder auch freiwillig Flüchtlinge von uns oder von Malta aufnehmen könnten. Wenn Deutschland, Schweden oder die Niederlande 500 oder 1000 Flüchtlinge aus Zypern übernehmen würden, wäre das eine große Hilfe für uns – für die anderen Länder ist es dagegen keine große Last.

Welche Rolle spielt die Greenline, die Trennungslinie zwischen der Republik Zypern und dem von der Türkei besetzten Norden der Insel, bei der Flüchtlingsfrage?

Die Greenline gilt nicht als EU-Außengrenze. Wir bekommen also aus dem entsprechenden Fonds keinen Euro für die strengere Kontrolle dieser sensiblen Zone. Einerseits ist diese Handhabung gut, schließlich soll ja auch für Zypern die europäische Freizügigkeit gelten, und wir brauchen engen Kontakt zu den türkischen Zyprern.

Auf der anderen Seite haben wir wegen der Durchlässigkeit der Greenline das Problem mit der illegalen Einwanderung. Die Türkei ist ein Transitland – von dort kommen Flüchtlinge über das besetzte Gebiet illegal in die Republik Zypern. Deswegen muss die Türkei in Fragen der Rückführung mit der Europäischen Union zusammenarbeiten. Die Außengrenze Zyperns und der Europäischen Union verläuft in den türkisch besetzten Gebieten, an der nördlichen und der östlichen Küste Zyperns. Sogar Frontex kann in dieser Region nicht operieren. Wir müssen von der Europäischen Union politisch unterstützt werden, damit wir dieses illegale schwarze Loch schließen können.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Juni 2009


Rastlos in der neuen Heimat Zypern

Palästinensische Flüchtlinge engagieren sich auf der Mittelmeerinsel für Menschen in Gaza

Von Karin Leukefeld, Nikosia **


»Wenn ich hier am Meer stehe und auf die Wellen blicke denke ich, dass dieses Meer bis an den Strand von Gaza reicht«, sagt Lamia S. und ihre Augen strahlen durch ihre schlichte Brille. »Darum fühle ich mich auf Zypern wie zu Hause«, erzählt die Palästinenserin weiter. Die Menschen hätten sie freundlich aufgenommen, als sie 1991 nach der irakischen Invasion aus Kuwait fliehen mussten und mit anderen palästinensischen Familien auf der Mittelmeerinsel ankamen.

Lamia S. stammt aus einer angesehenen palästinensischen Familie aus Gaza, die heute in alle Winde verstreut ist. Ihre Eltern entkamen den israelischen Truppen nach Israels Staatsgründung 1948 nach Kuwait, wo Lamia geboren wurde, heiratete und drei Kinder zur Welt brachte. Lamia hatte Glück im Unglück der Vertreibung. Anders als die meisten palästinensischen Flüchtlinge war die Familie wohlhabend, Lamia studierte Journalismus und politische Wissenschaften, und auch ihre Kinder sind heute als junge Erwachsene in ihren Berufen erfolgreich.

Reichtum schützt nicht vor Vertreibung, wenn man palästinensischer Herkunft ist, sagt George E., der in Kuwait in der Ölindustrie einen gut dotierten Job hatte. Er ist palästinensischer Christ, seine Familie ist eng mit der von Lamia befreundet. Auch George E. und seine Familie mussten Kuwait damals verlassen. »Wir alle mussten hier auf Zypern neu anfangen«, sagt er und stockt einen Moment, bevor er weiter spricht: »Das war nicht einfach, wir mussten zum zweiten Mal wieder ganz von vorne anfangen.« Den kuwaitischen Pass haben sie behalten können, doch die Kinder beider Familien haben inzwischen die zyprische oder eine andere Staatsangehörigkeit, was ihnen das Leben erleichtern wird.

