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"Geschlossene Sitzung"

Ein Besuch beim Jugoslawien-Tribunal in Den Haag

Von Hannes Hofbauer *

Seit dem Tod des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic im Untersuchungsgefängnis des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) ist das Interesse für das Geschehen in Den Haag spürbar gesunken. Doch das Tribunal arbeitet noch.

Allenfalls die mächtigen Sende- und Empfangsanlagen weisen das ansonsten unauffällige graue Haus am Churchillplein Nummer 1, knapp außerhalb der Innenstadt von Den Haag gelegen, als etwas Besonderes aus. In unmittelbarer Nachbarschaft residiert hinter hohem Stacheldraht der Premierminister Ihrer Majestät in einer von dichtem Baumbestand abgeschotteten weißen Prachtvilla. Das Viertel dahinter beherbergt Botschaftsgebäude aus vieler Herren Länder. Das gemächlich wirkende Straßenbild verkehrsberuhigter Zonen kontrastiert eklatant mit dem, was seit zehn Jahren im Inneren des grauen Hauses mit den hohen Fenstern passiert.

Am Churchillplein Nummer 1 ist der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) untergebracht, oft kurz und unkorrekt »UN-Kriegsverbrechertribunal« genannt. Ihm wollen wir an diesem Mittwoch im Herbst 2008 einen Besuch abstatten.

Morgens um 8.30 Uhr, so erfährt man auf der Homepage des ICTY, soll der Prozess gegen den Führer der Radikalen Partei Serbiens, Vojislav Seselj, fortgeführt werden. Bereits im Februar 2003 hatte sich der damals 49-jährige Vorsitzende der stärksten serbischen Parlamentspartei den Behörden gestellt und war unmittelbar darauf nach Den Haag gebracht worden. Die Anklage lautete auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Folter und Plünderung. Sie wurde mehrmals geändert, erweitert, angepasst -- zuletzt im Januar 2008. Viereinhalb Jahre ließ man den gelernten Juristen im nahegelegenen Gefängnis von Scheveningen schmoren, bevor im November 2007 der Prozess gegen ihn eröffnet wurde.

Seither ist es still geworden um den hoch gewachsenen Mann mit den nationalen Ideen. Genau die Herstellung dieser Stille, so hat es den Anschein, ist im Falle Seseljs der Zweck des Verfahrens. Hier wird ein politisch potenziell Mächtiger, für die NATO, die EU und die neuen serbischen Eliten Gefährlicher, einfach weggesperrt. Über fünfeinhalb Jahre lang war das Tribunal nicht in der Lage oder nicht willens, diese Maßnahme juristisch zu untermauern, schlagkräftige Beweise für die ihm vorgeworfenen Verbrechen zu finden.

Bleiben Seseljs nationalistische Hasstiraden und seine kriegshetzerische Rhetorik, die keiner Beweisführung bedurften, waren sie doch von Anfang an für die Öffentlichkeit bestimmt. Doch einen politischen Prozess zu führen, dagegen verwehren sich die Betreiber. Also wird der Führer einer missliebigen Kraft zwischen Scheveninger Gefängnis und Gerichtssaal am Churchillplein hin und her transportiert und dabei zum Schweigen gebracht.

Zuletzt erscheint der Angeklagte

Wir betreten das Gebäude, wie könnte es anders sein, durch eine Sicherheitssperre. Die Registrierung unserer Anwesenheit erfolgt im ersten Vorraum. Name, Presseausweis, Funktion. Der Mann hinter dem Schalter hat offensichtlich schon lange niemanden mehr neu in die Besucherkartei aufnehmen müssen. Umständlich sucht er nach dem erforderlichen Formular und beginnt es selbst in einem Tempo auszufüllen, das die Frage aufwirft, ob wir die erste Sitzung des Prozesstages überhaupt erreichen werden. Als Dank für unsere Geduld erhalten wir einen weißen Papierstreifen mit dem Vermerk »Media Day Pass«.

Nach zwanzig Stufen am Ende desselben Raumes erwartet uns der nächste Checkpoint. Als ob niemand gemerkt hätte, dass wir drei Besucher bereits eine gute Viertelstunde wartend anwesend waren und davor die erste Schleuse absolviert hatten, geht es zur Kontrolle. Mobiltelefone und Fotoapparate sind uns bereits am Eingang abgenommen worden, dementsprechend gibt es keine weiteren Beanstandungen.

Ein eigens für uns abgestellter Wächter begleitet uns in den ersten Stock, wo im »Gerichtssaal 1« das Verfahren gegen Seselj erwartet wird. Der Zuschauerraum ist vom Ort des juristischen Geschehens mittels Panzerglas abgetrennt. Kalt schlägt einem die Luft darin entgegen, die für diese Jahreszeit völlig unpassende Klimaanlage lässt uns in Sakkos und Jacken schlüpfen.

Niemand sonst befindet sich im Raum, als sich vor dem Panzerglas langsam eine Tür des Gerichtssaals öffnet und drei Richter eintreten. Die Riege der Ankläger hätte ich fast übersehen, saßen sie doch bereits hinter einer Metallwand, die später als Sichtschutz für einen geschützten Zeugen in Funktion treten wird. Hinter uns zischelt der uns beaufsichtigende Wachmann, wir hätten aufzustehen, wenn das hohe Gericht den Saal betritt.

Seselj ist nirgendwo zu sehen. Mein Begleiter Germinal Civikov, ein geübter Beobachter des Tribunals, erklärt das Prozedere. Seselj werde immer als letzter hereingeführt, weil sich das Gericht nicht an den Anblick eines demonstrativ sitzen bleibenden Angeklagten gewöhnen konnte. Seselj brachte damit schlicht seine Missachtung des Gerichts zum Ausdruck. Nun kommt er eben, wie ein Popstar, als letzter auf die Bühne. Das ist den Herren und Damen in den schwarzen Richterroben lieber als das Ausbleiben der Ehrenbezeugung, das sie als Demütigung empfinden.

