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Von der Empörung zum Generalstreik

Die Bewegung in Spanien hat an Breite und Tiefe gewonnnen und wird politischer

Von Ralf Streck *

Über alle Widerstände setzen sich die »Indignados« (Empörten) in Spanien hinweg. Mit Massenprotesten am vergangenen Sonntag, als Hunderttausende friedlich im ganzen Land demonstrierten, haben sie eines deutlich gezeigt: Das Auflösen der Protestlager hat nicht zur Zerstreuung der Bewegung geführt. Die Demonstrationen in mehr als 50 Städten bewiesen das Gegenteil. Die Bewegung erreicht immer neue gesellschaftliche Schichten und Altersgruppen und wird dabei politischer.

Als die Demokratiebewegung am 15. Mai geboren wurde, um vor den Regional- und Kommunalwahlen gegen die »Zweiparteiendiktatur« der beiden großen Parteien zu protestieren, waren es vor allem zehntausende junge Menschen, die in dutzenden Städten ihre Ablehnung dagegen manifestierten. Sie begehrten dagegen auf, dass über die neoliberale Politik der Sozialdemokraten (PSOE) und der Volkspartei (PP) die einfache Bevölkerung durch tiefe Einschnitte ins Sozialsystem für die Kosten der Krise zur Kasse gebeten wird, während die Verursacher mit Milliarden gestützt werden.

Gab bei der Entstehung noch die Hauptstadt Madrid den Ton an, hat sich mit der Auflösung der Protestlager das Schwergewicht weiter nach Katalonien verschoben. In Barcelona haben über 100 000 Menschen (die Empörten sprechen von 260 000) mit Abstand die meisten Menschen im Land protestiert. Barcelona hat nach dem Versuch, das Protestcamp brutal zu räumen, auch den Versuch abgewehrt, die Bewegung zu spalten und zu diskreditieren. Sie musste sich sogar vorwerfen lassen, »faschistisch« aufgetreten zu sein, weil es bei der Belagerung des katalanischen Parlaments zu Übergriffen auf Parlamentarier kam. Dabei verdichten sich Hinweise, dass vor allem Polizei-Provokateure hinter den Vorgängen gestanden haben. So hat die katalanische Regionalregierung eingeräumt, dass Zivilpolizisten unter den Empörten waren. Dazu gehörte wohl auch eine Gruppe, die friedliche Demonstranten nach gewaltsamen Aktionen isoliert hatten. Die wurden dann von Uniformierten abgeholt und hinter die Polizeiabsperrungen geleitet, wie ein Video zeigte. Die Demonstration in Barcelona zeigte, dass die Bevölkerung den Empörten die Distanzierung von Gewalttätern glaubt.

Von Barcelona aus haben sich auch Aktionen nach Madrid und in andere Städte ausgebreitet. So verbünden sich Empörte immer stärker mit der Plattform der Hypothekenbetroffenen. Es werden Familien unterstützt, die aus ihren Wohnungen geräumt werden sollen, weil sie die Kredite wegen Arbeitslosigkeit nicht mehr bezahlen können. Das nennen die Aktivisten »Betrug«. Denn die Familie verliert nicht nur die Wohnung, sondern sie schuldet den Banken weiter hohe Summen. Das spanische Recht lässt zu, dass die Banken die Wohnungen nur zum halben Kaufpreis übernehmen.

Doch inzwischen mischt sich die Bewegung immer stärker in von Gewerkschaften beherrschte Bereiche ein. Sie demonstriert gegen die Reform des Tarifrechts, welche die Regierung in dieser Woche durch das Parlament bringen will. So sollen Praktikanten bis zu drei Jahre unentgeltlich in Firmen arbeiten können. Die großen Gewerkschaften Arbeiterkommissionen (CCOO) und die Arbeiterunion (UGT) haben bei vielen alle Glaubwürdigkeit verloren, nachdem sie eine Rentenkürzung abgenickt haben. Die Demonstrationen wandten sich am Sonntag auch gegen den »Pakt für den Euro«, den die EU-Mitgliedsländer zur angeblichen Stützung der Gemeinschaftswährung im März beschlossen haben. Er sieht auch vor, dass die Löhne künftig von der Inflationsentwicklung abgekoppelt werden, womit weitere Reallohnsenkungen einhergehen. All diese Vorgänge haben die Empörten nun dazu gebracht, eigenständig mit kleinen Gewerkschaften einen Generalstreik vorzubereiten, der das Land lahmlegen und den Grundstein zur »Veränderung dieser Gesellschaft« legen soll. Es wird an die Einheit aller Organisationen appelliert, um dem Ansinnen die nötige Kraft zu verleihen und die Einschnitte ins Sozialsystem zu stoppen.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juni 2011


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