Das Handy blinkt und brummt, Lamia nimmt ihre Brille ab, um zu prüfen, wer ihrer vielen Bekannten und Freunde ihr eine SMS geschickt haben könnte. Kurz darauf klingelt das Telefon wieder, eine Bekannte aus Gaza ruft an. »Ihre Tochter wird blind«, gibt Lamia das Telefonat kurz darauf wieder und klingt besorgt. »Es geht offenbar furchtbar schnell, und sie hat eine Ausreisegenehmigung nach Ägypten, doch gibt es dort gute Augenärzte?« Lamia, Elias und andere Freunde beraten, ob es nicht besser wäre, die gerade wieder gewählten zyprischen Abgeordneten im Europaparlament zu aktivieren, doch Eile tut Not, und die Abgeordneten sind auf dem Weg in die Ferien. Niemand weiß, warum das Kind plötzlich erblindet, sagt Lamia, die Ärzte in Gaza sind ratlos: »Manche vermuten, dass es mit dem Einsatz der Phosphormunition zu tun haben könnte, der die Familie während des Gazakrieges ausgesetzt war.«

Seit Lamia auf Zypern lebt, ist sie zum Mittelpunkt einer aktiven internationalen Gemeinde von Leuten geworden, die versuchen, den bedrängten Palästinensern in den besetzten Gebieten und im Gazastreifen zu helfen. Sie vermittelt Kontakte, beantwortet Fragen, hilft wo sie nur kann und verfolgt immer und oft ungeduldig das Geschehen in ihrer Heimat. Auch beruflich sorgt sie dafür, dass Geschichte und Gegenwart ihrer Landsleute nicht vergessen werden. In ihrem Verlag, den sie in ihrer neuen zyprischen Heimat eröffnete, verlegt sie Kinderbücher sowie historische und Gegenwartstexte über Palästina, Libanon und Syrien. Mit prächtigen Bildbänden dokumentiert sie die Geschichte der palästinensischen Stickereien ebenso wie das Leben palästinensischer Kinder in den libanesischen Flüchtlingslagern, von diesen selber im Rahmen eines Projekts festgehalten.

Rastlos und mit enormer Energie ist Lamia bei der Sache, auch ihre beiden Töchter treten inzwischen in ihre Fußstapfen: die eine als Fotografin, die andere im Familienverlag. Der Familienreichtum hat Lamia und ihre Kinder vor einem schlimmeren Schicksal bewahrt, wie es die vielen palästinensischen Flüchtlinge ertragen müssen, die in Armut, oft in Lagern und ohne international anerkannte Papiere ihr Dasein fristen.

Die anhaltenden Kriege und Unsicherheiten in der Region, der Stillstand im israelisch-arabischen Friedensprozess vertreiben immer mehr Palästinenser aus ihrer Heimat. Doch nicht nur Palästinenser fliehen, der Bürgerkrieg in Libanon (1975-1990) brachte rund 60 000 libanesische Kriegsflüchtlinge nach Zypern, Kurden kommen aus der Türkei, in den letzten Jahren waren es Tausende irakische Flüchtlinge, die weder Papiere haben noch über finanzielle Ressourcen verfügen und mit bis zu sechs Personen in einem kleinen Zimmer leben müssen.

Die Zahl der illegalen Flüchtlinge steigt so dramatisch auf Zypern, dass Staatspräsident Demetris Christofias kürzlich zu einem Dringlichkeitstreffen nach Brüssel fuhr. Wie Zypern sind auch Italien, Malta und Griechenland von dem ständigen Flüchtlingsstrom betroffen. Die EU versprach, die Polizeikräfte im Mittelmeer aufzustocken und Abkommen mit den »Flüchtlingsdurchgangsstaaten« Türkei und Libyen abzuschließen, um die illegale Einwanderung aus diesen Ländern zu stoppen. »Wichtiger wäre, die Kriegstreiber zu isolieren«, meint Lamia. »Wir Palästinenser wollen alle in unsere Heimat zurückkehren, doch wir werden den Eindruck nicht los, dass das den Großmächten gar nicht wichtig ist.«

** Aus: Neues Deutschland, 23. Juni 2009


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