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Die Schwächsten bleiben auf der Strecke

In Spanien leiden Millionen unter sozialer Ausgrenzung und Armut

Von Ralf Streck, San Sebastián *

Es ist der eisige Wind der Austeritätspolitik, der jetzt Zehntausende Behinderte und Pflegebedürftige in Madrid auf die Straße trieb: Erstmals protestierten sie mit einer großen Demonstration gegen die Sparpolitik der konservativen Regierung.

Wie der Ausnahmesportler Roger Puigbò waren nach Angaben der Veranstalter 50 000 Menschen aus dem gesamten Land nach Madrid gekommen. »Sie nehmen uns Hilfen weg, die wir in Jahren durchgeboxt haben«, sagte der mehrfache Europameister. In seinem Rollstuhl, in dem er auch an den Paralympics in London teilnahm, erklärt er: »Wir sind hier, um uns zu verteidigen.«

Gekommen waren auch Angehörige und viele Pflegekräfte. Denn sie sind, ob halbprofessionell oder professionell, von der Kürzungspolitik betroffen. Nach bisher schon harten Einschnitten will die Regierung unter Mariano Rajoy in den nächsten zwei Jahren im Pflegebereich erneut 2,7 Milliarden Euro einsparen. Damit nicht genug, halten sich Regionen und Kommunen aufgrund ihrer prekären Finanzsituation nicht an Gesetze. Obwohl die Zentralregierung im Laufe des Jahres Rechnungen, die in den vergangenen Jahren in einer Gesamthöhe von 27 Milliarden Euro angehäuft worden waren, endlich beglichen hat, änderte sich an der Zahlungsmoral wenig. Längst seien neue Rechnungen in Höhe von zehn Milliarden aufgelaufen, sagte Lorenzo Amor, Präsident der Vereinigung der Selbstständigen (ATA). Pflegedienste und Pflegekräfte warten auf ihr Geld und stünden wie viele Familien vor dem Zusammenbruch. Darauf machte der Präsident des spanischen Behindertenverbandes (Cermi), Luis Cayo Pérez, die Politiker aufmerksam.

Er versuchte, Menschen wie Oscar Montero Mut zu machen. Für seine behinderte siebenjährige Tochter Coral hatte er 2010 Unterstützung nach dem Gesetz 39-2006 beantragt. »Die Hilfe wurde uns vor einem Jahr zugesprochen, doch bekommen haben wir nichts.« Zwei Jahre warten viele schon auf das ihnen zustehende Geld, nicht selten sterben Betroffene, noch bevor auch nur ein Euro bezahlt wird. Eigentlich soll über Anträge nach sechs Monaten entschieden sein, doch die Regierung hat im neuen Pflegegesetz die Bearbeitungszeit auf bis zu zwei Jahre erhöht. Eine weitere Sparmaßnahme, denn Nachzahlungen gibt es nicht.

Dass in der Pflege zudem viele Stellen gestrichen werden, hat sich in den neuen Arbeitslosenzahlen niedergeschlagen, die am Dienstag veröffentlicht wurden. Erneut haben im November 75 000 Menschen ihren Job verloren. Nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat waren schon im Oktober mehr als sechs Millionen Menschen ohne Arbeit, von denen gut zwei Millionen keine Ersatzleistungen mehr erhalten. Die Sozialversicherung hat aber 205 000 Beitragszahler verloren. Der Staat zahlt nun für 85 000 Eltern, Kinder oder Geschwister, die sich halbprofessionell der Pflege ihrer Angehörigen widmen, keine Sozialbeiträge mehr. Das trifft auch Julia Domínguez, die ihren autistischen Sohn pflegen muss. Sie wird nun statt 400 nur noch 300 Euro Unterstützung erhalten. »Das reicht gerade noch, um die Schule zu bezahlen«, sagte sie.

Das sind neue Armutsfälle, die von Eurostat noch gar nicht erfasst sind. Gerade hatten die Statistiker errechnet, dass schon 2011 in Spanien 27 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht oder betroffen waren. Selbst nach Zahlung von Sozialleistungen lag das verfügbare Einkommen von 22 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Dabei gibt es in vielen Regionen keine Sozialhilfe. Ein schmales Sozialgeld (400 Euro) erhalten auch nur jene für sechs Monate, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld ausgelaufen ist. Spanien hat mit seiner Quote von 22 Prozent zu Bulgarien und Rumänien aufgeschlossen, sogar Griechenland steht mit 21 Prozent noch etwas besser da.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 06. Dezember 2012


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