Ein kleinwüchsiger Wachbeamter begleitet den Serben auf seinen Platz. In großen Schritten steuert dieser auf einen der für die Angeklagten reservierten Plätze zu, die ansonsten leer bleiben. Ganz allein sitzt der sich selbst verteidigende Seselj der Anklagebehörde und dem Richterpodium gegenüber. Als erste Handlung stellt er ein leeres Glas auf den Tisch, woraufhin sein ihn bewachender Schatten, ohne weiter gefragt zu werden, Wasser einschenkt. Die Szene wirkt wie Routine.

Nichts zu hören, nichts zu sehen

Ebenso eingeübt drückt der Vorsitzende Richter Jean Claude Antonetti auf seine Mikrofontaste, erklärt die Sitzung für eröffnet und stellt im nächsten Atemzug fest, man sei übereingekommen, die Öffentlichkeit von der Verhandlung auszuschließen. Im selben Moment werden die Mikrofone abgeschaltet. Wir Besucher werden von der Schalldichte des Panzerglases überzeugt. Seseljs mutmaßlichen Einspruch gegen die »closed session« könnten nur des Serbischen kundige Lippenleser verstehen.

Zwei Minuten später huscht eine weibliche Hilfskraft des Gerichts in Richtung Panzerglas und lässt per elektronischem Befehl metallene Jalousien herunter. Der Ton abgedreht, der Raum blickdicht gemacht, finden wir uns in einer skurrilen Lage als Beobachter. Es gibt nichts mehr zu sehen und nichts mehr zu hören. Auf dem Bildschirm an der Wand, der das Geschehen im Gerichtssaal überträgt, erscheint das Stehbild »closed session«. Übrigens: Auch am Tag darauf überträgt die Hompage des Tribunals aus dem Gerichtssaal 1 dasselbe Bild.

Fünf Zuschauerstühle vorm Panzerglas

Wir wollen in den Gerichtssaal Nummer 2, wo laut Plan die Verhandlung gegen Milan Lukic und Sredoje Lukic, zwei mutmaßliche Kommandanten der »Weißen Adler«, einer bosnisch-serbischen paramilitärischen Truppe, abläuft. Unser Wächter, Pistole im Halfter, erklärt, das sei nicht möglich, auch dort hätten die Richter »closed session« verfügt. Wir bestehen darauf, uns davon überzeugen zu wollen. Letztlich war es nur Mangel an Arbeitslust auf Seiten der Wachmannschaft, der uns vom Gerichtssaal 2 fernzuhalten suchte. Denn wiederum benötigten wir eine Begleitung. Allein, um diese anzufordern, vergingen gut zehn Minuten.

Erneut war es ein farbiger Wächter, Marke Glatzkopf, der uns diesmal treppauf treppab in den kleinsten der drei Verhandlungssäle führte. Bisher waren wir ausschließlich schwarzem Wachpersonal begegnet. Aus Gründen der politischen Korrektheit dürfte dies in einem Bericht wie diesem nicht erwähnt werden, angesichts der politischen Unkorrektheit des ganzen Tribunals dürfte die Erwähnung jedoch ein geringes Vergehen sein.

Am Türschild zum Zuschauerraum des Gerichtssaals Nummer 2 steht zu lesen: »Dieser Raum wurden 1998 mit Mitteln des Vereinigten Königreichs und Nordirlands erbaut.« Wir betreten eine Art Abstellkammer, in der fünf Stühle vor dem gewohnten Panzerglas stehen. Dahinter ein mit Menschen voll besetzter Verhandlungsraum, der sich vom Guckkasten aus für uns wie ein Theater erschließt. Gerade ist eine Sachverständige der Demografie in gutem Englisch dabei zu erklären, wie sich Anfang der 90er Jahre die ethnische Zusammensetzung in und um Visegrad verändert hatte. Von den 6799 Muslimen des Zensus 1991 seien allein im Mai und Juni des folgenden Jahres 2528 verschwunden - 62 Prozent aller Verschwundenen allein für diesen Zeitraum. Die Fragen des Verteidigers wirken unkoordiniert, endlos und wiederholen sich. So stellt man sich jedenfalls kein Kreuzverhör vor.

Über den Kopfhörer kann man die Sprachen Englisch, Französisch und Bosnisch-Kroatisch-Serbisch wählen. Der Vorsitzende Richter, Patrick Robinson, unterbricht mit allerlei Fragen, die sich auf die Kunst der Demografie beziehen. Die Anklage lautet auf »Ermordung von ungefähr 70 bosnisch-muslimischen Frauen, Kindern und älteren Leuten in einem Haus in der Pionirska Straße in Visegrad« sowie eine ebensolche T at im Dorf Bikavac. Wofür man dazu eine Demografin benötigt, erschließt sich einem unbedarften Beobachter nicht.

Die Sitzung geht zu Ende, der Richter verkündet eine Pause. Der wachhabende Begleiter, der die ganze Zeit über mit uns auf einem der fünf Stühle im Zuschauerkämmerchen gesessen hat, organisiert unseren Abgang. Nachmittags steht das Verfahren gegen den »kroatischen Helden« Ante Gotovina auf dem Programm des ICTY.

* Von Hannes Hofbauer erscheint dieser Tage das Buch »Experiment Kosovo: Die Rückkehr des Kolonialimus« im Wiener Promedia Verlag.

Aus: Neues Deutschland, 22.10.2008



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